"Die Analyse stärkt den Zauber"
Viele Lyrikleser wollten schnell den tieferen Sinn eines Gedichts deuten, sagt der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Besser sei es, erst mal zu beschreiben, was einem am Text auffällt und wie er klingt. Durch die Analyse verstärke sich dann die zauberhafte Wirkung eines Gedichts.
Joachim Scholl: Heinrich Detering ist Jahrgang 1959 und einer der bekanntesten deutschen Literaturwissenschaftler. Das liegt nicht nur an seiner akademischen, vielfach preisgekrönten Arbeit, den vielen vom Feuilleton gepriesenen Büchern, sondern auch, weil er Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ist, und ebenfalls daran, dass er selbst schon Lyrik veröffentlicht hat.
Wer Heinrich Detering einmal live vor Publikum erlebt hat, weiß, dass er ein feuriger Vermittler von Literatur ist, und deshalb freuen wir uns besonders, dass er sich jetzt Zeit für unseren Lyriksommer und die Frage nimmt: Wie unterrichtet man Lyrik? Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Detering!
Heinrich Detering: Ja, danke schön!
Scholl: Sie lehren als Professor an der Universität Göttingen, und in diesem Sommersemester haben Sie ein Seminar zur neueren deutschen Lyrik abgehalten. Wie ist das denn gelaufen?
Detering: Das ist ganz wunderbar gelaufen, angefangen mit der Teilnehmerzahl. Ich hatte gedacht, das wird vielleicht ein Seminar, in das nur sehr interessierte Leute kommen, Lyrikfans oder so, und das hatte die ganz gewöhnliche Größe unserer Masterseminare, also 25 Leute, und vor allen Dingen aber waren diese 25 Leute außerordentlich interessiert, aufgeschlossen für die Begegnung auch mit ganz unterschiedlichen Texten. Es ging in diesem Seminar um neue Bücher von so unterschiedlichen Lyrikern wie Jan Wagner und Monika Rinck, Nora Bossong und Doris Runge, ganz verschiedene Töne, Traditionen, Schreibweisen, und es wurde eigentlich immer spannender, je länger das Semester dauerte.
Scholl: Wir haben vorhin – übrigens eine schöne Koinzidenz heute – dem großen Lyriker Reiner Kunze zu seinem 80. Geburtstag gratuliert. Und er hat einmal gesagt: Nichts vertreibt junge Menschen beim Literaturunterricht mehr als die Frage, was will der Dichter uns damit sagen. Das kennen die Älteren unter uns wohl auch noch gut aus der Schule, so Gedichtinterpretationen, einen Aufsatz muss man schreiben. Wie hält es denn da so die moderne Pädagogik damit an der Universität? Ist diese Frage auch für den Lehrer Detering tabu?
Detering: Sie ist überhaupt nicht tabu. Sie ist ja eine der vernünftigsten Fragen, die man an Texte stellen kann. Es ist nur schade, wenn man keine andere Frage als diese stellt, und es ist auch zumindest unklug, diese Frage gleich als erste zu stellen. Auch Reiner Kunze wird nichts dagegen haben, wenn man bei seinen Texten fragt, was er sich dabei gedacht habe oder was er uns habe mitteilen wollen.
Aber die erste Frage, die ich meinen Studenten, Studentinnen beizubringen versuche, lautet: Beschreibe, was du siehst oder beschreibe, was du hörst. Denn erfahrungsgemäß haben alle Lyrikleserinnen und -Leser die Neigung, möglichst schnell in den vermuteten oder unterstellten Tiefsinn vordringen zu wollen, deuten zu wollen, und dabei so ganz einfache Dinge zu übersehen, wie zum Beispiel die Frage, ob der Text gereimt ist oder nicht, ob er sich bestimmter regelmäßiger Metren bedient oder nicht – all diese formalen Eigenschaften, von denen aus meistens der sehr viel gangbarere Weg in die Frage führt, was wir denn mit diesem Text am Ende anfangen sollen.
