Zwischen Resignation und Aufbegehren
Viele Argentinier sehen die Korruption in Alltag und Politik als eines der schwerwiegendsten Probleme ihres Landes an. Sie führt in Argentinien nicht nur dazu, dass öffentliche Gelder in dubiosen Taschen verschwinden. Die Korruption kann auch tragische Konsequenzen haben.
Buenos Aires, im Pendler-Bahnhof Once. Auf Bahnsteig eins haben sich an diesem Morgen zwei Dutzend Männer und Frauen in einem Halbkreis aufgestellt. Sie halten Fotos getöteter Angehöriger in die Höhe, und Plakate, auf denen das Wort Justicia – "Gerechtigkeit" - steht.
"Gerechtigkeit für die Toten und Verletzten des Zugunglücks im Once-Bahnhof, Gerechtigkeit!" – skandiert das Grüppchen. Die Szene, festgehalten von Fotografen und Kamerateams, wiederholt sich jeden Monat, immer am 22.
Denn am 22. Februar 2012 war ein klappriger Vorortzug ungebremst in den Kopfbahnhof eingefahren. Bei dem heftigen Aufprall starben 51 Menschen. Der 20-jährige Lucas wurde als letzter geborgen. Sein Foto prangt auf einem T-Shirt, das seine Mutter Maria Luján Rey trägt. Die dunkelhaarige, herzliche Argentinierin wurde nach dem Unglück zu einer Wortführerin der Familien der Opfer. Die 45-Jährige formuliert, wovon alle überzeugt sind:
"Die Züge wurden nicht instandgehalten. Der Waggon, in dem sich mein Sohn befand, war zuletzt 1996 einer Generalinspektion unterzogen worden. Der Zug war rostig und völlig überfüllt und der Prellbock im Bahnhof funktionierte nicht – all das führte zur Tragödie. Der Staat zahlte den privaten Betreibern der Bahnlinie jede Menge Geld, aber kontrollierte die Verwendung nicht. Statt für Instandhaltung gaben die Unternehmer es für Reisen, Geschenke, Weine und Firmenkreditkarten aus. Dafür liegen der Justiz Beweise vor."
Wegen des Zugunglücks im Once-Bahnhof hat in Argentiniens Hauptstadt im März vergangenen Jahres ein Gerichtsprozess begonnen. Auf der Anklagebank sitzen 29 Personen: die Unternehmer, die die Bahnlinie betrieben, und eine Reihe ehemaliger Funktionäre und Politiker, darunter zwei Ex-Verkehrs-Staatssekretäre. Maria Luján Rey, die Mutter des toten Lucas, und andere Angehörige treten als Kläger auf.
"Für uns steht fest, dass es zwischen Funktionären und Konzessionsinhabern eine illegale Vereinigung gab. Gegen einen der ehemaligen Verkehrs-Staatssekretäre laufen insgesamt sieben Verfahren wegen Korruption. Wir glauben, dass Funktionäre davon profitierten, dass die Bahnlinie systematisch heruntergewirtschaftet wurde. Sie ließen zu, dass sich andere an staatlichen Geldern bereicherten, und bekamen wahrscheinlich selbst etwas vom Kuchen ab. Das Zugunglück hat gezeigt, dass Korruption tötet."
Eine Anti-Regierungs-Demonstration in Buenos Aires, aufgebrachte Bürger trommeln auf Kochtöpfe. Mehrfach gingen Argentinier in den vergangenen Jahren auf die Straße, um gegen Missstände im Land zu protestieren.
"Ich bin gegen die Korruption, und gegen eine Justiz, die nichts dagegen unternimmt", empört sich eine Demonstrantin.
Korrupte Politiker kommen meist ungeschoren davon
Die grassierende Korruption wird fast immer genannt, wenn man Argentinier nach den gravierendsten Problemen ihrer Gesellschaft fragt. Im Korruptions-Wahrnehmungs-Ranking von Transparency International landete das südamerikanische Land im vergangenen Jahr weit unten: auf Platz 107 von 175. Die in Argentinien verbreitete Meinung ist, dass korrupte Politiker und Unternehmer meist ungeschoren davonkommen.
