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Ukraine-Krieg
Wegen des Kriegs in der Ukraine gilt in Litauen der Ausnahmezustand. Die Nato hat dort zuletzt ihre Truppen massiv aufgestockt. © Getty Images / Paulius Peleckis
Die Angst im Baltikum
23:03 Minuten
Nirgendwo kommen sich die NATO und Russland so gefährlich nah wie im Baltikum. Für Estland, Lettland und Litauen ist Putins Krieg in der Ukraine existenzbedrohend, trotz NATO-Mitgliedschaft. Die Menschen fragen sich: Werden wir die Nächsten sein?
Eigentlich sind es nur noch ein paar Meter bis in den Wald. Aber Rentnerin Inesse Cepule darf dort nicht hin. Sie geht gerade mit ihrem Hund spazieren und muss dabei aufpassen, dass sie nicht an dem großen Pfosten vorbeiläuft, der in der Erde steckt.
Denn der markiert zwei wichtige Grenzen: Hier endet die EU und hier endet auch das Gebiet der NATO. Denn Inesse Cepule wohnt in einem kleinen Dorf direkt an der Grenze zwischen Litauen und Belarus.
Das Gefühl, etwas verloren zu haben
Früher, in der Sowjetunion hatte diese Grenze für den Alltag kaum eine Bedeutung. "Hinter uns ist ein Birkenwald, da haben wir Pilze gesammelt", sagt Inesse. "Ein Stück weiter war ein alter Eichenwald, da gab es reichlich Steinpilze. Man hat das Gefühl, als ob man etwas verloren hätte. Du lebst ganz in der Nähe, aber Pilze sammeln darfst du nicht mehr."
Die Einfachheit ist genauso weg wie die Sowjetunion. Die Grenze kam, die jungen Leute gingen weg. Wer geblieben ist, musste sich selbst helfen. Bis heute baut Inesse selbst Gemüse an, um ihre Familie über die Runden zu bringen.
Die Jahre des Wandels, des Übergangs seien schwierig gewesen, erzählt sie. "Es gab nicht genug Essen, und das mit kleinen Kindern. Jede Ware nur auf Bezugsschein, keine Monatslöhne. Es fehlte an allem."
"Keiner weiß, wie es weitergeht"
In den letzten Jahren ist das Leben hier wieder besser geworden, bis der Krieg in der Ukraine kam. Jetzt machen sich Inesse und ihr Mann Vytas immer mehr Sorgen: "Keiner weiß, wie es weitergeht", sagt Inesse: ein mulmiges Gefühl.
"Alle Neuigkeiten erfährt man im Dorfladen", ergänzt ihr Mann Vytas. Dort fehle schon das eine oder andere. "Es gibt Schwierigkeiten bei der Lieferung." Für Salz und Mehl müsse man 35 Kilometer in die nächste Stadt fahren.
Wir fahren weiter. Zwei Stunden mit dem Auto entfernt liegt die litauische Hauptstadt Vilnius. Hier lebt Rita. Die Tochter von Inesse und Vytas arbeitet als Taxifahrerin. Auch sie beschäftigt der Ukraine-Krieg sehr.
„Meine Urgroßmutter hat immer gesagt: ‚Nichts ist schlimmer als der Krieg‘." Sie selbst habe nie Krieg mit ihren eigenen Augen gesehen, aber: "Es ist wohl das Schrecklichste, was deinem zu Hause passieren kann. Ich denke viel an mein Heimatdorf."
Angst, die Unabhängigkeit zu verlieren
Immer wieder seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine gibt es hier in Vilnius Demonstrationen. Litauen hat genau wie seine baltischen Nachbarn schon lange ein sehr angespanntes Verhältnis zu Russland.
Während des Zweiten Weltkriegs werden die bis dahin selbstständigen Länder Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion einverleibt. Erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR erhalten sie Anfang der 90er-Jahre ihre Souveränität wieder. Die Angst, diese Unabhängigkeit wieder zu verlieren, hat sich bei vielen aber eingebrannt.
"Niemand zweifelt daran, dass Litauen als Nächstes dran sein könnte."
"Lasst uns zusammenstehen mit unseren Freunden in der NATO. Lasst unsere Kinder nie so etwas erleben wie die ukrainischen Kinder gerade."
Die Solidarität mit den Ukrainern ist in den baltischen Ländern besonders groß, bei vielen Menschen und auch in der Politik. In Lettlands Hauptstadt Riga wurde jetzt sogar die Straße, in der die russische Botschaft liegt, umbenannt in: Straße der ukrainischen Unabhängigkeit.
Der Wunsch, die Ukraine zu unterstützen
Eine Näherei in der Stadt muss Sonderschichten einlegen, weil die ukrainischen Fahnen in blau und gelb ausgehen. Viele Kunden kaufen sogar gleich mehrere. "Die eine Fahne habe ich für meine Wohnung gekauft, die zweite wird am Haus wehen, wo unser Café ist. So können wir die Ukraine unterstützen."
Es gibt Demonstrationen und Solidaritätskonzerte. Es werden Spenden gesammelt und überall Platz frei gemacht für Flüchtlinge. Die Letten fühlen sich durch ihre eigene Befreiung Anfang der 90er jetzt tief mit den Ukrainern verbunden. "Das erinnert mich alles an die Barrikadenzeiten. Ich bin alt genug. Damals vor 30 Jahren haben wir als Studenten an den Freiheitsdemos teilgenommen."
Die Balten gehören in Europa seit Jahren zu den Verfechtern eines harten Umgangs mit Russland. Seit dem Einmarsch umso mehr.