Scholl: Ich meine, Gedichte werden ja in der Wirkung oft verglichen mit Musik, also ein gewissermaßen so blindes Verstehen, man ist ergriffen, emotional bewegt, dabei ist Lyrik wie die Musik ja ein überaus präzises Handwerk. Sie haben es schon genannt, Herr Detering, also Reim, Versmaß, Metrik, Bildlichkeit, wie bringt man aber auch diese Aspekte, also das Formale, Intellektuelle, nenne ich es jetzt mal, zusammen mit dem Zauber eines Gedichtes?
Detering: Das geht sehr gut, und im geglückten Fall, der sich in meinen Seminaren zu diesem Themenbereich häufig ergeben hat, im geglückten Fall stärkt eines das andere, die Analyse stärkt den Zauber, und der Zauber stärkt den Willen, auch analytisch zu verstehen, was hier so bezaubernd gewirkt hat. Ich mache das zum Beispiel im Seminar so, dass ich zunächst sehr bewusst die Gedichte laut vorlesen lasse von verschiedenen Sprecherinnen und Sprechern, verschiedene Klänge erprobe, die Soundwirkung eines Textes wirken lasse, und dann die Erwartungshaltung, das, was spontan, vorreflexiv sozusagen, als Erwartung an das Gedicht herangetragen wird, zum Thema mache.
Und erst dann ergeben sich – aber dann meistens auch fast von selbst – die Fragen, auf die man doch nur analytisch eine Antwort bekommen kann. Es gibt von Brecht den schönen Satz auf diesen alten Vorwurf antwortend, ein Gedicht zerpflücken hieße seinen Zauber zerstören: Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön. Das scheint mir sehr passend zu sein für die Praxis, die ich da erprobe.
Scholl: Weil Sie gerade das laut Vorlesen ansprechen, Herr Detering, wie sieht es denn dann mit dem nächsten Schritt aus, dem Auswendiglernen? Also in der Pädagogik der 1970er- und 80er-Jahre, zumindest in der Schule, war es ja irgendwie ein No-Go – also leider, würde ich heute sagen –, Gedichte auswendig Lernen galt als repressiv. Ich finde es toll, wenn man welche aufsagen kann. Wie geht es Ihnen damit?
Detering: Ja, es geht mir auch so. Ich habe so einen kleinen Vorrat – einen vielleicht gar nicht so kleinen Vorrat – von Texten, die ich mir aufsage, wenn es mir nicht gut geht, wenn ich mich langweile, wenn ich in der Schlange stehe oder auf den Zug warte oder irgend so was. Ich mache das nicht zur Pflicht bei meinen Studenten und Studentinnen, aber ich freue mich, und das ergibt sich häufig, allein schon dadurch, dass man sich lange mit einem einzelnen Text beschäftigt.
Man glaubt ja gar nicht, wie lange man sich über einen Text von acht Versen beugen kann, ohne sich dabei zu langweilen, und am Ende kann man ihn auswendig, ohne eigentlich darauf hingearbeitet zu haben – übrigens auch mit englischsprachigen Texten, keineswegs nur mit deutschen Gedichten.
Scholl: Wie unterrichtet man Poesie? Im "Lyriksommer" von Deutschlandradio Kultur sind wir im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Jetzt mal ein Gedicht, Herr Detering. Obacht:
täglich andere Ängste
und immer dieselbe Angst
die erste die letzte die längste:
dass du nicht langst
dass du nie genug bist
dass du nie genügst
dass deine Sicherheit Lug ist
dass du lügst
Angst vor offenen Plätzen
Gier nach dem eigenen Platz
nachts das alte Entsetzen
morgens der nächste Satz
Dieses Gedicht heißt "Kilchberg", und nur dieser Titel verrät, von wem hier die Rede ist, nämlich Thomas Mann, der ja in Kilchberg bei Zürich zuletzt lebte. Und diese Verse, die stammen nun von Ihnen, Herr Detering. Eines Ihrer Spezialgebiete ist die Literatur von Thomas Mann, so viel schon zum Verständnis dieses Gedichtes. Wie ist denn dieses Gedicht entstanden, wie kam es Ihnen in den Sinn?
