Sabine Scholl: Das Gesetz des Dschungels
Secession Verlag, Zürich 2018, 320 Seiten, 24 Euro
Von Provinz zu Provinz auf der Suche nach Heimat
Wie Strandgut sammelt Sabine Scholl Geschichten und Geschichte der von Kolonialismus, Krisen und Kriegen geprägten Insel Sri Lanka im Indischen Ozean, zieht feine Linien zwischen ihren Protagonisten aus dem Gestern bis ins Heute.
Frank Meyer: Eine Frau lebt in der Provinz in Oberösterreich, aber sie fällt aus dem Rahmen, weil sie anders aussieht. Ihre Haut ist zu dunkel, ihre Haare sind auch zu dunkel, ihre Nase ist zu groß, ihre Stimme ist zu rau. Veronika heißt diese Frau, sie ist Mitte 30, sie arbeitet als Krankenschwester, eine Tochter zieht sie groß, alleine macht sie das, und um diese Frau und ihr Anderssein geht es in dem Roman "Das Gesetz des Dschungels" von Sabine Scholl. Die Autorin ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Scholl!
Sabine Scholl: Guten Morgen!
Meyer: Diese Frau Veronika, die hat lange nicht gewusst, was es auf sich hat mit ihrem Andersaussehen, dann Oberösterreich. Warum hat sie das denn nicht gewusst, Ihre Figur?
Scholl: Ja, weil ihre Mutter, die als junges Mädchen nach London gegangen ist, um dort zu arbeiten, einen Migranten aus Sri Lanka, also damals noch Ceylon, kennengelernt hat, und eigentlich war das eine große Liebesgeschichte und sie wurde schwanger, aber dann ist dieser Mann verschwunden, und sie musste dann schwanger zurück, als - so wie man damals sagte - ledige Mutter auf das Land in Österreich, und das war ja, erstens, überhaupt eine unverheiratete Mutter zu sein, eine Schande, eine Schwierigkeit, sich danach ein seriöses Leben aufzubauen, und dann noch dazu ein Kind von einem offensichtlich Fremden. Da hat sie beschlossen, sehr früh das zu vergessen und einfach eine andere, eine neue Geschichte und eine neue Familie darüberzulegen, und deshalb hat sie sich einfach auch immer geweigert, dem Kind, dem Mädchen zu sagen, wer der Vater ist und wo er ist und warum er nicht da ist.
Annäherung an Unbekanntes: den Vater und das Land
Meyer: Und Veronika erfährt das dann sehr viel später, als sie schon erwachsen ist, eigentlich auch aus Zufall, dass ihr Vater eben aus Sri Lanka kommt. Was bedeutet es für diese Frau, dass sie es dann weiß, dass es jetzt einen Grund gibt, eine Erklärung, warum sie anders als so viele andere dort aussieht?
Scholl: Ja, sie hat mit zwölf Jahren in einem Streit von ihrem Stiefvater erfahren, dass sie nicht die Tochter des Stiefvaters ist, was ihre Mutter ihr immer eingeredet hat, und hat sich seitdem eigentlich auf die Suche begeben, ist aber nur auf den Namen des Mannes gestoßen, hat ihn selbst nicht auffinden können, und dann mit 35 Jahren erfährt sie von einem Ehepaar, das dort Urlaub gemacht hatte, dass dieser Mann, dass sie diesen Mann, diesen Vater, dort getroffen hatten und dass er sie gerne kennenlernen möchte. Damit verändert sich ihr Leben, weil sie diese Leere, die sie bis jetzt gespürt hat, diese Erklärung, die ihr gefehlt hat, was sie eigentlich noch sein könnte, zu dem Leben, das sie sich inzwischen aufgebaut hatte, dass sie da vielleicht Erklärungen findet.
Meyer: Ihr Roman erzählt ja über weite Strecken, wie sich diese Veronika anzunähern versucht - einmal an den Vater, den sie so lange eben nicht kannte und dann auch an dieses Land, Sri Lanka, aus dem der Vater kommt. Was sucht sie da eigentlich, was verspricht sie sich von diesem Annäherungsversuch?