"Ohne Zweifel hat Argentinien ein sehr hohes Korruptions-Niveau. Und es gibt fast keine Verurteilungen",
bestätigt Agustín Carrara, Direktor von CIPCE, einer Nichtregierungsorganisation, die sich die Erforschung und Verhinderung der Wirtschaftskriminalität zur Aufgabe gemacht hat.
"Die Bundesjustiz Argentiniens, die für diese komplexen Verbrechen zuständig ist, lässt die Verantwortlichen von Korruption und Wirtschaftskriminalität meist straffrei davonkommen. Die Verfahren dauern Jahrzehnte. Sie sind nicht transparent, keiner weiß, was die Justiz eigentlich tut. Diese zeigt auch keine Absicht, das durch die Korruption geraubte Geld zurückbekommen, um es der Gesellschaft wiederzugeben."
Dreizehn Milliarden Dollar verlor der argentinische Staat zwischen 1980 und 2007 durch Wirtschaftsverbrechen, hat CIPCE ausgerechnet: Geld, das nicht in öffentliche Schulen, Krankenhäuser oder Sozialhilfen investiert werden konnte. Korruption schadet vor allem den Armen, betont Agustín Carrara. Und natürlich dem Vertrauen der Bürger in ihren Staat. Der Jurist zeichnet ein düsteres Bild der argentinischen Institutionen:
"Funktionäre, deren Aufgabe es ist, im Interesse der ganzen Gesellschaft zu handeln, dienen stattdessen den Interessen bestimmter wirtschaftlicher Akteure oder Gruppen. Wenn entschieden wird, wofür öffentliche Gelder ausgegeben werden, steht nicht das Gemeinwohl im Vordergrund, sondern jene mächtigen Privat-Interessen. Sie entscheiden, wo sich der Staat hinbewegt."
Ein Büro im Stadtparlament von Buenos Aires: Hier arbeitet seit 2013 der Abgeordnete Gustavo Vera. Auf einem Foto an der Wand sieht man den stämmigen, blonden 51-jährigen an der Seite von Papst Franziskus. Als dieser noch Erzbischof von Buenos Aires war, unterstützte er Veras Stiftung La Alameda, die gegen Sklavenarbeit und Menschenhandel kämpft.
Korruption in der Polizei
Ein Beispiel für Sklavenarbeit in Argentinien sind illegale Textilwerkstätten, in denen überwiegend bolivianische Einwanderer auf engem Raum zusammengepfercht leben und ausgebeutet werden. Die Stiftung La Alameda erstattete im vergangenen Jahr Anzeige wegen dreißig solcher Nähereien in Buenos Aires. Dass sie unbehelligt existieren können, liegt für Gustavo Vera an der Korruption in der Polizei:
"In jedem Kommissariat hängt eine Karte des Verbrechens. Aber nicht, um das Verbrechen zu bekämpfen, sondern um von den Verbrechern Schmiergeld zu kassieren. Auf dieser Karte befinden sich illegale Textilbetriebe, Drogenverkaufsplätze, Bordelle sowie Diskotheken, die Sicherheitsvorschriften nicht erfüllen. Die Polizei lässt kriminelle Aktivitäten zu und kassiert dafür Bestechungsgelder."
Im April dieses Jahres brach in einer illegalen Näherei in Buenos Aires ein Feuer aus – zwei Kinder von Textilarbeitern starben in den Flammen.
Sie tötet, die Korruption – sagt auch Gustavo Vera, so wie die Angehörigen der Opfer des Zugunglücks im Once-Bahnhof. Der streitbare Parlamentarier sieht in Argentinien das organisierte Verbrechen auf dem Vormarsch – und den Staat als Komplizen. Vera ist dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen:
"Die Komplizen sitzen in Parlament, Regierung und Justiz. Natürlich gibt es dort nicht nur Korrupte und Mafiosi, sondern auch ehrliche Menschen. Aber die Ehrlichen schweigen leider meist. In Argentinien verdienen Staatsangestellte viel Geld, und keiner will sein gutes Gehalt aufs Spiel setzen. Es ist schließlich schon vorgekommen, dass Funktionäre, die korrupte Strukturen anprangerten, unter Vorwänden entlassen wurden."
