Wie Zugfahren attraktiver werden kann
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Veraltete Infrastruktur, Verspätungen, wenig Komfort: Um die Klimaziele zu erreichen, führt an einer Grundsanierung der Deutschen Bahn kein Weg vorbei. Bahn und Politik geben sich zuversichtlich. Die Schweiz ist um Jahrzehnte weiter.
Die Zukunft der Bahn wartet hinter der Tür einer unscheinbaren Halle in einem grauen Gewerbegebiet vor den Toren Frankfurts:
"Wir stehen jetzt hier vor dem Ideenzug", sagt Andreas Schilling. "Wir würden jetzt entspannt einmal durch den ganzen Zug laufen. Der Zug hat die Größe von einem richtigen Doppelstockwagen, ist aber in einzelnen Modulen aufgebaut, sodass wir ihn auch transportieren können."
Mehr als nur die Einheitsbestuhlung
Von außen sieht der "Ideenzug" aus wie ein ganz normaler Doppelstockwagen der Bahn. Nur die Räder fehlen. Innen aber hat er wenig zu tun mit dem Einheitsdesign im aktuellen Bahnverkehr. Andreas Schilling betritt den Wagen über eine kleine Rampe. Er ist zuständig für das Marketing bei DB Regio, dem Nahverkehr der Deutschen Bahn. Der "Ideenzug", sagt Schilling, sei das Ergebnis jahrelanger Entwicklungen – und eines schwierigen Balanceakts.
"Wir müssen eben die Züge so konzipieren, dass wir sowohl den Menschen gerecht werden, die eine Stunde bei uns im Zug sind, als auch den Menschen, die nur eine Station fahren. Das ist die Gratwanderung: Wir glauben eben, dass da mehr geht als die Einheitsbestuhlung, die wir heute oft haben."
Da ist zum Beispiel der Fitnessraum, in dem ein Hometrainer vor einem großen Bildschirm mit Landschaftsmotiven aufgebaut ist. Treibende Beats aus einem Lautsprecher in der Decke sollen den Reisenden zum Training motivieren.
"Und dann haben wir gesagt: OK, wir haben eben auch auf längeren Strecken Pendler, die sagen: Ich verbringe anderthalb Stunden im Zug, und ich mache meine Sporteinheit hier im Zug und bin bereit, das Thema vorzubuchen. Da haben wir hier auch ein Fitnessfahrrad mit drinnen, wo man eben auch die Strecke sieht."
Ein Rückzugsort fürs konzentrierte Arbeiten
Doch die Bahn hat auch an Reisende gedacht, die es lieber etwas ruhiger haben.
"Hier haben wir ein Modul, das eine totale Innovation für einen Nahverkehrszug, aber überhaupt für einen Zug in Deutschland wäre: Das ist quasi eine Einzelkabine."
Die eher an die First Class im Flugzeug als an den Regionalverkehr der Deutschen Bahn erinnert: Hinter einer Glastür ist ein breiter Ledersessel zu sehen, davor ein großer Bildschirm.
"Die Idee dabei ist, diese Einzelkabine kann ich vorher buchen, die kostet dann auch zusätzlich Geld. Dafür habe ich hier einen sehr bequemen Sitz. Man kann das zumachen, man kann hier reingehen. Man ist dann ganz für sich und kann die Scheibe für sich milchig machen. Dann kann man hier ganz in Ruhe arbeiten."
Multifunktionsfahrzeug für die individualisierte Gesellschaft
Schon im nächsten Jahr soll dieses Modul im Nahverkehr in Bayern erprobt werden. Aber Schilling ist längst noch nicht fertig mit seinen Ideen für die Mobilität der Zukunft. Er ist schon zum nächsten Modul gewandert.
"Wir wollen weg davon, dass wir nur irgendwie einen Haltegriff irgendwo haben. Wir haben hier ganz viele Sitz-Steh-Gelegenheiten mit Stehstützen, an denen Sie sich anlehnen können, wo Sie ein bisschen draufsitzen können, die es auch ermöglichen, dass relativ viele Menschen in einer kommunikativen Zone unterkommen."
