Die Amnesiepille

Von Robert Brammer |
Unsere Erinnerungen lassen sich nicht löschen wie eine Datei auf einem Computer. Denn unser Gehirn ist kein Rechner: ein Herausschneiden einer bestimmten Information gibt es nicht. Was es aber gibt, dass ist ein Darüberlernen. Der Wirkstoff Propranolol, früher ein verbreiteter Blutdrucksenker, könnte dabei helfen.
Spitzer: "Wenn Sie sich an was Bestimmtes erinnern, dann wissen wir heute, dass darüber die Erinnerung labilisiert wird, also die Spur wird sozusagen weich. Und wenn Sie jetzt - mit bestimmten Medikamenten geht das, und andere Medikamente, an denen wird gerade geforscht, da wird das noch besser gehen – diese weiche Spur daran hindern, dass sie wieder fest wird, dann haben sie tatsächlich genau diese Erinnerungsspur gelöscht."

Mieth: " Wir würden möglicherweise dann in eine Seichtigkeit verfallen, die letztlich auch nicht mehr die notwendige Schärfe des Glückserlebens hervorbringen könnten. Das heißt, das Glückserleben als solches würde so abflachen, dass es uns vielleicht auch wiederum gleichgültig wäre."

Förstl: " Das ist die sehr dogmatische Haltung eines Ethikers, der es gut meint und weil er es gut meint, denkt er vor allem an die Missbrauchsmöglichkeiten. Und da ist natürlich seine Position auf jeden Fall zu unterstützen. Man darf all jenen Absichten nicht Tür und Tor öffnen, die davon ausgehen: es ist ja alles nicht so schlimm. Das können wir ja wieder auslöschen. Das darf natürlich nicht passieren. Und das wird aber mit der Verfügbarkeit der Substanzen wahrscheinlich doch geschehen."

Die Amnesiepille - die Pille für das Vergessen war eben noch Stoff für phantastische Science-Fiction-Literatur - doch in vielen wissenschaftlichen Labors wird an der Verwirklichung dieser Phantasie längst gearbeitet.

Neurowissenschafter haben herausgefunden, dass unsere Gedächtnisinhalte mit jedem neuen Erinnern neu abgespeichert werden müssen. Und in der kurzen Zeitspanne, bevor unsere Erinnerungen wieder in den Hirnstrukturen abgelegt werden, kann das Gehirn die aufgerufenen Erinnerungen neu verknüpfen, abschwächen oder verstärken. Oder die Erinnerungen sogar ganz verschwinden lassen.

Nur die schönen Erinnerungen sollen bleiben. Menschliche Biografien lassen sich dann um- und neu schreiben, wenn die Amnesie auf Bestellung zu unserem Alltag gehören wird, und der Mensch dann mehr oder weniger souverän über seine eigene Biografie verfügen kann.

Erinnerungen sind aus einem wundersamen Stoff gemacht - trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn.

Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewusstsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Erinnerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fragiles Bollwerk. An was erinnern wir uns? An wie viel? Nach welchen Prinzipien bewahrt unser Geist die Spuren gewisser Eindrücke, während wir andere in den Abgrund des Unbewussten versinken lassen?

Klaus Mann


Neue Erkenntnisse zeigen, wie wir von außen durch Wirkstoffe in die menschlichen Erinnerungswelten eingreifen können. Es reicht wahrscheinlich aus, bestimmte Gene, Botenstoffe oder Rezeptoren durch chemische Wirkstoffe zu aktivieren oder zu blockieren. Dann könnten Erinnerungen wahrscheinlich schneller gebildet werden, sie könnten besser haften bleiben oder rascher abgerufen werden.

In mühevoller Detektivarbeit haben Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel und andere Forscher die Signalketten dechiffriert, die dazu beitragen, dass zwischen, aber auch in den Nervenzellen Informationen und Ereignisse langfristig aufbewahrt bleiben.
In einem kleinen Laboratorium in einem anonymen Büroviertel neben der Garden State Parkway im nördlichen New Jersey erforschen Wissenschaftler in Tierversuchen die molekularen Grundlagen der Erinnerung.
Der in Wien geborene Neurowissenschaftler Eric Kandel, der 1938 vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierte, hat zusammen mit der New Yorker Columbia University die Firma "Memory Pharmaceuticals" gegründet.

