Schießen oder schützen?
800 Wölfe leben wieder in Deutschland. Doch sie teilen das Land in jene, die sich über die Raubtiere freuen und jene, die Angst vor ihnen haben. Wir werden lernen müssen, mit ihnen zu leben, sagt der Autor Eckhard Fuhr im Gespräch.
Der deutsche Wolf ist ein Wendegewinner. Mehr als ein Jahrhundert lang war er in Deutschland ausgerottet, doch seit West- und Ostdeutschland wieder vereinigt wurden, breitet sich der Wolf wieder aus. Er wird geschützt durch das Bundesnaturschutzgesetz, das es verbietet, Wölfe zu töten. Der Buchautor Eckhard Fuhr findet das gut, für den passionierten Jäger ist der Wolf kein Konkurrent, sondern ein Kollege bei der Jagd.
Viele aber sehen das ganz anders. Schäfer etwa verlieren Geld, wenn Wölfe ihre Schafe töten. Menschen die nahe am Wald leben, sagen, sie hättten Angst um ihre Kinder, und Bürgerinitiativen fordern wolfsfreie Zonen. Unterdessen diskutieren Politiker darüber, ob es künftig wieder erlaubt sein soll, den Wolf zu jagen.
Dass über den Wolf mitunter in schrillen Tönen gestritten wird, wundert Eckhard Fuhr. Die Debatte ähnele jeder, die über Geflüchtete geführt werde. Zuerst habe es eine Willkommenskultur gegeben, doch bald forderten die Menschen, dass hart durchgegriffen werden müsse und Obergrenzen eingeführt werden sollten. Dazu kommen Mythen. Denn der vermeintlich böse Wolf jagt seit den Volksmärchen durch das kollektive Gedächtnis.
Doch egal, was die Menschen fordern, wir müssten uns daran gewöhnen, mit dem Wolf zu leben, sagt Eckhard Fuhr. Aber wir werden uns auch daran gewöhnen müssen, sogenannte Problemwölfe zu töten, die Menschen gefährden oder großen Schaden anrichten.
Das Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Mein Gast ist Eckard Fuhr. Er war Feuilletonchef der Zeitung "Die Welt", ist Buchautor und Jäger. Vor allem seine beiden letztgenannten Tätigkeiten haben viel mit unserem heutigen Thema zu tun. – Guten Tag, Herr Fuhr.
Eckhard Fuhr: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns über Wölfe sprechen, Herr Fuhr. Kaum ein Tag, an dem nicht etwas über Wölfe in den Zeitungen steht: Wölfe, die Schafe töten, Wölfe, die Bürger verängstigen und Wölfe, die auch die Politik beschäftigen. In Deutschland war der Wolf ein Jahrhundert lang ausgestorben. Seit gut zwei Jahrzehnten ist er wieder da und vermehrt sich prächtig. – Freut Sie das, Herr Fuhr?
Eckhard Fuhr: Das freut mich, ja. Also, ich bin eigentlich, seitdem die Wölfe wieder in Deutschland sind, also etwa seit der Jahrtausendwende, ein Mensch, der sich noch interessierter und auch noch freudiger in der Natur bewegt als in den Zeiten davor. Der Wolf ist ein Mitspieler in der Natur und er findet hier sehr gute Lebensbedingungen. Und das Ganze ist ein Vorgang, der zunächst einmal neugierig machen sollte. Also, er befriedigt die Neugier. Es passiert etwas, was niemand bisher so erlebt hat: Eine große spektakuläre Tierart, eine große Beutegreiferart kehrt in angestammte Gebiete wieder zurück, mit völlig anderen landwirtschaftlichen Verhältnissen, mit völlig anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, mit völlig anderen kulturellen Verhältnissen als sie herrschten zum Zeitpunkt ihrer Ausrottung, also vor 150 Jahren etwa.
Und das finde ich einfach ungemein spannend und aufregend. Dass es Schwierigkeiten dabei gibt, ist klar und offensichtlich, aber es sind, wie ich überzeugt bin, lösbare Schwierigkeiten.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind Jäger, Herr Fuhr. Sie sind stellvertretender Landesvorsitzender des Ökologischen Jagdvereins in Brandenburg. Gemeinhin gelten Jäger und Wölfe als Gegner, weil ja beide irgendwie im Wald hinter dem gleichen Wild her sind. – Warum finden sie es gut, dass ein Großraubtier Ihnen in Ihrem eigenen Jagdrevier Konkurrenz macht?