Denn auch darum geht es: Mit schmalen, gepolsterten Sitzbalken viele Menschen auf wenig Raum komfortabel transportieren zu können.
"In Bayern, wo wir's erproben werden, nennt sich das dann Stammtisch. Da haben wir einen schmalen Tisch mit dabei, da können Menschen auf beiden Seiten sitzen. Und die Menschen in unseren Zügen haben ja alle ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Hier können sich Pendler, die immer die gleiche Strecke fahren, nach der Arbeit gut unterhalten."
Glaubt man Andreas Schilling, dann wird die Bahn der Zukunft so etwas wie ein Multifunktionsfahrzeug für die individualisierte Gesellschaft sein – mit verschiedenen Angeboten für dauergestresste Manager ebenso wie für Pendler in Feierabendlaune.
Die Realität sieht etwas anders aus
Für seinen Bahntest befragt der Verkehrsclub Deutschland – eine Art ökologischer Gegenspieler des ADAC – regelmäßig Zugreisende nach den Dingen, die ihnen bei der Bahnfahrt wichtig sind. VCD-Bahnreferent Philipp Kosok nennt die fünf meistgenannten Merkmale:
"Die Fahrtdauer, das sind die Direktverbindungen, die Höhe der Ticketpreise, die Pünktlichkeit der Züge und die Klimaverträglichkeit der Bahn. In Sachen Klimaverträglichkeit stellen die Fahrgäste der Bahn schon heute ein sehr gutes Zeugnis aus, in Sachen Fahrtdauer stellen sie der Bahn auch ein relativ gutes Zeugnis aus."
Bei den anderen Themen sind die Zugreisenden laut aktuellem VCD-Bahntest allerdings deutlich kritischer.
"Die großen Baustellen bleiben das Angebot, die Höhe der Ticketpreise und die Pünktlichkeit der Züge. Die Bahn ist ja anhaltend unpünktlich im Fernverkehr. Das liegt daran, dass das Schienennetz heute überaltert ist und dass es mit der wachsenden Nachfrage der Fahrgäste nicht mitgewachsen ist. Deswegen müssen wir mehr in das Netz investieren, wir brauchen ein besseres Angebot. Das sehen wir in Zukunft vor allem mit dem Deutschland-Takt gegeben."
Deutlich mehr Anschlusszüge bis 2030 geplant
Der Deutschland-Takt ist das Konzept der Stunde, wenn es um die ökologische Verkehrswende in der Bundesrepublik geht. Die Idee soll Bahnreisen viel einfacher und damit kundenfreundlicher machen. Im Kern geht es darum, dass der Bahnverkehr massiv ausgebaut wird. Und zwar nach einem einfachen System: Die Bahnhöfe sollen in Zukunft im regelmäßigen Takt zur immer gleichen Minutenzeit angesteuert werden.
Der Hauptbahnhof von Frankfurt/Main ist einer der verkehrsreichsten Bahnhöfe in Deutschland. Ihm würde als Knotenbahnhof auch im Deutschland-Takt eine wichtige Funktion zukommen. Achim Stauß, Konzernsprecher der Deutschen Bahn:
"Der Grundgedanke des Deutschland-Taktes besteht ja auch darin: Zu festen, merkbaren Zeiten auch eine bessere Umsteigesituation zu schaffen. Der Fernzug kommt an und der Fahrgast weiß: Wenn ich jetzt an meinem Knotenbahnhof aussteige, dann habe ich in alle Himmelsrichtungen in den nächsten fünf bis zehn Minuten einen Anschlusszug."
Mit dem Deutschland-Takt, so das Ziel der Bundesregierung, soll sich bis 2030 die Zahl der Reisenden im Fernverkehr verdoppeln. Doch dann kam Corona – und die Fahrgastzahlen brachen rapide ein. Noch immer liege die Nachfrage deutlich unter dem Vorjahresniveau, so der Konzernsprecher. Doch Achim Stauß bleibt optimistisch.