Kandel: " In diesem Labor arbeiten etwa 70 Wissenschaftler um Medikamente gegen die unterschiedlichsten Arten von Erinnerungsverlust zu entwickeln. Unser Hauptaugenmerk gilt hier dem altersbedingten Gedächtnisverlust. Das ist aber etwas anderes als die Alzheimer-Krankheit. Dieser Gedächtnisverlust tritt im Alter bei vielen Menschen auf und vollzieht sich sehr langsam. Wir können das heute im Experiment bei Labormäusen zeigen. Und wir haben jetzt Medikamente, die bei Mäusen diesen Gedächtnisverlust sehr erfolgreich rückgängig machen können. Diese Medikamente befinden sich im Augenblick im klinischen Test. "

Heute sind mindestens 40 Varianten von Gedächtnispillen in der Entwicklung. Etwa ein Dutzend Pharmafirmen investieren dafür jährlich rund 1,5 Milliarden Dollar.

Kandel: " Wir sind nicht die Einzigen, die auf diesem Gebiet forschen. Es gibt viele Firmen, die das auch versuchen. Ich glaube, in drei bis fünf Jahren werden wir diese Medikamente in den Händen halten, und ich glaube, sie werden sehr wirksam sein. Diese Medikamente werden die Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn stärken und vielleicht werden sie sogar ihr Wachstum fördern. Bei den Labormäusen können wir das beobachten. "

Man muss erst anfangen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei es stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben ... Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts.
Luis Bunuel


Kennt man die molekulare Basis unserer Erinnerung, dann wird auch das Löschen von Erinnerungen möglich.Das Gedächtnis lässt sich aber nicht löschen wie eine Datei auf einem Computer, denn unser Gehirn ist kein Rechner: eine bestimmte Information lässt sich nicht einfach herausschneiden. Aber man kann sie überschreiben, genauer gesagt: überlernen.


Die Grundlage für unser Erinnern ist die Vernetzung von 100 Milliarden Nervenzellen. Jede Nervenzelle ist durchschnittlich mit bis zu 100.000 anderen Verbindungsstellen, den Synapsen, in Kontakt. Diese 100.000 Synapsen, mikroskopisch kleine Auswüchse, stehen so mit den anderen Nervenzellen in Verbindung.

Deshalb ist das wahre Maß für die Komplexität unseres Gehirns nicht allein die Zahl der Neuronen, sondern die Zahl möglicher Verbindungen zwischen ihnen.

Das Geheimnis unseres Bewusstseins liegt also in der Vernetzung von rund 100 Milliarden Nervenzellen.
Im Ergebnis existieren 100 Billionen Synapsen, 100 Billionen funktionierende Einheiten. Die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in einem einzigen Gehirn ist also vollkommen unbegreiflich und wahrscheinlich größer als die vermutete Anzahl der Atome im Universum.

Pillen für oder gegen das Vergessen greifen in die chemischen Prozesse der Verbindungen zwischen den Neuronen und Synapsen ein und beeinflussen so unser Gedächtnis.
Ein im Gedächtnis bereits eingebranntes Trauma lässt sich auf diese Weise bewusst aus der Erinnerung holen und neu erleben. Wenn dabei die Gefühlsbegleitung durch ein bestimmtes Medikament unterbunden wird, dann bewertet der Betroffene die Erinnerung neu, und sie wird gemildert wieder abgespeichert. Oder sogar ganz gelöscht.

Kandel: " Nun, das ist eine andere Methode. Das ist eine sehr andere Herangehensweise. Hier geht es darum, dass Menschen von angstbesetzte Erinnerungen nicht überwältigt werden. Damit sind wir nicht befasst - aber viele andere Firmen forschen daran. Und da gibt es inzwischen auch Medikamente, man muss sie allerdings rechtzeitig nach einem traumatischen Erlebnis bekommen. Dieser Wirkstoff heißt Propranolol. Das ist ein Beta-Blocker und der wird von Feuerwehrleuten oder Polizeibeamten in gefährlichen Situationen eingenommen, um die Erinnerungen an solch traumatische Erlebnisse zu mindern."