Kollege Wolf
Eckhard Fuhr: Also, wenn zwei das Gleiche wollen, nämlich Wildtiere erbeuten, im Wesentlichen wild lebende Huftiere – Rehe, Wildschweine, Rothirsche, Damhirsche –, dann sind wir auf der einen Seite Konkurrenten, klar, aber sie sind vor allen Dingen erst einmal Kollegen. Sie wollen das Gleiche. Und unser Ziel, jedenfalls das Ziel des Ökologischen Jagdverbandes, ist ja, die Schalenwild-Bestände so zu kontrollieren, auf einen Stand zu bringen, der eine natürliche Waldentwicklung überhaupt erst möglich macht. Und wenn der Wolf da als Hilfe dazu kommt, dann begrüßen wir das natürlich.
Deutschlandfunk Kultur: Kollege Wolf, das sehen aber nicht alle Jäger so. Der Deutsche Jagdverband, das ist ein anderer Verband als Ihrer, der vertritt nach eigenen Angaben 250.- oder 245.000, um genau zu sein, Jäger in Deutschland. Und dieser DJV fordert, dass die rechtlichen Möglichkeiten zum Abschuss von Wölfen ausgeweitet werden sollen. Wenn nötig soll es sogar erlaubt sein, ein ganzes Rudel abzuschießen, obwohl der Wolf ja eigentlich gesetzlich streng geschützt ist. – Wie finden Sie das?
Kein Rüstungswettlauf mit den Wölfen
Eckhard Fuhr: Also, da muss man genau unterscheiden. Das eine ist, es muss natürlich möglich sein, Wölfe, die bestimmte vereinbarte Herdenschutz-Maßnahmen überwinden, mehrfach überwinden, zu töten. Wir können ja nicht einen Rüstungswettlauf mit den Wölfen beginnen. Den verlieren auf jeden Fall die Schäfer. Und das wollen wir nicht, weil Schafhaltung und extensive Weidewirtschaft eben auch ungemein wichtig sind für unsere Artenvielfalt.
Also, diese Eingriffsmöglichkeiten begrüßen wir auch. Wir haben als Ökologischer Jagdverein in Brandenburg an der Wolfsverordnung mitgearbeitet, in der das ja auch alles aufgeschrieben und geregelt ist.
Deutschlandfunk Kultur: Für das Land Brandenburg.
Eckhard Fuhr: Für das Land Brandenburg. Das taten wir, wie auch die großen Naturschutzverbände NABU und WWF und BUND mit. Wogegen wir sind, ist eine reguläre Jagd auf Wölfe so wie auf Wildschweine oder andere Wildarten. Wir glauben nicht, dass die sogenannte "Bestandsregulierung", auf die das ja hinauslaufen soll, Bestandsobergrenzen, dass die die Probleme, die tatsächlich vorhanden sind, lösen könnte.
Die Frage des Herdenschutzes und das Risiko für Weidetiere hängt nicht von der Gesamtzahl der Wölfe ab. Es geht immer um bestimmte Wölfe, um bestimmte Rudel, um bestimmte Verhältnisse und nicht darum, wie viele Wölfe wir insgesamt haben. Wenn wir da eine Obergrenze einführen und die durchsetzen irgendwie, wie auch immer, das weiß ja auch kein Mensch, wie das eigentlich gehen soll, dann werden die Probleme geringer – das ist ein Versprechen, das völlig ins Blaue hinein geredet ist. Niemand kann das versprechen.
Deutschlandfunk Kultur: Über welche Größenordnungen reden wir eigentlich? Wie viele Wölfe gibt es etwa in Deutschland?
Eckhard Fuhr: Es gibt ja ein sehr genaues Monitoring, das von den Ländern gemacht wird und dann zusammengeführt wird einmal im Jahr. Und die letzte Bestandsaufnahme, das ist dann der Stand von 2018, ergab: Rund 100, etwas mehr als 100 Wolfsterritorien. In den meisten leben Rudel, also Elterntiere mit den Nachkommen. Einige sind von Paaren besetzt und einige wenige auch nur von territorialen Einzeltieren. Also, 100 Wolfsterritorien, sagen wir, haben wir. Das ist das, was man einigermaßen exakt zählen kann.