Vom Stadtparlament an den Stadtrand von Buenos Aires, in eine Industriesiedlung. In einem graffitibeschmierten Gebäude befindet sich ein kleiner Chemie-Betrieb, der Reinigungsmittel für Melkmaschinen herstellt. Zwei Angestellte in fleckiger Arbeitskluft arbeiten in einem düsteren Raum, auf Paletten sind Plastik-Kanister aufgereiht. Der joviale Chef trägt Jeans und ein Karohemd, beim heiklen Thema Korruption will er lieber anonym bleiben.
Vom Stadtparlament an den Stadtrand von Buenos Aires, in eine Industriesiedlung. In einem graffitibeschmierten Gebäude befindet sich ein kleiner Chemie-Betrieb, der Reinigungsmittel für Melkmaschinen herstellt. Zwei Angestellte in fleckiger Arbeitskluft arbeiten in einem düsteren Raum, auf Paletten sind Plastik-Kanister aufgereiht. Der joviale Chef trägt Jeans und ein Karohemd, beim heiklen Thema Korruption will er lieber anonym bleiben.
In einer nahegelegenen Gaststätte hat sich der 71-jährige Klein-Unternehmer einen Kaffee bestellt. Nicht über den Filz in der großen Politik und Unternehmenswelt möchte er sprechen, sondern über die Alltags-Korruption, an die er wie viele Argentinier seit jeher gewöhnt ist.
"Für Betriebe wie meinen ist es nicht einfach, die strengen gesetzlichen Anforderungen für eine Zulassung zu erfüllen. Ein großes Unternehmen hat es leichter, die Normen einzuhalten – oder auch zu umgehen. Aber kleine Firmen haben keine andere Wahl, als die Vorschriften zu befolgen. Und dabei kommt man mit der Korruption in der Stadtverwaltung in Berührung. Nachdem man alle geforderten Unterlagen pünktlich abgeliefert hat, wird man hingehalten. Da fehlt noch etwas, heißt es. Oder: Der Chef hat immer noch nicht unterschrieben. Und dann wird einem signalisiert, dass man mit einer Summe X den Vorgang beschleunigen kann."
Der Inhaber des Chemie-Betriebs macht kein Hehl daraus: Oft hat er das Spiel mitgespielt.
"Man weiß schon, wo man anklopfen muss: beim Chef. In den meisten Behörden gibt es eine Art Kasse, in die Bestechungsgelder fließen. Der Inhalt wird zwischen allen Mitarbeitern aufgeteilt, die Korruption verteilt sich auf viele Schultern. Das abzuschaffen kann noch lange dauern."
Zur Korruption gehören immer zwei Seiten, weiß der Besitzer des Familienbetriebs. Er und sein Sohn haben inzwischen beschlossen, dass sie die Bürokratie nicht mehr schmieren wollen. Bei komplizierten behördlichen Anträgen und Verfahren beauftragen sie nun einen Experten – so kommt man auch ans Ziel, meint der Argentinier. Und er sagt noch etwas: um der Klein-Korruption ein Ende zu bereiten, müsse der Staat bei der großen Korruption, der von Politikern und Unternehmern, anfangen.
Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität
Das Gebäude der argentinischen Generalstaatsanwaltschaft befindet sich in einem Altbau in einer der engen Straßen des Stadtzentrums von Buenos Aires. Hier arbeitet der junge Staatsanwalt Carlos Gonella. Seine Mission seit zweieinhalb Jahren: der Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität.