„Das Wichtigste ist, dieses kriminelle Regime von der Welt zu isolieren, ähnlich wie Nordkorea", sagt Lettlands Präsident Egils Levits. "Denn ein solches Regime bedroht nicht nur die Ukraine, sondern Europa und die ganze Welt“
Litauens Premierministerin Ingrida Šimonyte findet, der russische Einmarsch in die Ukraine ist ganz klar eine Folge davon, dass vor allem der Westen viel zu lange viel zu locker mit Präsident Putin umgegangen ist.
„Jetzt sind wir in einer Situation, in der unsere Antwort entscheidet, wie zukünftige Generationen leben werden", sagt sie. "Es geht hier nicht nur um die Ukraine, sondern es ist ein Versuch, die eigene Weltvorstellung gegenüber den westlichen Demokratien durchzusetzen.“
Balten setzen auf Abschreckung durch die NATO
Neben Sanktionen setzen die Balten aber vor allem auf Abschreckung durch das Militärbündnis NATO, dem sie 2004 beigetreten sind. "Wir sprechen schon lange über die Frage der Verstärkung der NATO-Ostflanke", sagt Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas.
"Aus diesem Grunde konnten wir uns glücklicherweise auch schon lange vorbereiten. Jetzt machen wir mit diesen Plänen weiter. Kräfte aus anderen Mitgliedsstaaten kommen hierher und wir sprechen über die Verstärkung von Kapazitäten, über konkrete Technik. Es ist wichtig, die Abschreckung zu verstärken.”
Tausende NATO-Soldaten im Baltikum stationiert
Die drei baltischen Länder sind auf dem Landweg fast vollständig von Russland und dessen Verbündeten Belarus umzingelt. Für die kleinen Länder ist die NATO-Mitgliedschaft deshalb eine Überlebensversicherung.
Mehrere tausend Soldaten sind hier inzwischen stationiert, darunter auch Soldaten der Bundeswehr. Bundespräsident Steinmeier hat sie vergangene Woche im litauischen Rukla besucht.
„Hier, an diesem Ort in Rukla will ich zum Abschluss sagen: Die Einigkeit und die Geschlossenheit der NATO und der europäischen Union sind der Schlüssel zu unserer Stärke", sagt er dabei. "Es ist Präsident Putin nicht gelungen, uns zu spalten. Im Gegenteil: Er hat die innere Stärke unserer Demokratien mobilisiert, unseren Willen gestärkt.“
Ausnahmezustand in Litauen
Trotzdem gehen die Balten lieber auf Nummer sicher. In Litauen gilt zum Beispiel der Ausnahmezustand. Damit können die Behörden den Schutz an den Grenzen des Landes zur russischen Exklave Kaliningrad und zu Belarus verstärken. Außerdem dürfen Menschen und Fahrzeuge im Grenzgebiet durchsucht werden.
Denn die Angst, dass der Krieg doch ins Baltikum schwappen könnte, sie ist da. Doch die russische Regierung muss gar nicht mit Panzern kommen, um Einfluss zu nehmen.
Seit Jahren läuft ein Informationskrieg. Vor allem in Estland und Lettland gibt es eine große russischsprachige Minderheit. Manche sprechen kaum estnisch oder lettisch und holen sich ihre Informationen aus dem russischen Fernsehen – und sind so der Propaganda der russischen Regierung ausgesetzt.
Deshalb gibt es – in Teilen – sogar Zustimmung für den Krieg in der Ukraine, so wie von dieser Frau in Lettland: "Putin macht alles schon richtig. Ich denke, er macht alles richtig."
Um die russische Propaganda zu stoppen, haben die baltischen Regierungen verboten, dass mehrere russische Fernsehsender ihr Programm weiter im Baltikum verbreiten.
Anspannung ist überall zu spüren
Die Stimmung gegenüber Russland wird generell immer angespannter: Manche Kinos zeigen keine russischen Filme mehr. Mehrere Supermarktketten haben russische Produkte vorerst aus den Regalen genommen. Der Krieg in der Ukraine und die angespannte Stimmung sind auch im Baltikum überall zu spüren.
Besonders aber in den Grenzregionen, wie bei Inesse Cepule an der litauisch-belarussischen Grenze. Auch wenn sie jetzt nicht mehr einfach in den Wald auf die belarussische Seite zum Pilze sammeln darf: Sie findet, der Wandel weg von der Sowjetunion hin zur EU hat ihr mehr Freiheiten gegeben. Beispielsweise "die Freiheit, überall hin zu reisen. In der Sowjetzeit durfte man durch ganz Russland reisen, wohin wir jetzt nicht mehr dürfen." Dafür aber durch ganz Europa. "Damals, als wir nach Europa nicht durften, haben wir nur davon geträumt Paris oder Venedig zu sehen. Jetzt haben wir das endlich alles gesehen."
Balten haben lange vor Putin gewarnt
Die Freiheit ist da, aber seitdem in der ganzen Ukraine Krieg ist, fehlt Inesse die gefühlte Sicherheit, hier an der NATO-Grenze zu Belarus. "Wenn ich von dort drüben irgendwelche Geräusche höre, die ich nicht kenne, breitet sich Spannung in mir aus." Symbolische Sicherheit gebe die NATO. "Aber wie wird es in der Realität sein? Gott bewahre, dass es jemals dazu kommt."
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat im Baltikum alte Narben aufgerissen. Lange haben vor allem die Balten den Westen vor Präsident Putin gewarnt. Zu lange hat man sie ignoriert, finden viele. Jetzt hoffen die Menschen, dass ihre NATO-Mitgliedschaft Estland, Lettland und Litauen den Frieden sichert.