Detering: Das ist ein Gedicht aus meinem jüngsten Band. Ich bin überrascht und erfreut, dass Sie es mir vorlesen. Das ergab sich als ein Gedicht ohne den Titel "Kilchberg". Eine ganz intime Selbstverständigung über intime Ängste, die so preiszugeben ich mich, als ich es hingeschrieben und überarbeitet hatte, scheute, und der Name Kilchberg setzte dem Gedicht gewissermaßen eine halbdurchsichtige Maske auf, machte es aber natürlich auch durchsichtig auf andere Figuren als den Schreiber dieses Textes oder den zur Hilfe genommenen Thomas Mann, den Leistungsethiker oder andere.
Die Reaktion auf dieses Gedicht – und ich habe sehr, sehr viele Reaktionen darauf bekommen, auch von Lesern und Leserinnen, die ich gar nicht kenne, zeigen, dass ich da etwas ausgesprochen habe, was offenbar sehr viele Menschen betrifft und um dessen allzu große Intimität ich mir eigentlich keine Angst, keine Sorgen machen musste.
Scholl: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat dieses Gedicht in den höchsten Tönen gelobt und auch abgedruckt, eine Interpretation dazu geliefert und gesagt, es träfe den Kern des Schriftstellers und das Herz des Lesers. Wenn der alte Thomas Mann es noch gehört hätte, wäre wohl ein Tagebucheintrag fällig gewesen in der Art: So impertinent diese jungen Leute, aber gar nicht schlecht, vielleicht.
Detering: Schön wäre es, ja.
Scholl: Wer entscheidet denn bei Ihnen, Herr Detering, wann ein Gedicht gut ist? Der Gelehrte, der Professor oder der Dichter Detering?
Detering: Ja, nach dem, was ich vorhin gesagt habe über das Ineinander von Zauber und Soundeffekt, Musikalität des Gedichtes einerseits und Analyse, Handwerk andererseits, sind das ja gar keine getrennten Instanzen in mir. Es sind verschiedene Tätigkeiten, die ich ausübe, aber die bilden nach meiner eigenen Wahrnehmung ein schönes Kontinuum. Und ich bin schon, glaube ich, in der Lage, einerseits meine professionellen Gewohnheiten so weit beiseite zu schieben, dass ich spontan ein Gedicht schreiben kann, ohne gleich an historische Zusammenhänge oder systematische Fragen zu denken.
Aber ich bin andererseits auch in der Lage, meine eigenen Gedichte, wenn sie eine Zeit lang gelegen haben, kritisch zu analysieren und dann zu sagen: Das ist nichts, das war eine Privatnotiz, aber die gehört in keinen Gedichtband. Oder umgekehrt, das ist ein Gedicht, das mir vielleicht auch gefallen würde, wenn es jemand anders geschrieben hätte.
Scholl: Vorhin sagten Sie, Herr Detering, dass sie immer ein paar Gedichte parat hätten und auswendig könnten. Haben Sie ein Lieblingsgedicht, das sie so unwiderstehlich und am schönsten finden? Können Sie es gerade?
Detering: Ja, da würden mir einige einfallen, also einige Hundert wahrscheinlich von Bob Dylan, Songtexte, …
Scholl: Von Bob Dylan?
Detering: … die ja sehr lyrikaffin sind, dann das Lieblingsgedicht vielleicht, das "Laotse"-Gedicht von Berthold Brecht, das aber zu lang ist, um es jetzt rasch mal herunterzusagen, 13 Strophen lang. Kästner-Gedichte, die ich wegen ihres Sounds, vor allen Dingen ihrer Coolness, sehr mag, Brecht natürlich, "Ben", und ein ganz kleines zum Beispiel von Rilke, das ich ungeheuer pathetisch finde:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Und ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise Jahrtausende lang;
und ich weiß noch nicht: Bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang?
Rilke konnte so etwas noch schreiben am Anfang des Stundenbuches.