"Perspektivisch gehen wir aber fest davon aus, dass wir die Fahrgastzahlen weiter steigern werden, denn der Trend zum umweltgerechten Reisen ist da und die Digitalisierung der Gesellschaft hat sich noch mal verstärkt jetzt in der Pandemie und digitale Gesellschaften sind auch mobile Gesellschaften, von diesem Trend werden wir profitieren."
Die Infrastruktur muss mitwachsen
Und auch die Klimadebatte, während der Pandemie etwas aus dem Blick geraten, dürfte mit großer Wucht zurückkommen. Genau dafür rüstet sich die Bahn mit dem Deutschland-Takt. Deshalb will sie die 30 größten deutschen Städte im 30-Minuten-Takt miteinander verbinden.
Um das ambitionierte Projekt verwirklichen zu können, sind hohe Investitionen notwendig – in das marode Schienennetz, aber auch in die Knotenbahnhöfe, an denen die Reisenden nicht wie heute über die Stunde verteilt, sondern wellenähnlich zur gleichen Zeit zum Umstieg ankommen werden. Um diese Herausforderungen bewältigen zu können, haben sich die Bundesregierung und die Bahn auf ein Investitionspaket für die bestehende Infrastruktur von 86 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre geeinigt.
"Da brauchen wir mehr Gleise, mehr Weichen, mehr Infrastruktur. Da müssen wir ein bisschen was nachholen. Jetzt kann man immer Schuldige suchen. Aber wir suchen lieber Lösungen, schauen nach vorne, und haben da auch das klare Signal vom Eigentümer, vom Bund, dass uns für solche Baumaßnahmen deutlich mehr Geld zur Verfügung steht. Und es ist auch der erklärte Wille der Politik, die Verkehrswende mithilfe der Bahn zu schaffen. Sie muss im Güterverkehr und im Personenbahnverkehr sich auf der Schiene abspielen."
Die Schweiz ist weiter – um Jahrzehnte
Eine Erkenntnis, zu der die Schweiz schon vor Jahrzehnten gekommen ist.
Werner Stohler, ein distinguierter älterer Herr mit kurzen, weißen Haaren und einem dunkelblauen Anzug mit Einstecktuch, sitzt in einem Café am Zürcher Hauptbahnhof. In den 1960er-Jahren habe auch in der Schweiz das Auto den Bahnverkehr immer weiter verdrängt, erinnert sich der pensionierte Verkehrsplaner. Deshalb hätten einige seiner Berufskollegen damals ein neues Konzept entwickelt.
"Und diese kleine, junge Truppe von Leuten hat gesagt: Wir müssen die Bahn sehr viel einfacher machen in ihrer Nutzung. Und ein Element, um die Bahn einfach zu nutzen, war der Taktfahrplan mit seinen regelmäßig stündlich gleichen Abfahrten."
Wie das aussieht, kann man am besten vom Prime Tower beobachten, einem mehr als 120 Meter hohen Büroturm an der S-Bahn-Station Hardbrücke, nur wenige Hundert Meter vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt.
In der obersten Etage ist ein Panorama-Restaurant untergebracht. Weit hinten ist die historische Halle des Zürcher Hauptbahnhofs zu erkennen, davor ein großes Weichenfeld, "weil ja alle Gleise möglichst von allen Seiten zugänglich sein sollen. Im Laufe der Jahre hat man begonnen, die Gleise zu spezialisieren."
Vom Panorama-Restaurant sehen die vielen verschlungenen Gleise mit ihren Brücken, Tunneln und Weichen aus wie der Traum eines überambitionierten Modellbahn-Bastlers. Im Hintergrund leuchtet blau der Zürichsee.