Scholl: Ich glaube, sie verspricht sich eine neue Facette, sich selbst auch neu kennenzulernen oder auch gewisse Dinge, die sie immer schon unterschieden haben von ihrer Umgebung, von ihren anderen Geschwistern, besser zu verstehen, indem sie zum Beispiel lernt, wie die Leute miteinander dort umgehen, welchen Zeitbegriff sie dort haben, der ja doch sehr verschieden ist zu dem, was im Westen herrscht. Sie findet sich da zum Teil schon, also sie fühlt sich wohl, und sie versucht, wirklich mit allen Mitteln auch, eine Beziehung zu diesem Vater aufzubauen, der aber im Grunde auch sich selbst relativ entfremdet ist und auch eben Sri Lanka entfremdet ist, weil er die größte Zeit seines Lebens als Migrant in London verbracht hat.
Zwei verschiedene Welten
Meyer: Sie erzählen überhaupt, dass diese Annäherung, bei der Veronika viele verschiedene Wege geht. Also es geht um den Vater, es geht um das Rumreisen in dem Land, um den Versuch, sich auch mit den Traditionen dort auseinanderzusetzen. Sie hat dann irgendwann auch einen Geliebten aus Sri Lanka, von dem sie sich erstaunlich viel Unfreundlichkeit und Missachtung sogar gefallen lässt. Also viele verschiedene Annäherungsversuche, aber eigentlich funktionieren die alle nicht, oder? Also sowas wie eine zweite Heimat in Sri Lanka findet diese Frau nicht, oder?
Scholl: Nein, das kann sie auch nicht, weil eigentlich diese beiden Welten doch sehr verschieden sind, und durch diese Ungleichheit, die soziale und geografische Ungleichheit, die zwischen den beiden Ländern - ein westliches Land wie Österreich und Sri Lanka - besteht, durch eine einzelne Person nicht auszugleichen sind. Und das ist, glaube ich, das Hauptproblem, das sie trotzdem immer als Mensch gesehen wird mit großen Ressourcen, und diese Gefahr auch, ausgenutzt zu werden von den Leuten, denen es einfach auch schlechter geht, ist ständig präsent.
Meyer: Man muss auch sagen, dass Sie Sri Lanka jetzt nicht als exotisches, freundliches Paradies schildern, sondern schon als Land voller Ungerechtigkeit, voller Armut, auch voller Willkür und Gewalt, auch auf der politischen Ebene. Tun sie das, weil Sie sich da einfach der Wahrheit verpflichtet fühlen?
Scholl: Ja. Ich kann eigentlich nicht über ein Land schreiben, ohne es wirklich auch historisch und politisch zu analysieren oder für mich verständlich zu machen. Also es ist weniger, dass ich mir denke: 'Okay, ich muss jetzt unbedingt alle darüber aufklären, wie das so ist.' Sondern…: Ich setze mich dem ja aus. Also ich fahre ja dann, wie in diesem Fall, mit der Hauptperson dorthin und mache mit ihr diese Reise, recherchiere sozusagen auch den Weg des Vaters, der mittlerweile dann auch 'mal verschwunden ist und sich eigentlich wieder aus dem Leben der Hauptperson entfernt. Ich will dann das, was uns und mir geschieht, einfach verstehen, und da helfen mir dann solche Erklärungen.
Untereilungen und Unterscheidungen, um auszugrenzen
Meyer: Sie sagen, dass Sie hingefahren sind mit der Hauptperson. Ist das wirklich real: Also gibt es eine Frau, die Sie kennen, die eine ähnliche Familienkonstellation hat und die Sie selbst begleitet haben bei Ihrer Recherche in Sri Lanka?
Scholl: Ja, genau. Also ich kenne sie seit… Wir sind gemeinsam aufgewachsen, praktisch in demselben Ort, haben ähnliche Wege gehabt, aber parallel gelaufene Wege. Wir haben uns erst kennengelernt, als mein Bruder sie kennengelernt hat, und sie ist sozusagen meine Schwägerin.
Meyer: Und wenn man Texte über Sie liest, Sabine Scholl, dann liest man, dass Sie auf Literatur, auf Romane, wie Sie denn jetzt vorgelegt haben, mit "Das Gesetz des Dschungels", spezialisiert seien gewissermaßen. Transnationale Literatur, das sei etwas, was Sie vor allem schreiben. Das Buch spielt ja eben in Österreich, in Sri Lanka, zum Teil auch in London. Wie sind Sie denn zu dieser Spezialisierung gekommen?
