Die Armut in Deutschland nimmt ab – ein Grund zur Zufriedenheit?

Von Klaus-Dieter Kottnik · 15.02.2012
Wir haben jetzt und auch in Zukunft genügend Ressourcen, um jedem Kind ein angemessenes materielles Leben zu ermöglichen. Voraussetzung dafür wäre, dass jeder Bürger und jede Bürgerin ihrem Vermögen entsprechend zum Allgemeinwohl beitragen, meint der Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik.
Vor wenigen Wochen war in Berlin wieder die Fashion Week. Ich befand mich an der Straße Unter den Linden, als mir im Schnittpunkt zwischen Marienkirche, Dom und Finkenwerderscher Kirche eine schwarze Luxuslimousine entgegenkam, auf der ich eine bemerkenswerte Aufschrift entdeckte. Es handelte sich um eine amerikanische Modekultmarke, die auf Deutsch mit den Worten "wahre Religion" wiedergegeben wird.

Mode als wahre Religion? Nicht dass ich etwas gegen interessante Mode hätte. Im Gegenteil, Kreativität macht mir Freude. Aber über diese Modemarke kam ich doch ins Nachdenken. Religion: das ist die letzte Rückbindung, die ein Mensch hat. "Wo Dein Herz ist, da ist Dein Gott." So hat es Martin Luther einst erklärt. Diese Modemarke spiegelt wider: die letzte und wahre Abhängigkeit für Menschen liegt in Wahrheit im Materiellen.

Und tatsächlich ist dies ja auch Ausdruck eines weit um sich greifenden Lebensgefühls. Dann, wenn es vorne und hinten nicht reicht, dann wird das Materielle zum absolut einzigen, welches das Leben bestimmt. Die Mietkosten steigen, die Energiekosten werden höher, mehr Eigenbeiträge sind zu leisten.

Bei Familien oder gar Alleinerziehenden mit Arbeitslosengeld II kommen Erhöhungen von Kindergeld und andere Leistungen gar nicht an. Die tägliche Sorge um das für das Leben ausreichende Materielle bestimmt den Alltag. Und wenn es nicht mehr reicht, dann wird das Materielle zum Feind. Es nimmt ganz und gar in Beschlag.

Aber nicht nur dort. Die Modemarke auf der Luxuslimousine gehört nicht zu den billigsten. Die Orientierung am Sichtbaren, Vorzeigbaren, ja Materiellen hat weit um sich gegriffen. Die Bewertung von Menschen erfolgt an dem, was man von ihm wahrnimmt. Sie ist für die, die materiell abgehängt sind, besonders brutal.

Es ist richtig, deshalb politisch zuerst darauf zu achten, dass ein Leben für jedermann – auf einem gewissen Niveau - möglich wird. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro für alle Menschen, die durch Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen, das unterste Niveau des Einkommens darstellt. Alles andere ist zynisch.

Auch müssen sämtliche Türen zur Bildung für alle Kinder offenstehen. Kindertagesstätten müssen zu frühen Bildungszentren werden, die schulische Förderung vor allem die bildungsferneren Kinder ansprechen. Musik, Kino, Theater, Konzert dürfen nicht für viele junge Leute unentdeckte Lebensbereiche bleiben.

Das von der Bundesregierung verabschiedete Bildungspaket mit Gutscheinen für Hartz IV Kinder ist nach meiner Auffassung überhaupt nicht ausreichend. Es geht darum, freie Bildungsangebote für alle Kinder zu ermöglichen. Beim Bildungspaket steht der Sportverein mit dem Musikunterricht in Konkurrenz. Das darf nicht sein. Bei der Einführung standen die rein materiellen Erfordernisse im Vordergrund, und nicht das, was gut und bedeutsam ist für die Kinder und ihre gute Zukunft.

Weil alles auf das Materielle hin ausgerichtet ist, zieht sich eine Spur des Glaubens an die wahre Religion des Materiellen durch unsere Gesellschaft. Das verschiebt die Schwerpunkte. Wir haben jetzt und auch in Zukunft genügend Ressourcen, um jedem Kind ein angemessenes materielles Leben zu ermöglichen. Voraussetzung dafür wäre, dass jeder Bürger und jede Bürgerin ihrem Vermögen entsprechend zum Allgemeinwohl beitragen, wie Adam Smith einst das Äquivalenzprinzip erläuterte. Wir sind in Deutschland weit davon entfernt.

Die wahre Religion ist die, die den menschlichen Zusammenhalt fördert. Das Materielle ist nötig. Wichtig ist mir eine veränderte Werthaltung. Da mag für die einen die Orientierung an ihrer Religion wieder werthaltig werden. Für andere an einer der Philosophien, die unsere Kultur hervorgebracht hat. Die Orientierung ausschließlich am Materiellen ist ein Irrweg. Wir sind ihn schon viel zu lang gegangen.

Klaus-Dieter Kottnik, evangelischer Pfarrer, geboren 1952 in Stuttgart, arbeitet in Berlin als Prediger, Mediator und Coach. Er berät die Polnische Diakonie und ist Mitglied verschiedener Kuratorien. Von 2007 bis 2010 war er Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und in dieser Zeit auch Vizepräsident von Eurodiakonia. Zuvor leitete er als Vorstandsvorsitzender die "Diakonie Stetten" bei Stuttgart und war Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe.

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Klaus-Dieter Kottnik© Diakonisches Werk der EKD
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