Dem Bahnhof beim Atmen zusehen
Werner Stohler hat jahrelang selbst Verkehrsbetriebe zum Thema Taktfahrplan beraten. Wenn er hier oben sitzt, dann kann er zusehen, wie der Bahnhof atmet, mit einem großen Atemzug alle 30 Minuten, denn der Bahnhof hört auf den Halbstundentakt. Kurz vor der halben Stunde fahren die Züge ein, der Bahnhof füllt sich, die Passagiere wechseln zwischen den Gleisen und Bahnen. Kurz nach der halben Stunde fahren sämtliche Züge wieder ab, am Bahnhof wird es ruhig.
"Jetzt ist es kurz nach halb, jetzt fahren die letzten Fernzüge noch aus, und in etwa zehn Minuten können wir dann zuschauen wie in der Gegenrichtung wiederum die Fernzüge aus allen Richtungen in die Halle einfahren."
Und während Stohler noch auf seinen Espresso wartet und sich das Gleisfeld immer weiter leert, erklärt er das komplexe System der Abfahrten.
"Wenn die Welle losgeht, dann fährt zu Minute 00 der Baseler, zur Minute 02 der Berner IC, zur Minute 04 der Bieler IC und der Zuger Interregio, dann zur Minute 05 gehts nach Schaffhausen. Und so gehts in der Minutentaktfolge weiter, bis zur Minute 12 der letzte Interregio nach Chur fährt. Dann ist die Halle leer."
Eine planerische Meisterleistung
Knapp zehn Minuten später kommen die ersten Züge ins Bild, die gemächlich Richtung Hauptbahnhof zu kriechen scheinen. Jetzt, bei der Einfahrt, wiederholt sich der Ablauf im Zwei-Minuten-Takt in umgekehrter Reihenfolge. Eine technische und planerische Meisterleistung, die von oben wie ein Kinderspiel erscheint, sagt Stohler.
"Es ist natürlich so, dass wenn man diesem Betrieb von oben zuschaut, dann geht das alles eigentlich recht gemächlich zu, zwei Minuten zu warten, das ist natürlich nicht radiohörerkonform. Für den Betrieb einer Eisenbahn sind zwei Minuten Zugfolgezeiten ganz sportliche Angelegenheiten, da muss sehr vieles perfekt funktionieren."
Aus Schaden klug
Um den Mann zu treffen, der den perfekten Ablauf des Schweizer Bahnverkehrs überwacht, muss man weiter in die Schweizer Hauptstadt reisen. Abfahrt zur Minute 02 in Zürich, Ankunft zur Minute 58 in Bern. Taktgenau.
Als Direktor des Schweizer Bundesamtes für Verkehr – kurz BAV – ist Peter Füglistaler für den gesamten öffentlichen Verkehr des Landes zuständig. Die BAV residiert in einem lichten Gebäude mit großen Fenstern, hellem Holz und Sichtbeton, das eher wie der Sitz einer großen Umwelt-NGO aussieht als wie das Verwaltungsgebäude einer Bundesbehörde. Aber eigentlich passt das ganz gut.
"Im öffentlichen Verkehr sind wir spitze. Ich weiß nicht, ob weltweit, aber im europäischen Raum haben wir sicher das bestausgebaute öffentliche Verkehrssystem", sagt Füglistaler selbstbewusst. Kaum ein Verkehrsexperte würde dem widersprechen. Rückgrat dieses Erfolgs ist der vertaktete Schweizer Bahnverkehr. Doch auch in der Schweiz gab es eine Zeit vor dem integrierten Taktfahrplan.
"Wir wurden auch aus Schaden klug, wir haben das nicht einfach erfunden. Bevor es dieses Knotenkonzept gab, gab es die Idee einer NHT, neue Haupttransversale. Das war die Schnellfahrstrecke Bern – Zürich, über die grüne Wiese an allen Städten dazwischen vorbei. Das hatte in der Schweiz politisch keine Chance, weil man dann gesagt hat, dass die Zwischenräume dann nicht bedient werden. Man will nicht einfach nur schnell, sondern man will das ganze Land erschließen."