Wie viele Wolfsindividuen das am Ende sind, das weiß man nicht genau. Das kann man schätzen. Eine Faustregel ist, man kann die Zahl der Rudel mit acht oder neun multiplizieren. Dann kommt man ungefähr auf eine Zahl, die vielleicht annähernd das wiedergibt, was wir in Deutschland als Gesamtpopulation haben. Also sagen wir: 100 Rudel mal 8 wären 800 Wölfe.
Rechtssicherheit für Meister Isegrim
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben gerade gesagt, der Wolf ist rechtlich geschützt. Der darf nicht so ohne weiteres "entnommen" werden, wie das in der Fachsprache so schön heißt. Sprich, er darf nicht ohne weiteres getötet werden. – Wie sieht der rechtliche Status von Meister Isegrim genau aus?
Eckhard Fuhr: Na ja, er ist auf verschiedenen Ebenen streng geschützt. Das eine ergibt sich aus dem anderen. Den Ursprung machte die Berner Konvention. Das war eine zwischenstaatliche Vereinbarung aus den 70er Jahren. Die wurde dann in der Europäischen Union umgesetzt, verbindlich umgesetzt durch die sogenannte FFH-Richtlinie, Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Und diese wiederum wurde dann in deutsches Recht überführt durch das Bundesnaturschutzgesetz. Also, das ist der Rechtsrahmen, der gegeben ist.
Da ist es in der Tat so: Der Wolf gehört zu den streng geschützten Arten. Er ist auch eine Art von besonderem Interesse. Das heißt, es besteht die Pflicht, der EU-Mitgliedsstaaten jedenfalls, auch ein genaues Monitoring, also eine genaue Beobachtung und eine genaue Buchführung sozusagen über die Vorgänge in dieser Population zu machen und da regelmäßig auch Bericht zu erstatten. Das ist also alles ein großer Aufwand.
Aber es gibt eben da auch diese Ausnahme-Tatbestände. Im Bundesnaturschutzgesetz ist es dann so formuliert, dass man von diesem absoluten Tötungsverbot abgehen kann, wenn es zum Beispiel erhebliche wirtschaftliche Schäden gibt. Diese Definition "erhebliche wirtschaftliche Schäden", was ist das, das ist natürlich ein Streitpunkt, der dann die Gerichte beschäftigt. Insofern ist das schon auch rechtlich eine nicht so ganz sichere Sache. Aber man versucht das jetzt einigermaßen einzugrenzen und die Handlungsoptionen rechtssicher zu formulieren. Daran sind alle Bundesländer auch beteiligt im Moment. Und Brandenburg ist mit seiner Wolfsverordnung da, glaube ich, schon einen guten Schritt vorangegangen. Die anderen orientieren sich jedenfalls daran.
Deutschlandfunk Kultur: Aber der Wolf wird durch Europarecht geschützt. Das heißt, die Bundesrepublik oder der deutsche Gesetzgeber könnte sich da nicht so einfach drüber hinwegsetzen und den Wolf komplett freigeben.
Eckhard Fuhr: Nein, er könnte sich nicht darüber hinwegsetzen. Man könnte den Wolf ins Jagdrecht übernehmen, wie es die in Sachsen getan haben. Er ist im Landesjagdgesetz von Sachsen als jagdbare Tierart geführt, aber er hat, und das ist zwingend wegen seines Schutzstatus, eine ganzjährige Schonzeit. Also, er darf tatsächlich nicht gejagt werden. Es ist nur eine Frage der Zuständigkeit, also jetzt eine doppelte Zuständigkeit. Einerseits die Naturschutzbehörde, andererseits die Jagdbehörde. – Ob das ein Gewinn ist, wage ich zu bezweifeln.
Die Länder können, also die Mitgliedsstaaten der EU können natürlich versuchen und machen das auch, den Rechtsrahmen auszutesten. Etwa Schweden, EU-Mitglied, geht mit den Wölfen ganz anders um als die Deutschen das tun. Und viele, die also nun einen etwas strengeren Umgang mit dem Wolf wollen, also die die Population begrenzen wollen, berufen sich auf das Beispiel Schweden mit der sogenannten Schutzjagd und der Lizenzjagd. Also, Schweden hat einfach politisch definiert eine Oberzahl von Wölfen bzw. es ist auch eine Mindestzahl von etwa 300 Wölfen, glaube ich, die in einem Gebiet in Mittelschweden geduldet werden. Im nördlichen Landesteil, also mehr als die Hälfe des Landes ist Rentier-Weidegebiet der Samen. Dort dürfen keine Wölfe sein – und im Süden auch nicht.