Schreckliche Erinnerungen bekommen vom Gehirn durch das Stresshormon Adrenalin einen emotionalen Stempel aufgedrückt, ehe sie im Gedächtnis abgelegt werden. Völlig unberührt können sich Menschen dann später kaum noch an ein solches Ereignis erinnern - es sei denn, man unterdrückt den Adrenalin-Ausstoß.

Der Wirkstoff Propranolol, früher ein verbreiteter Blutdrucksenker, könnte dabei helfen. Er schwächt die Wirkung des Stresshormons Adrenalin ab. Dabei wird die Verbindung zwischen Erinnerung und Emotion geschwächt, und ein traumatisches Erlebnis ist weniger dramatisch eingefärbt. Aus Atlanta, Harvard oder Lille hört man inzwischen von viel versprechenden Versuchen bei Menschen mit Höhenangst, bei Unfall- oder Vergewaltigungsopfern.

Der Psychiater Roger Pitman aus Boston hat das Mittel erfolgreich getestet. Pitman erklärt das so: "Dem Erlebtem wird gewissermaßen ein "milderer" Stempel im Gehirn aufgedrückt."

Was sich im Gehirn abspielt, wenn wir uns erinnern, das haben vor allem die Forschungen Eric Kandels aufgedeckt. Kandel fand bei Versuchen an der Meeresschnecke Aplysia heraus, dass sich beim Erinnern nicht die Neuronen selbst verändern, wenn man sie stimuliert, sondern die Verbindungen zwischen ihnen, die Synapsen. Wenn Aplysia also ein neues Verhalten lernte, dann änderte sich die Intensität dieser Verbindungen untereinander.

Wenn die Meeresschnecke lernte, vor bestimmten Reizen keine Angst mehr haben zu müssen, dann koordinierten die Synapsen dieses Wissen. Seither forscht Kandel daran, wie und warum sich die Synapsen bei der Erinnerung verändern:

" Die Arbeit mit der Meeresschnecke Aplysia lieferte den ersten Beweis dafür, dass das Lernen die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen im Gehirn verändert, sie verstärkt oder abschwächt, und dass unsere Erinnerung die Fortdauer dieser Änderung ist. Und dann konnten wir zeigen, dass sowohl in der Schnecke als auch beim Menschen für verschiedene Lernvorgänge ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis existiert. Diese Archivierung geschieht mithilfe von Eiweißstoffen, die die Neuronenverbindungen stärken. Die Experimente mit der Schnecke Aplysia waren also extrem hilfreich, um das molekulare Programm der Speicherung von Erinnerungen zu verstehen. "

Das Gedächtnis als Spiegel, möchte man sagen, würfen die Spiegel nicht das Bild des Selben zurück, wo wir doch im Gegenteil in ihnen die Differenz entdecken wollten; und im Schauspiel dieser Differenz blitzt plötzlich die unauffindbare Identität auf. Keine Genese mehr, sondern die Entschlüsselung dessen, was wir sind, im Lichte dessen, was wir nicht mehr sind.

Piere Nora


Die Forschungen Roger Pitmans und anderer Wissenschaftler zeigen, welche zentrale Rolle Emotionen beim Erinnern spielen. Angst und Erschrecken brennen Ereignisse buchstäblich ins Gedächtnis ein. Mittlerweile existieren auch erste klinischen Studien mit Menschen.
Im Prinzip, so der Münchner Neurowissenschaftler Hans Förstl, Direktor der Klinik für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar, habe man das auch schon mit psychopharmakologischen Behandlungsversuchen ausprobiert.

Förstl: " Das Neue war, dass er den Zusammenhang von Psychotherapie und Psychopharmakologie systematischer untersucht hat als das früher gemacht worden ist. Er hat wirklich logisch gedacht: was muss ich erreichen, um zu entkoppeln: die abstrakte Erinnerung an einen Vorgang von der emotionalen Reaktion darauf. Und das hat er geschafft, dass er diese emotionale vegetative Reaktion gebremst hat durch eine gezielte pharmakologische Intervention durch Propranolol. Das ist ein Betablocker, den es in der Medizin seit vielen Jahrzehnten gibt, der mit Erfolg bei bestimmten Herzerkrankungen eingesetzt wird und da beispielsweise eine zu schnelle Herzaktivität dämpft."

Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.

Honoré de Balzac


Dass die Amnesiepille nur noch eine Frage der Zeit sei, prophezeit auch der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Spitzer hofft deshalb auf eine ernsthafte und tiefschürfende Debatte über die gesellschaftlichen Folgen dieser Pille:

" Wenn Sie sich an was Bestimmtes erinnern, dann wissen wir heute, dass darüber die Erinnerung labilisiert wird, also die Spur wird sozusagen weich. Und wenn Sie jetzt - mit bestimmten Medikamenten geht das, und andere Medikamente, an denen wird gerade geforscht, da wird das noch besser gehen – diese weiche Spur daran hindern, dass sie wieder fest wird, dann haben sie tatsächlich genau diese Erinnerungsspur gelöscht. Das ist heute schon möglich. Es gibt auch die ersten Studien, die zeigen, dass das auch geht. Man muss damit natürlich ganz verantwortungsvoll umgehen. Es wird auch heftig darüber diskutiert. Zum Beispiel von der Ethikkommission des amerikanischen Präsidenten. Da wird darüber geredet, was heißt das für unsere Gesellschaft. Dürfen wir überhaupt Gedächtnisspuren löschen. Was wäre passiert, wenn wird das vor 60 Jahren schon gehabt hätten, dann würden sich heute keiner mehr erinnern. Und wir wissen alle, wie wichtig es ist, dass wir uns erinnern und aus Fehlern lernen. "

Wir biegen mit dem Wagen in die kleine Sackgasse, an deren Ende das Portal des mächtigen Strafgefängnisses Spandau steht. Es ist ein schwerer, düsterer Bau aus roten Ziegelsteinen. Ich lasse mir die Zelle 136 aufschließen, in der ich vor Jahren einige Monate verbrachte. Sie ist leer. Eine eisige, finstere Kälte strömte uns entgegen. Es ist dieselbe Kälte wie damals, es ist dieselbe fade Dämmerung, und es ist dieselbe Zelle, in der ich einst gehofft, gebangt und gelitten habe. An diesem uralten, schmutzigen, abgewetzten kleinen Tisch habe ich Tüten geklebt. An diesen Wänden habe ich mit meinen Nachbarn Morse geklopft. Aus diesem Fenster sah ich jene schöne Birke, die draußen auf dem Gefängnishof langsam ihre Blätter verlor. Ich war überwältigt von der Erinnerung und entdeckte schließlich den Kalender, den ich damals in die Wand geritzt habe. Jeder Strich bedeutete einen langen Tag. Es sind vier Monatskolonnen, und darüber steht, was ich damals hineinritzte: Hier wartete auf das Kriegsgericht…G.W.

Günther Weisenborn


In Deutschland gibt es bis heute noch keine bioethische Debatte über die Erinnerungspillen - auch nicht in der Bundestagsenquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin, in der der Tübinger Ethik Professor Dietmar Mieth Mitglied ist:

" Ich würde meinen, dass vollkommene Leidlosigkeit des Gedächtnisses würde ja auch den Ansporn verringern, der aus dem Gedächtnis kommt und die Erinnerung an das Gedächtnis des Leidens überhaupt ist ja beispielsweise im Christentum eine ganz wesentliche soziale Komponente, die macht die Kreuzestheologie praktisch, weil man auf diese Weise auch das Leiden anderer mit Sympathie, mit Empathie oder wie man auch sagt mit Kompassion zu gehen kann. Also in dem Sinne meine ich, wäre die richtige Lösung, die Leid begleitenden Phänomene des Gedächtnisses zu verringern. Und je mehr das intersubjektiv geschieht, und das wäre ja in der Psychologie der Fall, je mehr wäre das zu bevorzugen. "

Die Erfahrung von Glück, so Dietmar Mieth, hänge von der Erfahrung einer stabilen Identität ab und diese Identität wiederum von unseren Erinnerungen. Was aber geschieht, wenn man mittels einer Pille für das Vergessen seine individuelle Biographie künftig umschreiben kann? Wie werden sich diese ausgelöschten Erinnerungen dann auswirken? Wird man überhaupt noch positive Wahrnehmungen machen können, wenn man keine negativen mehr kennt? Und wie wird man künftig klug werden, wenn die negativen Erfahrungen fehlen?