Der Schweizer Regionalverkehr ist gut ausgebaut
In anderen westeuropäischen Ländern wie Frankreich und Spanien hat man in den vergangenen Jahrzehnten dagegen konsequent auf den Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen den Metropolen gesetzt: Die 750 km lange Strecke Paris – Marseille schafft der französische TGV nonstop in rund drei Stunden. Und für die mehr als 600 km zwischen Barcelona und Madrid benötigt der spanische Hochgeschwindigkeitszug AVE gerade einmal zweieinhalb Stunden.
So schnell ist man in der Schweiz nicht unterwegs. Einen gut ausgebauten Regionalverkehr sucht man in Frankreich und Spanien außerhalb der Ballungsräume dagegen vergeblich.
"Das ist wahrscheinlich schon eine Eigenheit der Schweiz, dass wir einen großen Wert auf die Grundversorgung legen. Ich nehme hier das Beispiel Frankreich, wo dann ganze Regionen abgehängt wurden oder auch wahrscheinlich im Osten von Deutschland. In der Schweiz haben wir da eine sehr, sehr hohe Sensibilität. Wir können nicht nur in den Zentren Hochgeschwindigkeit bauen, sondern wir brauchen ein System, das dieser Kohäsion der Schweiz mit den vier Landessprachen Rechnung trägt. Und ich glaube, das waren damals auch die Überlegungen, die zu diesem Modell geführt haben."
Gewinnorientierung schadet dem Service
Und es gebe noch einen anderen Punkt, der zum Erfolg der Schweizer Bahn beigetragen habe, meint BAV-Direktor Füglistaler.
"Wir haben keine Gewinnablieferung der SBB an den Staat, also diese Idee, die in Deutschland lange verfolgt wurde, dass die Deutsche Bahn ein rentables Unternehmen sein soll mit Gewinn und Börse. Das hatten wir nie, sondern es war immer klar: Es ist ein staatseigenes Unternehmen. Sie haben die primäre Aufgabe, ein gutes Schienennetz zu unterhalten und zu entwickeln und eine hohe Qualität bei den Zügen zu liefern. Und auch wenn eine Bahn wirklich effizient und betriebswirtschaftlich betrieben werden soll, sie soll nie renditeorientiert betrieben werden."
In Deutschland war das lange anders. Mit der Bahnreform von 1994 wurde die Deutsche Bahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Doch der einst geplante Börsengang ist längst abgesagt. Nun steht die gute Anbindung des ganzen Landes im Vordergrund: Mit dem Deutschland-Takt will die Bundesregierung die Schiene offenbar zu einem leistungsfähigen Verkehrsnetz für alle Bürgerinnen und Bürger ausbauen.
Füglistalers Berliner Pendant ist Enak Ferlemann. Ferlemann sitzt seit 2002 für die CDU im Bundestag. Als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium ist er für den Schienenverkehr verantwortlich. Dass es für die Einführung des Deutschland-Takts einen langen Atem braucht, macht ihm keine Sorgen. Ferlemann ist vielmehr voller Zuversicht.
"Um den Deutschland-Takt fahren zu können, müssen wir in Infrastruktur investieren, sowohl in den Bestand als auch in Aus- und Neubau. Das ist eine Fülle von Maßnahmen. Und wir werden schon 2021 die erste Region in den Deutschland-Takt aufnehmen und so nach und nach Region für Region dann mit dem Deutschland-Takt ausstatten. Bis 2030 soll er dann verwirklicht sein. Wenn es etwas länger dauert, ist das auch kein Drama, weil wir abschnittsweise vorgehen."
Rekordsummen für die Sanierung
Kein Wunder, dass Ferlemann so optimistisch ist. Schließlich ist mit der Klimadebatte die Bahnpolitik wieder ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt – und sie kann erste Erfolge vorweisen. Neben der vereinbarten Rekordsumme von 86 Milliarden Euro bis 2030 für die Sanierung der vorhandenen Infrastruktur ist das auch die Reduzierung der Mehrwertsteuer für Fernverkehrstickets von 19 auf sieben Prozent, die die Bundesregierung kürzlich beschlossen hat. Zum Jahreswechsel wurden die Tickets im Fernverkehr damit um zehn Prozent günstiger. Doch plötzlich wird noch viel mehr Geld benötigt. Denn der Einbruch der Fahrgastzahlen in Pandemiezeiten habe eine riesige Lücke in den Haushalt der Deutschen Bahn gerissen, so Staatssekretär Ferlemann.