Diese Verfahrensweise, diese schwedische Verfahrensweise wird von der Kommission in Brüssel beobachtet. Aber eine Entscheidung, ob das nun rechtens ist oder nicht, ist noch nicht getroffen worden.
Deutschlandfunk Kultur: Das Rechtliche ist ja das eine, das andere sind Stimmungen, sind Befürchtungen, sind auch ernstzunehmende Probleme. Es gibt ja viele Menschen in unserem Land, denen die Ausbreitung des Wolfs jetzt schon zu weit geht. Und das sind nicht nur einige Jäger, sondern – wir haben es schon angesprochen – die Schafzüchter klagen darüber, dass Wölfe ihre Nutztiere töten. Menschen in ländlichen Regionen, in denen Wölfe leben, trauen sich nicht mehr in den Wald, haben Angst um ihre Kinder. Es gibt Bürgerinitiativen, die wolfsfreie Zonen fordern, also wohl so ähnlich wie in Schweden. Das sind ja doch ernstzunehmende Stimmen, über die man sich nicht einfach hinwegsetzen kann.
Die Schäfer brauchen Hilfe
Eckhard Fuhr: Ja, sie sind mehr oder weniger ernst zu nehmen. Um noch einmal auf die Jäger zurückzukommen: Das ist die Gruppe, die im Moment besonders lautstark in der Öffentlichkeit agiert, die aber vom Wolf tatsächlich am wenigsten betroffen ist. Also, die Jagdstrecken gehen nicht zurück. Es ist genug da. Wir haben so viel Schalenwild, also Jägerbeute und Wolfsbeute in unseren Feldern und Wäldern aufgrund unserer intensiven Landwirtschaft, dass da genug für alle da ist. Also, es gibt für die Jäger unter dem Konkurrenzgesichtspunkt wirklich keinen Grund zu klagen.
Die Einzigen, die wirklich betroffen sind und auch existenziell betroffen sein können, sind die Schäfer. Denen muss in jeder Beziehung geholfen werden. Es wird ja auch vieles getan. Das heißt, die Bedingungen für den Ausgleich von Schäden sind verbessert worden. Die Regelungen für die Subvention von Weidezäunen und Herdenschutzhunden, also die Prävention, auch diese Bedingungen sind verbessert worden.
Aber trotzdem, es gibt eben keinen absolut sicheren Schutz vor Wolfsübergriffen. Und das bringt eben viele Weidetierhalter, die ja ohnehin schon wirtschaftlich an der Grenze dessen, was man sich zumuten kann, agieren, natürlich vor erhebliche Schwierigkeiten. Das darf man gar nicht leugnen.
Aber ebenso falsch wäre es zu sagen, der Wolf ist jetzt nun das Hauptproblem der Schäferei in Deutschland. Es gibt viele Hebel, die man da bewegen könnte, viele Dinge, die man ändern könnte und den Schäfern tatsächlich Luft zum Atmen verschaffen würden. Das ist eine politische Frage. Man könnte die Weidetierprämie wieder einführen, das würde erst nochmal die finanzielle Basis von Schäfereien ganz deutlich stabilisieren und verbessern. Deutschland macht das nicht, die meisten EU-Länder machen das. Es gibt diese Möglichkeit, das zu machen, aber Deutschland macht das nicht, weil sie eine andere Agrarpolitik betreiben. Da könnte man vieles machen.
Deutschlandfunk Kultur: Und es gibt natürlich die Bedenken in der Bevölkerung, was die Sicherheit angeht. Sie haben ein Buch geschrieben. "Rückkehr der Wölfe" heißt es. Aus Ihrer Kenntnis heraus, wie gefährlich sind Wölfe für den Menschen? Sind sie überhaupt gefährlich für den Menschen?