Mieth: " Ich denke, dass ein ganz wesentliches Element der Erfahrung, die im Gedächtnis transportiert wird, die Kontrasterfahrung ist. Auf der Folie der Kontrasterfahrung: 'so geht es nicht', 'das ist unerträglich', 'wir möchten es gerne gemeinsam anders machen' - also auf der Basis dieser Kontrasterfahrung gibt es dann die Momente - und wir haben ja sozusagen das Glück nicht kostenlos - gibt es die Momente, die ihr Glücksprofil überhaupt zeigen können. Also beispielsweise das Glücksprofil, wenn man gehungert hat und etwas zu Essen bekommt. Oder das Glücksempfinden, wenn man gelernt hat, und dabei etwas erreicht. Oder das Glücksempfinden, wenn man zwar leidvoll liebt, aber dieses Leid dadurch verringert wird, dass man wieder gegengeliebt wird. Alles das braucht die Dialektik des Unglücks. Und es braucht die Dialektik der Möglichkeit des Scheiterns und des Misslingens, damit wahres Glück und Gelingen überhaupt sein kann. "

An der Tür tastete ich vergebens nach dem Schlüssel. So nahm ich ihn vom Schrank, von wo ich ihn dreißig Jahre zuvor immer genommen hatte, und ging hinein, ganz wie früher und betrat mein Zimmer. Es war ein seltsamer Augenblick, denn ich stürzte direkt in meine Jugend hinein; fühlte, wie mich die ganze unbekannte Zukunft bedrückte und mir unheimlich auflauerte; empfand diesen inneren Rausch mit Hoffnungen und Vorschüssen auf Zukünftiges; Siegesgewißheit und Verzagtheit; in Überschätzung der Kraft und Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten.

Ich setzte mich in einen Stuhl, ohne Licht zu machen, denn die Straßenlaterne, dieselbe Straßenlaterne, die mein Elend beleuchtet hatte, warf ein spärliches Licht herein und zeichnete das Fensterrahmenkreuz als Schatten auf die Tapete.

Da saß ich und hatte alles hinter mir, alles! Den Kampf, den Sieg, die Niederlagen!

August Strindberg


"Mit veränderten Erinnerungen mögen wir uns besser fühlen, aber es ist nicht klar, ob wir durch dieses "Besserfühlen" die gleichen Individuen sind wie vorher."

Das meint Leon Kass, der ehemalige Chef der Bioethikkommission des amerikanischen Präsidenten. In einer Dokumentation mit dem Titel: "Jenseits der Therapie” weist er auf dieses noch weitgehend verborgene Potential der Gehirnforschung hin. Die Pillen für oder gegen das Vergessen stellen die moderne Gesellschaft vor Fragen, auf die sie keine wirklichen Antworten weiß, und für die sie auch keine moralischen Maßstäbe kennt.

Die menschliche Erinnerungsfähigkeit zu steigern, das ist auch für Kass mit Blick auf eine immer älter werdende Weltgesellschaft eine pure Notwendigkeit. Denn erst die Erinnerung, so seine These, formt unser authentisches Selbstbild. Jedes Detail, das aus dem Hirn über das eigene Leben freigelegt werden kann, schärfe unseren Identitätssinn und damit auch unsere Fähigkeit zum Glücklichsein.

Für nicht vertretbar hält Leon Kass dagegen die Pille, mit der wir unserer Erinnerungen löschen können.

Zwar ist die Amnesiepille noch nicht marktreif. Doch schon gibt es Bedenken: Was, wenn diese Vergessenspillen missbraucht werden? Die Möglichkeit, gezielt zu vergessen, schreibt Kass, macht Menschen hemmungslos.

