Sozialpsychologe Jonas Rees

Die Ambivalenz unserer Erinnerungskultur

29:16 Minuten
Blick auf das Lagergelände des ehemaligen deutschen nationalsozialistischen Konzentrationslages Auschwitz II-Birkenau in Brzezinka bei Oswiecim, Polen, am 3. Januar 2022. Zu sehen sind die Reste der zerstörten Baracken hinter Stacheldrahtumzeunung im Abendlicht.
Laut einer Studie der Körber-Stiftung wissen zehn Prozent der deutschen Bevölkerung nicht, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager war. © Getty Images / NurPhoto / Jakub Porzycki
Moderation: Patrick Garber |
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Die Mehrheit der Deutschen hält unsere Erinnerungskultur mit Blick auf die NS-Zeit für vorbildlich, besagt eine Studie der Universität Bielefeld. Deren Co-Autor Jonas Rees sieht im deutschen Gedenken allerdings "systematische Gedächtnislücken".
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei in Deutschland „an ganz vielen Stellen“ gelungen, in Teilen aber auch gescheitert. Diesen Schluss zieht der Sozialpsychologe Jonas Rees aus den MEMO-Studien zur deutschen Erinnerungskultur, die er und seine Kolleg*innen von der Universität Bielefeld seit 2017 in Zusammenarbeit mit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft durchführen.
Zwar sei die Erinnerung an die Schrecken der NS-Zeit im gesellschaftlichen Diskurs, im Schulunterricht und in der Arbeit von Gedenkstätten sehr präsent, sagt Rees. Aber die auf repräsentativen Befragungen basierenden Studien offenbarten „systematische Gedächtnislücken“ in unserem kollektiven Erinnern.

Unwissen über Auschwitz

So wüssten rund 85 Prozent der Befragten von der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten, doch die restlichen 15 Prozent könnten oder wollten auch auf Nachfrage dazu nichts sagen. Das passe zu einer Studie der Körber-Stiftung, wonach zehn Prozent der deutschen Bevölkerung nicht wüssten, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager war.

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Hinzu kämen verbreitete „entschuldigende Erzählungen“ über die Rolle der deutschen Bevölkerung in der NS-Zeit: Dass die Menschen damals nichts von den Gräueln der Nationalsozialisten gewusst hätten oder nichts dagegen hätten unternehmen können.
Auch die Zahl von Bürgern, die damals Widerstand leisteten oder Verfolgten halfen, wird bei den Befragungen regelmäßig weit überschätzt, die von Mitläufern und Tätern dagegen viel zu niedrig angesetzt.

In den Familien wird geschwiegen

Und das, so Jonas Rees, gelte vor allem beim Blick in die eigene Familiengeschichte zum Verhalten der Eltern, Groß- und Urgroßeltern. Falls in den Familien überhaupt über die NS-Zeit gesprochen werde, schränkt Rees ein. Denn oft herrsche dazu Schweigen: aus Desinteresse, um Belastungen zu vermeiden oder weil es keine Angehörigen mehr gebe, die diese Zeit erlebt haben.
Fehlende oder verzerrte Kenntnisse über die NS-Vergangenheit seien jedoch gefährlich für die Gesellschaft: „Dann gehen nämlich gemeinsame historische Referenzpunkte verloren“ und Erinnerung werde „angreifbar“.
Und auch wenn eine knappe Mehrheit der Befragten die deutsche Erinnerungskultur für vorbildlich halte, wünsche rund die Hälfte einen Schlussstrich unter die Debatte über den Nationalsozialismus.

Erinnern wollen – oder lieber doch nicht?

Jonas Rees sieht daher in der deutschen Gedenkkultur eine tiefe Ambivalenz, ein „Hin- und Hergerissen-Sein zwischen erinnern wollen und eigentlich auch gar nicht mehr erinnern wollen“. Das drücke sich in einer bisweilen ritualisierten und unpersönlichen Erinnerungskultur aus.
Um dem zu begegnen, fordert Rees eine Diskussion über den Raum, den die NS-Vergangenheit etwa im Schulunterricht einnehmen soll. Erinnerung müsse persönlicher werden und relevant für die Menschen – „über dieses ritualisierte Mantra hinaus, zu sagen: Das war alles schlimm und nie wieder!“

Dr. Jonas Rees hat Psychologie und angewandte Sozialpsychologie an den Universitäten Sussex und Bielefeld studiert. An der Universität Bielefeld forscht er am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und koordiniert den Aufbau des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).

(pag)

Das Gespräch wurde ursprünglich am 22. Januar 2022 gesendet.

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