Scholl: Gratulation! Toll, Herr Detering, dass Sie das noch können, und schön, dass Sie es uns vorgetragen haben. Herzlichen Dank Ihnen, dass Sie bei uns waren, alles Gute für Sie, Ihre Arbeit, Ihre weiteren Lyrikseminare und natürlich auch für Ihre eigene Lyrik. Wir hoffen, noch viel von Ihnen zu hören!
Detering: Danke vielmals!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wer Heinrich Detering einmal live vor Publikum erlebt hat, weiß, dass er ein feuriger Vermittler von Literatur ist, und deshalb freuen wir uns besonders, dass er sich jetzt Zeit für unseren Lyriksommer und die Frage nimmt: Wie unterrichtet man Lyrik? Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Detering!
Heinrich Detering: Ja, danke schön!
Scholl: Sie lehren als Professor an der Universität Göttingen, und in diesem Sommersemester haben Sie ein Seminar zur neueren deutschen Lyrik abgehalten. Wie ist das denn gelaufen?
Detering: Das ist ganz wunderbar gelaufen, angefangen mit der Teilnehmerzahl. Ich hatte gedacht, das wird vielleicht ein Seminar, in das nur sehr interessierte Leute kommen, Lyrikfans oder so, und das hatte die ganz gewöhnliche Größe unserer Masterseminare, also 25 Leute, und vor allen Dingen aber waren diese 25 Leute außerordentlich interessiert, aufgeschlossen für die Begegnung auch mit ganz unterschiedlichen Texten. Es ging in diesem Seminar um neue Bücher von so unterschiedlichen Lyrikern wie Jan Wagner und Monika Rinck, Nora Bossong und Doris Runge, ganz verschiedene Töne, Traditionen, Schreibweisen, und es wurde eigentlich immer spannender, je länger das Semester dauerte.
Scholl: Wir haben vorhin – übrigens eine schöne Koinzidenz heute – dem großen Lyriker Reiner Kunze zu seinem 80. Geburtstag gratuliert. Und er hat einmal gesagt: Nichts vertreibt junge Menschen beim Literaturunterricht mehr als die Frage, was will der Dichter uns damit sagen. Das kennen die Älteren unter uns wohl auch noch gut aus der Schule, so Gedichtinterpretationen, einen Aufsatz muss man schreiben. Wie hält es denn da so die moderne Pädagogik damit an der Universität? Ist diese Frage auch für den Lehrer Detering tabu?
Detering: Sie ist überhaupt nicht tabu. Sie ist ja eine der vernünftigsten Fragen, die man an Texte stellen kann. Es ist nur schade, wenn man keine andere Frage als diese stellt, und es ist auch zumindest unklug, diese Frage gleich als erste zu stellen. Auch Reiner Kunze wird nichts dagegen haben, wenn man bei seinen Texten fragt, was er sich dabei gedacht habe oder was er uns habe mitteilen wollen.
Aber die erste Frage, die ich meinen Studenten, Studentinnen beizubringen versuche, lautet: Beschreibe, was du siehst oder beschreibe, was du hörst. Denn erfahrungsgemäß haben alle Lyrikleserinnen und -Leser die Neigung, möglichst schnell in den vermuteten oder unterstellten Tiefsinn vordringen zu wollen, deuten zu wollen, und dabei so ganz einfache Dinge zu übersehen, wie zum Beispiel die Frage, ob der Text gereimt ist oder nicht, ob er sich bestimmter regelmäßiger Metren bedient oder nicht – all diese formalen Eigenschaften, von denen aus meistens der sehr viel gangbarere Weg in die Frage führt, was wir denn mit diesem Text am Ende anfangen sollen.
Scholl: Ich meine, Gedichte werden ja in der Wirkung oft verglichen mit Musik, also ein gewissermaßen so blindes Verstehen, man ist ergriffen, emotional bewegt, dabei ist Lyrik wie die Musik ja ein überaus präzises Handwerk. Sie haben es schon genannt, Herr Detering, also Reim, Versmaß, Metrik, Bildlichkeit, wie bringt man aber auch diese Aspekte, also das Formale, Intellektuelle, nenne ich es jetzt mal, zusammen mit dem Zauber eines Gedichtes?