"Wir haben insgesamt ein Volumen von etwa 13 Milliarden errechnet, was an Ausfällen coronabedingt bei der DB AG zu vergegenwärtigen sein kann, die Zahlen stehen natürlich logischerweise noch nicht fest, weil man nicht weiß, wie lange die Krise läuft und wie lange die Ausfälle sind, aber das ist das, was derzeit unter dem Wissen, was wir haben, zu erwarten ist."
Diese Summe soll durch eine Anhebung der Verschuldung, eine Finanzspritze aus dem Konjunkturprogramm des Bundes und Einsparungen bei der Deutschen Bahn aufgebracht werden. Der Deutschland-Takt, versichert der Staatssekretär, stehe trotz Corona nicht zur Disposition. Im Gegenteil: Ende Juni gab das Bundesverkehrsministerium auf dem sogenannten Schienengipfel den offiziellen Startschuss zu dem ambitionierten Projekt.Diesen Schwung will Ferlemann nun nutzen, um das große Thema "Deutschland-Takt" anzugehen.
"Wir stellen mit dem Deutschland-Takt praktisch das ganze Bahnsystem vom Kopf wieder auf die Füße, das heißt, den Takt, den wir fahren wollen, die Vorgaben, die wir machen, die müssen sich in der Infrastruktur wiederfinden und auch gefahren werden können. Insofern ist es ein Paradigmenwechsel, und wir legen als Bundesregierung einen Modellfahrplan vor, von dem wir glauben, dass alle Regionen gut erschlossen sind, dass alle Verkehrsverbindungen gut entwickelt sind, dass alle Regionen sich angebunden fühlen."
Ein Vorhaben mit Schönheitsfehlern
Der Modellfahrplan hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler. Denn nur im subventionierten Nahverkehr entscheiden die Bundesländer und damit die Politik, welche Bahnstrecken in welchem Takt angeboten werden. Im Fernverkehr dagegen schreiben die Bahnunternehmen selbst ihre Fahrpläne – und wählen dafür Strecken aus, die sie für rentabel halten.
Wenn die Bundesregierung also vom flächendeckenden Deutschland-Takt spricht, so ist sie auf die Unterstützung und den guten Willen der Deutschen Bahn angewiesen. Kritiker fordern deshalb auch im Fernverkehr stärkere Vorgaben durch die Politik. Staatssekretär Ferlemann dagegen vertraut voll und ganz auf die Bahnunternehmen:
"Ob das nachher in der Praxis durch Verkehrsunternehmen ausgefüllt wird, ist deren Entscheidung, das kann nicht die Bundesregierung vorgeben."
Um die abgehängten Regionen kümmert sich der Markt
Dabei könnte sich die Politik natürlich durchaus in die Planung und Durchführung des Bahnfernverkehrs einmischen – schließlich ist der Bund 100-prozentiger Eigentümer der Deutschen Bahn. Doch ob bisher abgehängte Regionen und Städte vom neuen Deutschland-Takt profitieren werden, überlässt die Bundesregierung lieber dem Markt.
Der soll auch ein anderes Problem lösen: Die Deutsche Bahn und andere öffentliche und private Verkehrsbetriebe haben es bisher nicht geschafft, gemeinsame Ticketsysteme zu etablieren, die einen Fahrscheinkauf von Haustür zu Haustür ermöglichen. Selbst mit der Bahncard 100, die bundesweit zur kostenlosen Benutzung des DB-Netzes berechtigt, kann man zwar in vielen, aber längst nicht in allen deutschen Städten den öffentlichen Nahverkehr benutzen – und oft auch nicht im gesamten Netz.