Als Wölfe Kinder fraßen
Eckhard Fuhr: Sie können für den Menschen gefährlich sein. Und sie sind für den Menschen auch in ganz anderen Verhältnissen, als wir sie heute haben, gefährlich gewesen. Also, in Zeiten, als wir hier auch in Europa auch kleine Kinder mit Schafen, Ziegen und Kühen in die Wälder geschickt haben zur Waldweide und als die Wälder leer waren, als eben – anders als heute – sie nicht vollgestopft waren mit Wild, da konnte es schon passieren, dass erstens Wölfe sich an der Herde vergriffen haben, aber auch an denen, die die Herde beschützt haben. Das ist, wenn man den Berichten glaubt, relativ oft passiert in manchen Zeiten. In Kriegszeiten, etwa im Dreißigjährigen Krieg oder zuletzt auch noch einmal in den Wirren nach den Napoleonischen Kriegen war das tatsächlich ein Problem.
Aber heute schicken wir keine Kinder mehr zum Schafehüten in den Wald. Und Kinder sind in der Regel beaufsichtigt. Also, ich sehe die Befürchtungen, die es gibt in der Bevölkerung, aber ich glaube, sie haben keine reale Grundlage.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ja, man sieht aber Wölfe dann doch immer wieder in der Nähe von menschlichen Siedlungen, obwohl der Wolf ja eigentlich als ziemlich scheu gilt und als ein Tier, das die menschliche Nähe nicht sucht. Andererseits sehen wir auch bei anderen Wildtieren – Wildschweinen, Waschbären und dergleichen mehr –, dass die sich zunehmend von den menschlichen Siedlungen angezogen fühlen, sogar in Großstädten inzwischen heimisch werden. – Ist das etwas, was auch mit dem Wolf geschehen kann?
Die Pizza-Wölfe
Eckhard Fuhr: Na ja, das könnte theoretisch mit dem Wolf auch geschehen. Wir hatten ja in den 70er, 80er Jahren in Italien, wo die Wölfe nie ganz ausgerottet worden waren, im Apennin und in den Abruzzen das Phänomen der sogenannten Pizza-Wölfe. Das waren also Wölfe, die sich in den großen Mülllagerstätten am Rande der Städte, von Rom etwa, aufgehalten und dort auch ernährt haben.
Aber diese offenen Müllabladeplätze gibt’s ja bei uns heute auch nicht mehr. Also, diese Verhältnisse würden bei uns nicht einkehren.
Die Sache mit der Scheu ist einer der Punkte, den wir in diesen 20 Jahren eben gelernt haben. Vor 20 Jahren haben die Menschen, die hier dann angefangen haben, sich mit Wölfen zu beschäftigen, aus tiefster Überzeugung gesagt, "die Wölfe sind scheu, man wird kaum einen zu Gesicht bekommen, die existieren hier als graue Schatten und niemand wird von ihnen irgendwie etwas merken". Dass das falsch war, hat man inzwischen gemerkt. Und ernst zu nehmende Wildbiologen behaupten das dann auch nicht mehr.
Aber dass Wölfe in der Nähe von Siedlungen auftauchen, ist auf der anderen Seite dann auch kein riskantes Verhalten, also für Menschen riskantes oder gefährliches Verhalten, sondern diese Wölfe kehren in eine Landschaft zurück, die ihnen auf der einen Seite hervorragende Lebensbedingungen bietet, was Beute angeht, die auf der anderen Seite eben aber auch sehr dicht durchwirkt ist mit menschlicher Zivilisation, mit Infrastruktur, mit Siedlungen usw. Und in diese Verhältnisse fügen sich die Wölfe als anpassungsfähige Tiere ein. Es wäre für sie ja biologisch völliger Unsinn, sofort in Panik zu geraten, wenn sie nur die Witterung eines Menschen in die Nase bekommen und eines Autos oder was weiß ich oder einer Siedlung. Dann könnten sie gar nicht hier existieren. Dann kämen sie überhaupt nicht zur Ruhe. Also, sie kalkulieren das ein. Das gehört zu ihrer Umwelt, zu ihrer Lebenswelt, mit der sie umgehen. Und da bewegen sie sich.