Scholl: Das hängt, glaube ich, direkt mit meinem Aufwachsen zusammen. Ich bin ja richtig, richtig auf dem Land aufgewachsen, aber dort inmitten von Menschen, die nicht so ganz in die Gesellschaft gepasst haben. Also ich habe sehr früh erfahren, dass es so Unterteilungen und Unterscheidungen und Bewertungen von Menschen gibt, das heißt, dass ein Mensch nicht nur in einem System aufwächst, sondern dass dieses System, das gewissen Regeln gehorcht … und dass auch gewisse Menschen zu diesen Regeln nicht passen. Das hat mich, glaube ich, immer dann auf Wege geführt, immer wieder solche Menschen kennenzulernen, die mehr als ein System, mehr als eine Sprache sprechen, mehr als einer Kultur zugehörig sind, und ich bin auf erstaunlich viele Menschen dieser Art gestoßen, auch jetzt sozusagen in Provinzorten. Warum ich darüber schreibe, ist, weil ich zeigen will, dass es dieses Fremde, das jetzt immer so als angstmachende Erscheinung heraufbeschworen wird, schon lange und immer schon gegeben hat und dass es immer wieder schon Wege gegeben hat, wie man damit einfach ganz gut zurechtgekommen ist.
Ausgegrenzt wird, wer nicht so funktioniert wie die anderen
Meyer: Wenn wir es noch mal konkreter von Ihren erfahren können: Sie haben auch im letzten Jahr einen Essay bei "Zeit Online" veröffentlicht zu den Wahlerfolgen der Rechten in Österreich, besonders eben auf dem Land. Da haben Sie auch geschrieben über die lange Tradition der Ausgrenzung da auf dem Land. Was oder wer wurde denn da alles ausgegrenzt traditionell?
Scholl: Ja, alle, die nicht funktioniert haben, so wie das … Also ich muss dazu sagen, es gibt auch tatsächlich sehr viele Reste von Nazi-Ideologie, die am Land natürlich sich noch viel stärker gehalten hat, wo die Strukturen einfach noch viel tiefer sich eingegraben haben und in so einer Art Naturbegriff natürlich auch noch hineinmünden. Bei uns war es konkret ein ehemaliges Armenhaus, und da sind Geflüchtete gewesen, da gab es Gastarbeiter, da gab es eben … oder auch jüngere Migranten, die aus Afrika gekommen waren und aus der Türkei, da gab es Sozialhilfefamilien. Die haben sich da alle in diesem Haus gesammelt, und wir haben gleich nebenan gewohnt, und das war tatsächlich so eine Art verrufenes Gebiet, wo man gesagt hat, ah, dort kommst du her, und man wusste gleich, das war jetzt kein Kompliment.
Meyer: Und erleben Sie jetzt in der Gegenwart in Österreich auch da auf dem Land, wenn Sie mal wieder da sind, dass diese Tradition der Ausgrenzung im Moment angesichts der Flüchtlingsfrage sozusagen reaktiviert wird?
Scholl: Also ich glaube, dass es tatsächlich im alltäglichen Umgang miteinander sehr viel besser aussieht, wie in dem, was die Anhänger der sehr Rechten vorgeben zu sein. Also das ist ja auch so etwas, so eine … Es ist eine Propaganda, die da verwendet wird, das sind Worte, Schlagworte, mit denen die Leute so eingefangen werden und denen als Erklärung dargereicht wird für irgendwelche Missstände, die es sicher auch gibt, aber ich habe das Gefühl, so im Kleinen, also auch im familiären Kreis oder auch im dörflichen Kreis, werden immer Wege gefunden, um damit umzugehen.
Irgendwie damit zurecht kommen
Meyer: Sie haben in diesem Essay im vergangenen Jahr auch geschrieben, wenn es so viele starke und medial vermittelte Erzählungen gäbe von der Ausgrenzung, also wie stark die Ausgrenzung ist, dann müsste man auch andere Geschichten dagegensetzen, andere Geschichten stark machen. Verstehen Sie Ihren Roman auch so, diesen Roman, "Das Gesetz des Dschungels", als so eine Gegenerzählung?
Scholl: Absolut. Was ich zeigen will, ist, dass es immer schon möglich war, auch mit fremderen Elementen umzugehen und überhaupt das Ganze sozusagen von der Aktualität wegzubringen zu einem allgemeinen Narrativ. Ich meine: Fluchtbewegungen gibt es seit Jahrhunderten, und sogar im 20. Jahrhundert gab es - was weiß ich - die Ungarnflüchtlinge, nach dem Krieg Vertriebene etc., und die Gesellschaft hat es immer geschafft, irgendwie damit zurechtzukommen. Warum nicht auch jetzt?
Meyer: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
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