"Wenn wir unsere Erinnerungen von unseren Erfahrungen abtrennen, dann kann das alles mögliche auf Spiel setzen: zum Beispiel unsere Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen oder mit Würde das Unvollkommene und die Grenzen unseres Lebens zu erkennen und zu akzeptieren.

Statt Elend, Angst und Leid als angemessene Reflektion über die Fragilität menschlichen Lebens zu akzeptieren, werden wir angehalten, sie als Krankheit zu betrachten, die man behandeln kann.

Man muss Propranolol und anderer Beta-Blocker als schwache Vorläufer, als Vorboten späterer Drogen betrachten, die dann viel effektiver und wirkungsvoller sein werden.

Wenn wir als Individuen und als Gesellschaft scheitern, Verantwortung zu übernehmen, wird das pharmakologische Management unseres mentalen Lebens ernsthaft unserer Fähigkeit schwächen, nach dem Glück zu streben, nach dem unsere Herzen verlangen."

Es sind diese Szenarien, die Kass zu einem rigorosen Nein bringen, mittels so genannter "Vergessenspillen" menschliche Erinnerungen zu löschen oder auch nur zu dämpfen. Er nennt zahllose Missbrauchsmöglichkeiten:

"Nach Katastrophen und Massakern bekommen die Überlebenden Pillen. Rettungskräfte nehmen sie schon auf dem Weg zum Unglücksort ein. Im Krieg bekommen Soldaten chemisch präparierte Nahrungsmittel und Verbrecher stopfen ihren Opfern die Vergessenspillen in den Mund. Gemeinsam sei allen Beispielen, dass die Vergessenspillen unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt verfälschen und uns schreckliche Vorgänge weniger schrecklich vorkommen lassen. Außerdem: Nur gute Erinnerungen zu haben, dass sei nicht gleichbedeutend mit menschlichem Glück - sondern nur ein Surrogat."

Kass postuliert daher eine "Pflicht zum Erinnern", die "unproportional, man könnte sogar sagen unfair, jenen zufällt, die bestimmte Geschehnisse am direktesten erlebt haben. Doch nur wer Schreckliches emotional erlebe, so der amerikanische Ethiker, entwickle in prekären Situationen Mitgefühl für andere. Und selbst Menschen, die das Grauen des Holocaust erlebt hätten, erfüllten für die Gemeinschaft als authentische Zeugen eine wichtige Aufgabe. Kass setzt eher auf die Empathie durch Partner, Freunde und Verwandte. Der Münchner Neurowissenschaftler Hans Förstl ist da skeptischer.

Förstl: " Das ist die sehr dogmatische Haltung eines Ethikers, der es gut meint und weil er es gut meint, denkt er vor allem an die Missbrauchsmöglichkeiten. Und da ist natürlich seine Position auf jeden Fall zu unterstützen. Man darf all jenen Absichten nicht Tür und Tor öffnen, die davon ausgehen: es ist ja alles nicht so schlimm. Das können wir ja wieder auslöschen. Das darf natürlich nicht passieren. Und das wird aber mit der Verfügbarkeit der Substanzen wahrscheinlich doch geschehen. Wo ich Herrn Kass nicht folgen kann: Ich glaube nicht, dass man mit diesem hohen ethischen Anspruch jemanden verpflichten kann, sich in einer bestimmten Art der Wahrnehmung an bestimmte, beispielsweise sehr schlimme Ereignisse erinnern zu müssen. Dazu darf man niemanden verdammen. Also wenn es da eine Chance gibt, Menschen ihr Schicksal zu erleichtern, indem schreckliche Erinnerungen blasser gemacht werden, dann muss man diese Chance auch im Interesse der Betroffenen benutzen. Wir haben kein Recht, jemanden zur Erinnerung zu verdammen, wenn diese Erinnerung schrecklich ist. Im übrigen entspricht das, meine ich, auch unserer Natur: Dass wir Dinge, die ungeheuerlich sind, nicht sehen wollen und uns nicht daran erinnern wollen. Und das macht uns nicht zu schlechten Menschen. "

Das Depot des Gedächtnisses ist auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich.