Schwierig wird es, und das ist dann der menschliche Part, schwierig wird es, wenn die Wölfe in der Nähe menschlicher Siedlungen Nahrung angeboten bekommen – freiwillig oder unfreiwillig. In Form von achtlos weggeworfenem Abfall oder aber, weil man besonders schöne Fotos schießen will zum Beispiel, dadurch, dass man eben wirklich Lockfutter anbietet. Dann verbinden sie Menschen mit Futter. Und jeder kennt das von ungezogenen Hunden. Wenn man die Bettelei nicht unterbindet, kann das auch sehr unangenehm werden.
Deutschlandfunk Kultur: Und solche Wölfe, die notorisch dann zu sehr die Nähe von Menschen suchen, die können ja dann auch von den Behörden zu Problemwölfen, wie das heißt, ernannt werden. Und dann können sie auch zum Abschuss freigegeben werden?
Eckhard Fuhr: Dann können sie zum Abschuss freigegeben werden. Das ist ja auch schon einige Male passiert. Auf der anderen Seite ist es dann auch wieder vorgekommen, dass Wölfe, die dann zum Abschuss freigegeben waren, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt waren und nicht mehr auftauchten. Also zum Beispiel der, der in Rathenow sich immer sehr, sehr nahe an eine Bushaltestelle gewagt hat und sich dort aufgehalten hat, der ist dann tatsächlich ja auch zum Abschuss freigegeben worden, aber nie wieder aufgetaucht.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Fuhr, wir haben bis jetzt sehr sachlich über die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland und die Folgen geredet. Die öffentliche Diskussion über den Wolf ist aber oft ganz anders. Sie ist schrill, hoch emotional bisweilen. Da werfen sich Befürworter und Gegner des strengen Schutzes von Wölfen ideologische Verbohrtheit gegenseitig vor. Die einen sollen von naiver Naturromantik geprägt sein. Den anderen wird blutrünstige Schießwut unterstellt. Auch von Staatsversagen angesichts der Wolfsgefahr ist die Rede. – Warum ist die öffentliche Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Wolf oft so giftig?
Der Wolf beleuchtet gesellschaftliche Konflikte
Eckhard Fuhr: Es werden am Beispiel Wolf natürlich auch gesellschaftliche Konflikte ausgetragen, die zunächst einmal mit dem Wolf ursächlich gar nichts zu tun haben, die aber durch den Wolf beleuchtet werden. Zum Beispiel das schwieriger gewordene Verhältnis zwischen Stadt und Land, das kann man ganz nüchtern als Strukturpolitik diskutieren. Das kann man als Kulturpolitik diskutieren.
Deutschlandfunk Kultur: Also, die Wolfsfreunde sitzen in der Stadt und haben keine Ahnung…
Eckhard Fuhr: Die Wolfsfreunde sitzen in der Stadt und die Wolfsgegner, das sind die Betroffenen, die sitzen auf dem Land. Und die urbanen Eliten muten der Landbevölkerung etwas zu, was die Landbevölkerung gar nicht will, und sind weit davon entfernt, weit von den realen Problemen entfernt. – Das ist so die Wahrnehmung.
Dahinter stecken natürlich ganz andere Geschichten vom Abgehängtsein ganzer Regionen, man weiß nicht, wie es weitergeht usw. usf. Also, das wird durch den Wolf sozusagen fokussiert dieses Thema. Das ist einer der Gründe, warum die Debatte um den Wolf so giftig ist.
Ein ganzer Sack voll Mythen
Ein zweiter Grund ist aber sicherlich auch der, dass der Wolf selber – ich glaube, wie keine andere Tierart – ein kulturelles Gepäck mitbringt, einen ganzen Sack voll Mythen, der an ihm dran hängt. Und die sind natürlich dann präsent, wenn er real wieder auftaucht, wenn er plötzlich wieder da ist. – Also, der Wolf als die Inkarnation des Bösen, der vom Staat und von der Kirche verfolgt werden musste, weil er Frauen und Kinder bedroht, weil er die staatliche Ordnung bedroht, das alles. Sie nannten den Begriff "Staatsversagen". Wie kann es sein, dass so eine große Tierart hier plötzlich wieder auftaucht, macht, was sie will, niemand schreitet ein? Was ist denn hier los?
Diese Wahrnehmung erklärt sich vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen, die besagen: Wenn in Europa die staatliche Ordnung schwach war, wenn die staatliche Ordnung zusammenbrach in Kriegszeiten, wie ich vorhin sagte zum Beispiel, dann kamen die Wölfe. Dann kamen die Wölfe mit den Heerzügen, haben die Gefallenen, die Leichen auf den Schlachtfeldern gefressen. Dann waren Wolfsplagen da. Das war eine der Plagen, die mit Krieg verbunden waren, die Wolfsplage.