Detering: Das geht sehr gut, und im geglückten Fall, der sich in meinen Seminaren zu diesem Themenbereich häufig ergeben hat, im geglückten Fall stärkt eines das andere, die Analyse stärkt den Zauber, und der Zauber stärkt den Willen, auch analytisch zu verstehen, was hier so bezaubernd gewirkt hat. Ich mache das zum Beispiel im Seminar so, dass ich zunächst sehr bewusst die Gedichte laut vorlesen lasse von verschiedenen Sprecherinnen und Sprechern, verschiedene Klänge erprobe, die Soundwirkung eines Textes wirken lasse, und dann die Erwartungshaltung, das, was spontan, vorreflexiv sozusagen, als Erwartung an das Gedicht herangetragen wird, zum Thema mache.
Und erst dann ergeben sich – aber dann meistens auch fast von selbst – die Fragen, auf die man doch nur analytisch eine Antwort bekommen kann. Es gibt von Brecht den schönen Satz auf diesen alten Vorwurf antwortend, ein Gedicht zerpflücken hieße seinen Zauber zerstören: Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön. Das scheint mir sehr passend zu sein für die Praxis, die ich da erprobe.
Scholl: Weil Sie gerade das laut Vorlesen ansprechen, Herr Detering, wie sieht es denn dann mit dem nächsten Schritt aus, dem Auswendiglernen? Also in der Pädagogik der 1970er- und 80er-Jahre, zumindest in der Schule, war es ja irgendwie ein No-Go – also leider, würde ich heute sagen –, Gedichte auswendig Lernen galt als repressiv. Ich finde es toll, wenn man welche aufsagen kann. Wie geht es Ihnen damit?
Detering: Ja, es geht mir auch so. Ich habe so einen kleinen Vorrat – einen vielleicht gar nicht so kleinen Vorrat – von Texten, die ich mir aufsage, wenn es mir nicht gut geht, wenn ich mich langweile, wenn ich in der Schlange stehe oder auf den Zug warte oder irgend so was. Ich mache das nicht zur Pflicht bei meinen Studenten und Studentinnen, aber ich freue mich, und das ergibt sich häufig, allein schon dadurch, dass man sich lange mit einem einzelnen Text beschäftigt.
Man glaubt ja gar nicht, wie lange man sich über einen Text von acht Versen beugen kann, ohne sich dabei zu langweilen, und am Ende kann man ihn auswendig, ohne eigentlich darauf hingearbeitet zu haben – übrigens auch mit englischsprachigen Texten, keineswegs nur mit deutschen Gedichten.
Scholl: Wie unterrichtet man Poesie? Im "Lyriksommer" von Deutschlandradio Kultur sind wir im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Jetzt mal ein Gedicht, Herr Detering. Obacht:
täglich andere Ängste
und immer dieselbe Angst
die erste die letzte die längste:
dass du nicht langst
dass du nie genug bist
dass du nie genügst
dass deine Sicherheit Lug ist
dass du lügst
Angst vor offenen Plätzen
Gier nach dem eigenen Platz
nachts das alte Entsetzen
morgens der nächste Satz
Dieses Gedicht heißt "Kilchberg", und nur dieser Titel verrät, von wem hier die Rede ist, nämlich Thomas Mann, der ja in Kilchberg bei Zürich zuletzt lebte. Und diese Verse, die stammen nun von Ihnen, Herr Detering. Eines Ihrer Spezialgebiete ist die Literatur von Thomas Mann, so viel schon zum Verständnis dieses Gedichtes. Wie ist denn dieses Gedicht entstanden, wie kam es Ihnen in den Sinn?