Auf Anstoß, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade läßt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgeraubte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so dass wir blind sind mit offenen Augen.
Uwe Johnson


Es war auch das Erlebnis der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, das den in Wien geborenen Juden Eric Kandel veranlasste, sich mit der Entstehung von Gedächtnis und Erinnerung zu beschäftigen.

Kandel: " Wissenschaftlich gesehen ist das alles in Ordnung - von einem moralischen Standpunkt aus sollte man darüber aber sehr gewissenhaft nachdenken. Denn einerseits sind leidvolle Erfahrungen ein Teil unseres normalen Lebens und man sollte dieses Leben nicht mit einem Zuckerguss überziehen, so dass Menschen niemals die Erfahrung unliebsamer und enttäuschender Erlebnisse machen. Denn man kann keine menschliche Identität entwickeln, ohne diese Erlebnisse zu haben. Anderseits hat eine Gesellschaft auch eine Verantwortung für einen mentalen Beistand, wenn sie Menschen in einen Krieg schickt - oder nach New Orleans zum Beispiel, um dort Leben zu retten. Das ist schon etwas sehr anderes, als nicht geliebt zu werden oder seine Arbeit zu verlieren."

Sobald die entsprechenden Pillen existieren, so der Ethiker Dietmar Mieth, wird die Frage aufkommen, warum es Menschen nicht erlaubt sein soll, schreckliche Erinnerungen auf chemische Weise zu vergessen, wo doch das Vergessen ein Grundprinzip des Gehirns ist. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich mittels medikamentöser Hilfe jedes unliebsame Gefühl behandeln lässt. Denn wie und warum sollte man einem selbstbestimmten Leben eine derartige Möglichkeit auf Dauer verwehren können?

Mieth: " Das ist eine Frage zwischen Ethik und Recht. Unter ethischen Gesichtspunkten halte ich es gar nicht gut, Amnesiepillen zu entwickeln, sondern ich würde da konventionellere Verfahren benutzen, um eine Leidensverringerung beim Gedächtnis zu erreichen, auch kommunikative Verfahren. Und selbstverständlich werden einige sagen, wenn man das in Deutschland verbietet, dann geht man es sich im Nachbarland kaufen. Wir kennen das ja, dass es im Augenblick in der Globalisierung fast nicht mehr möglich ist, noch nationale Hindernisse aufzubauen für bestimmte Entwicklungen. "

Aus Deinem Schreiben sehe ich, dass es Dir anders geht als mir, da Du sagst, dass alle Dinge Deines früheren Lebens "zwar als Erinnerung vorhanden, aber doch irgendwie abgeschlossen und fern sind". Und ich fühle eine Nähe nur zwischen mir und dem früheren, was mir jetzt geschieht, ist für mich das Unwirkliche, das Ferne.

Gertrud Kolmar


Wenn man mit der Amnesiepille künftig negative Erfahrungen aussortieren kann - wird man dann überhaupt noch positive Erfahrungen machen können?

Und wenn man das Leid ausblendet - wird dann die Suche nach Glück nicht eindimensional und steril und unwahr?

Und droht Glück nicht betrügerisch zu werden, wenn die persönliche Identität nur als noch als ein zusammengestückeltes Erinnerungsfragment existiert?

Förstl: " Ja, so eine Patchwork-Identität ist natürlich eine grauenhafte Vorstellung und es kann tatsächlich geschehen, wenn Missbrauch eintritt und wenn das ganz gezielt von bestimmten Leuten selbst verwendet wird, um sich eine Identität zusammen zu bauen, die ihnen originell erscheint oder auf opportunistische Weise besonders interessant erscheint. Trotzdem: natürlich verändern wir uns auch. Wir sind nicht einer, auf denen wir uns festlegen lassen dürfen. Das darf auch kein anderer tun. Also wir haben diese Wandlungsfähigkeit. Problematisch wird es erst, wenn da kein Rückrat mehr ist und es ein ganz zerrissenes Bild letztlich ergibt – eine zusammengestückelte Persönlichkeit, die anderen es auch nicht mehr erlaubt, jemanden einzuschätzen."