"Die Gesellschaft nimmt wahr, dass die Mächtigen immer ungeschoren davonkommen. Dass ein Unternehmer, der Millionen hinterzieht, von der Justiz nichts zu befürchten hat, bis sein Delikt irgendwann verjährt. Unsere Aufgabe ist, zu signalisieren, dass wir sehr wohl gegen die Korruption in Argentinien vorgehen wollen."
Carlos Gonella leitet die Sonder-Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und Geldwäsche, die 2012 von Generalstaatsanwältin Alejandra Gils Carbó ins Leben gerufen wurde – einer Juristin mit politischer Nähe zu Präsidentin Cristina Kirchner.
Die Kirchner-Regierung plagen, ähnlich wie die Vorgänger-Regierungen, zahlreiche Korruptionsvorwürfe. Mit der Schaffung der Sonder-Staatsanwaltschaft will sie offenbar beweisen, dass sie das Problem der Korruption ernst nimmt. Die Behörde ermittelt aufgrund von Anzeigen, aber auch in Eigeninitiative. Und sie unterstützt zurzeit 150 Staatsanwälte im ganzen Land, die mit Korruptionsfällen befasst sind.
"Die argentinische Justiz hat nie großes Interesse daran gezeigt, die Wirtschaftskriminalität zu verfolgen. Die Gefängnisse sind zu mehr als neunzig Prozent voll mit armen Leuten. Traditionell wenden Richter und Staatsanwälte das Gesetz lieber auf die benachteiligten Schichten an, als sich mit den Mächtigen anzulegen: Unternehmen, Banken oder korrupten Politikern."
Unter den Staatsanwälten, denen Gonellas Behörde zuarbeitet, ist einer, der gegen Cristina Kirchners amtierenden Vize-Präsidenten Amado Boudou ermittelt. Boudou ist wohl der argentinische Politiker mit dem korruptesten Image. Gegen ihn laufen diverse Verfahren, unter anderem wegen Bereicherung und Bestechlichkeit. Es gilt als wahrscheinlich, dass Boudou nach der Präsidentschaftswahl im Oktober auf der Anklagebank Platz nehmen muss.
"Wenn eine Regierung abtritt, ist es in der Regel einfacher, ihre korrupten Mitglieder vor Gericht zu bringen. Früherer Regierungen."
sagt Agustín Carrara vom unabhängigen Anti-Korruptions-Zentrum CIPCE. Die strukturellen Veränderungen in Argentiniens Justiz erwartet er von der Strafprozessreform, die das Parlament unlängst beschlossen hat und die im kommenden Jahr in Kraft treten soll.
Applaus ist in Argentinien eine Form, die Toten zu ehren. Einmal im Monat klatschen die Angehörigen im Once-Bahnhof für die Opfer des Zugunglücks. Und zweimal pro Woche sitzt ein Teil der Gruppe in dem Gerichtssaal, in dem der Prozess gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen der Katastrophe stattfindet. Voraussichtlich noch in diesem Jahr soll das Urteil gesprochen werden, die Justiz hat ungewöhnlich schnell gearbeitet. María Luján Rey, die Mutter des getöteten Lucas, erfüllt das mit Genugtuung.
"Es war wirklich traurig, in den Tagen nach der Tragödie zu spüren, dass die meisten Argentinier keinerlei Glauben und Vertrauen in ihre Justiz haben. Wir Familien der Opfer aber waren überzeugt, dass die Justiz ihre Arbeit tun muss und dass wir sie begleiten müssen."
Maria Luján Rey und die anderen Angehörigen sind überzeugt: Es wird auch ihrem Druck zu verdanken sein, wenn Bahnlinien-Betreiber und Funktionäre für ihr fahrlässiges und korruptes Verhalten bestraft werden.
"Die Argentinier glauben, Politiker oder Beamter zu sein bedeute zwangsläufig, sich zu bereichern, seine Arbeit nicht zu tun und keine Strafe fürchten zu müssen. Von dieser Idee müssen wir uns verabschieden! Es darf nie wieder eine vermeidbare Tragödie in unserem Land geschehen – die Korruption darf nie wieder Menschenleben fordern!"