Das scheint tief im Gedächtnis zu sitzen, so tief, dass es nicht einfach vergessen ist, obwohl wir heute völlig andere Verhältnisse haben.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben in Ihrem Buch ja auch sehr viel über die Kulturgeschichte des Verhältnisses Mensch/Wolf geschrieben. Da habe ich gelesen, dass das schon bei Karl dem Großen um das Jahr 800 als staatliche Aufgabe erkannt wurde, etwas gegen Wölfe zu unternehmen. Also, der Wolf als Inbegriff des Chaos, gegen den die Ordnung, sei sie staatlicher oder kirchlicher Art, sich durchsetzen muss, um zu zeigen, wir haben hier Kontrolle.
Eckhard Fuhr: Eben. Also, in diesem europäischen Großreich Karl des Großen war die Wolfsjagd Staatsaufgabe, eine zentrale Staatsaufgabe mit Ämtern versehen, die dann 1000 Jahre später von Napoleon praktisch wiederbelebt wurden, reaktiviert wurden. Die Louveterie, das ist wie ein Orden, den es heute noch gibt. Aber der hat heute mit der Wolfsjagd…
Deutschlandfunk Kultur: Also, die Wolfsjäger…
Eckhard Fuhr: Ja, die Wolfsjäger. Der hat heute mit Wolfsjagd nichts mehr zu tun, aber das waren Amtspersonen, die sich mit diesem Thema Wolfsjagd befasst haben.
Deutschlandfunk Kultur: Nun hat der Wolf beim einfachen Volk aber auch durch die Jahrhunderte immer eine große Rolle gespielt. Das sieht man in den Volksmärchen, wo der böse Wolf ja eine feste Größe ist. Also, es ist ja wohl nicht nur das staatliche oder kirchliche Ordnungsdenken, das der Wolf verletzt.
Eckhard Fuhr: Natürlich. Wenn wir landwirtschaftliche Verhältnisse hatten bis weit ins 19., bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, die für die meisten Bauern quasi Subsistenzwirtschaft waren, also, die haben von dem gelebt, was sie erzeugt haben auf ihrem Grund und Boden, ohne viel Überschüsse dabei zu produzieren. Wenn dann eine Kuh gerissen wurde oder ein Kalb gerissen wurde, also die künftige Kuh, dann war das eine wirtschaftliche Katastrophe riesigen Ausmaßes. Und da ist es überhaupt nicht schwer zu verstehen, warum der Wolf verhasst war in der Landbevölkerung.
Aber der Wolf, weil Sie die Märchen ansprechen, ist ja nicht nur böse. Sondern wenn Sie sehen, wie mit ihm dann umgegangen wird im Rotkäppchen oder in den Sieben Geißlein: Bauch aufschneiden, Wackersteine rein, tot. Also, der Wolf ist auch dumm. Er ist auch leicht zu übertölpeln. Er ist kein überlegener, dämonischer Böser, sondern er ist halt böse, verfressen, aber man kann ihm auch zu leibe rücken.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist der letzte Wolf in deutschen Landen so etwa um das Jahr 1900 erlegt worden. Seither haben also mehrere Generationen praktisch wolfsfrei gelebt. Warum kommen dann diese alten Ressentiments sofort wieder hoch, sobald der erste Wolf hier auch wieder auftaucht?
In der DDR galt der Wolf als Schädling
Eckhard Fuhr: Also, es stimmt nicht so ganz, dass es 1904 der letzte Wolf war. Es gibt viele letzte Wölfe. Aber es sind immer wieder Wölfe aus Polen nach Deutschland eingewandert, in die DDR. Dort wurden alle Wölfe, die auftauchten geschossen. Kein Wolf hat sich dort lange festsetzen können. Aber in der Bevölkerung der ehemaligen DDR ist diese Erinnerung ja noch relativ frisch, dass der Wolf als absoluter Schädling betrachtet wurde von der Jagdwirtschaft der DDR. Nun sollte dann plötzlich mit der Wiedervereinigung und damit mit der Gültigkeit des Bundesnaturschutzgesetzes plötzlich alles anders sein. Diese Erfahrung ist noch relativ frisch. Deswegen finde ich es jetzt nicht so verwunderlich, dass diese Ressentiments gegen den Wolf so schnell hochkommen.
Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass eigentlich große seriöse Interessenverbände – und dazu würde ich auch den Deutschen Jagdverband zählen oder auch den Deutschen Bauernverband mit vielen, vielen, vielen Mitgliedern, mit breiter Vernetzung in der Politik, mit viel Sachverstand – sich beim Thema Wolf inzwischen in eine solche ideologische Antihaltung hinein manövriert haben. Damit hätte ich nicht gerechnet.
"Die kleine Schwester der Migrationsdebatte"
Deutschlandfunk Kultur: Der Bundesvorsitzende der Grünen Robert Habeck hat ja schon einen etwas frivolen Vergleich gemacht. Er sagte: "Die Debatte um den Wolf ist so die kleine Schwester der Migrationsdebatte." Also, da kommt was von außen rein, was wir nicht möchten, was uns zuerst fasziniert hat, was wir zuerst willkommen geheißen haben, aber jetzt möchten wir es eigentlich los haben. – Ist da was dran?
Eckhard Fuhr: Also, vielleicht ist es frivol, es ist aber auch wahr. Ja. Also, ich sehe es ähnlich. Ich glaube tatsächlich oder meine zu beobachten, dass diese Verschärfung im Streit um den Wolf parallel gekommen ist zu der Verschärfung des Streits um die Migrationspolitik. Das hing irgendwie unterirdisch miteinander zusammen. Und es ist ja auch gar nicht so schwer zu erklären. Tatsächlich geht es um die Frage: Wer hat die Kontrolle? Gibt es eine Art Kontrollverlust des Staates? Das war ja der große Vorwurf gegen Angela Merkel. Und beim Wolf wird die Parallele gesehen. Da kommt ein unberechenbares, großes Raubtier wieder zurück, das Generationen unserer Vorfahren mit allen Mitteln bekämpft haben. Und wir sollen uns ihm völlig wehrlos hingeben. Ja, wir sollen ihn willkommen heißen. Da sagen ja manche: Was soll das eigentlich?
Deutschlandfunk Kultur: Manche fordern ja auch schon, auch aus der Union, ein Ende der Willkommenskultur für den Wolf.
Eckhard Fuhr: Ja ja, die Willkommenskultur, der Begriff ist ja auch von der einen Debatte in die andere gewandert oder hin und her gewandert. – Obergrenzen usw. Das kann man bei anderen Begriffen, die da eine Rolle spielen auf den jeweiligen Themenfeldern, auch sehen. Also, es gibt politisch, psychologisch schon eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Migrations- und der Wolfsdebatte.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir jetzt mal ein bisschen in die Zukunft schauen oder in den Kaffeesatz blicken, was meinen Sie? Wird unsere Gesellschaft sich an dieses wilde ungezähmte Stück Natur namens Wolf gewöhnen? Oder werden wir wie unsere Vorfahren im Kriegszustand mit dieser Kreatur leben?
"Es muss auch eine Routine im Töten von Wölfen geben"
Eckhard Fuhr: Also, wir werden uns daran gewöhnen. Da bin ich sicher. Wir werden allerdings uns auch daran gewöhnen müssen, dass wir in bestimmten Fällen robuster und entschiedener auch gegen Wölfe vorgehen müssen. Das ist im Moment noch sehr schwierig. Wir haben jetzt in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein jeweils den Fall einer Abschlusserlaubnis eines Wolfes, der nicht für Menschen gefährlich geworden ist, sondern wiederholt, immer wieder eigentlich vorschriftsmäßige Herdenschutzmaßnahmen überwunden hat – mit erheblichen Schäden in Schleswig-Holstein. Und gegen diese Abschussgenehmigungen machen nun alle möglichen Verbände mobil. Und was sich da in den Sozialen Medien abspielt, da darf man gar nicht reingucken. Da wird’s einem ganz anders.
Das muss dann auch aufhören. Also, es muss – so hart das klingt – auch eine gewisse Routine im Töten von Wölfen geben, von wenigen Problemwölfen geben, wenn es insgesamt zum Frieden mit dem Wolf kommen soll.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.