Detering: Das ist ein Gedicht aus meinem jüngsten Band. Ich bin überrascht und erfreut, dass Sie es mir vorlesen. Das ergab sich als ein Gedicht ohne den Titel "Kilchberg". Eine ganz intime Selbstverständigung über intime Ängste, die so preiszugeben ich mich, als ich es hingeschrieben und überarbeitet hatte, scheute, und der Name Kilchberg setzte dem Gedicht gewissermaßen eine halbdurchsichtige Maske auf, machte es aber natürlich auch durchsichtig auf andere Figuren als den Schreiber dieses Textes oder den zur Hilfe genommenen Thomas Mann, den Leistungsethiker oder andere.
Die Reaktion auf dieses Gedicht – und ich habe sehr, sehr viele Reaktionen darauf bekommen, auch von Lesern und Leserinnen, die ich gar nicht kenne, zeigen, dass ich da etwas ausgesprochen habe, was offenbar sehr viele Menschen betrifft und um dessen allzu große Intimität ich mir eigentlich keine Angst, keine Sorgen machen musste.
Scholl: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat dieses Gedicht in den höchsten Tönen gelobt und auch abgedruckt, eine Interpretation dazu geliefert und gesagt, es träfe den Kern des Schriftstellers und das Herz des Lesers. Wenn der alte Thomas Mann es noch gehört hätte, wäre wohl ein Tagebucheintrag fällig gewesen in der Art: So impertinent diese jungen Leute, aber gar nicht schlecht, vielleicht.
Detering: Schön wäre es, ja.
Scholl: Wer entscheidet denn bei Ihnen, Herr Detering, wann ein Gedicht gut ist? Der Gelehrte, der Professor oder der Dichter Detering?
Detering: Ja, nach dem, was ich vorhin gesagt habe über das Ineinander von Zauber und Soundeffekt, Musikalität des Gedichtes einerseits und Analyse, Handwerk andererseits, sind das ja gar keine getrennten Instanzen in mir. Es sind verschiedene Tätigkeiten, die ich ausübe, aber die bilden nach meiner eigenen Wahrnehmung ein schönes Kontinuum. Und ich bin schon, glaube ich, in der Lage, einerseits meine professionellen Gewohnheiten so weit beiseite zu schieben, dass ich spontan ein Gedicht schreiben kann, ohne gleich an historische Zusammenhänge oder systematische Fragen zu denken.
Aber ich bin andererseits auch in der Lage, meine eigenen Gedichte, wenn sie eine Zeit lang gelegen haben, kritisch zu analysieren und dann zu sagen: Das ist nichts, das war eine Privatnotiz, aber die gehört in keinen Gedichtband. Oder umgekehrt, das ist ein Gedicht, das mir vielleicht auch gefallen würde, wenn es jemand anders geschrieben hätte.
Scholl: Vorhin sagten Sie, Herr Detering, dass sie immer ein paar Gedichte parat hätten und auswendig könnten. Haben Sie ein Lieblingsgedicht, das sie so unwiderstehlich und am schönsten finden? Können Sie es gerade?
Detering: Ja, da würden mir einige einfallen, also einige Hundert wahrscheinlich von Bob Dylan, Songtexte, …
Scholl: Von Bob Dylan?
Detering: … die ja sehr lyrikaffin sind, dann das Lieblingsgedicht vielleicht, das "Laotse"-Gedicht von Berthold Brecht, das aber zu lang ist, um es jetzt rasch mal herunterzusagen, 13 Strophen lang. Kästner-Gedichte, die ich wegen ihres Sounds, vor allen Dingen ihrer Coolness, sehr mag, Brecht natürlich, "Ben", und ein ganz kleines zum Beispiel von Rilke, das ich ungeheuer pathetisch finde:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Und ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise Jahrtausende lang;
und ich weiß noch nicht: Bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang?
Rilke konnte so etwas noch schreiben am Anfang des Stundenbuches.
Scholl: Gratulation! Toll, Herr Detering, dass Sie das noch können, und schön, dass Sie es uns vorgetragen haben. Herzlichen Dank Ihnen, dass Sie bei uns waren, alles Gute für Sie, Ihre Arbeit, Ihre weiteren Lyrikseminare und natürlich auch für Ihre eigene Lyrik. Wir hoffen, noch viel von Ihnen zu hören!
Detering: Danke vielmals!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.