Und: Wer auch noch auf die kühne Idee kommt, mit der Bahn europäische Ländergrenzen zu überqueren, hat es besonders schwer beim Ticketkauf. Fazit: Es ist kompliziert.
Ferlemann, leicht genervt: "Das ist Aufgabe der Bahnen! Das können Sie politisch nicht vorgeben, gleichwohl moderieren wir natürlich diese Prozesse und drängen auch darauf, dass man in diese Richtung geht, um das System Schiene attraktiver zu machen."
Für diesen Zweck haben verschiedene europäische Bahnunternehmen, darunter die Deutsche Bahn, ein internationales Buchungsportal aufgebaut. Auf der Seite bekommt der Kunde zwar minutengenaue Verbindungsdaten, doch wie teuer die Fahrt ist, bleibt häufig im Dunkeln. "Preisauskunft nicht möglich", vermeldet das Portal dann.
Eine App verkauft den Ticketkauf – in der Schweiz
Dass der Fahrkartenkauf auch ganz einfach sein kann, zeigt wieder der Blick in die Schweiz. In einer kleinen Gasse in der Berner Innenstadt hat das Start-Up Fairtiq seinen Sitz. Pressesprecher Andrin Huber erklärt, wie mobiler Fahrkartenkauf heute funktioniert:
"Die Vision von Fairtiq ist, den Zugang zum öffentlichen Verkehr radikal zu vereinfachen. Sie registrieren sich und anschließend können Sie sich mit einer Wischbewegung einchecken und Sie haben eine gültige Fahrkarte für die ganze Region, dank Standort-Ortung wird Ihnen die Fahrt erfasst. Am Ende der Reise checken Sie sich wieder aus und erhalten das günstigst mögliche Ticket für Ihre Fahrt automatisch verrechnet."
Wer die Fairtiq-App auf sein Handy lädt, kann sich die lästige Suche im Tarifverbund eines fremden Verkehrsverbundes endlich ersparen.
Schon heute gilt die App im gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr der Schweiz.
Mehr als 12 Millionen Fahrten wurden mit der App bereits absolviert – davon profitiert auch der öffentliche Verkehr, weil er sich neue Kundenkreise erschließt. Dabei ist es offenbar die Einfachheit des Systems, die Nutzerinnen und Nutzer überzeugt – und so zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsträger wie die Bahn einlädt.
Der Wettbewerb regelt den Nahverkehr
Staatssekretär Enak Ferlemann hat noch eine andere Idee, wie Bahnfahren auch in Deutschland attraktiver werden kann: "Wettbewerb ist immer gut für jedes System, deswegen: je mehr Wettbewerb, umso besser."
Seit der Bahnreform von 1994 ist der Bahnverkehr in Deutschland liberalisiert. Im subventionierten Nahverkehr werden nur noch etwa zwei Drittel der Strecken von der Deutschen Bahn betrieben. Im gewinnorientierten Fernverkehr dagegen hat die Deutsche Bahn noch einen Marktanteil von 99 Prozent.
Einer der wenigen Wettbewerber ist Flixtrain, ein Bahnunternehmen, das zur Flixmobility GmbH gehört – das Unternehmen, das auch die Flixbusflotte betreibt. Momentan verkehrt das Unternehmen mit seinen grün lackierten Zügen zwischen Aachen und Leipzig, Stuttgart und Berlin sowie Köln und Hamburg.
Dieser Wunsch des privaten Verkehrsunternehmens dürfte in Zukunft deutlich öfter in Erfüllung gehen als bisher. Denn mit dem Fahrplanwechsel Mitte Dezember werden in einem ersten Schritt Berlin und Hamburg an den Deutschland-Takt angebunden. Zwischen den zwei größten deutschen Städten werden die Züge dann alle 30 Minuten verkehren – und zwar nicht nur die ICEs der Deutschen Bahn, so Staatssekretär Ferlemann.
"Es gibt jetzt Anmeldungen eines Konkurrenten, der auch den Zuschlag für Trassen bekommen hat, und insofern werden da mindestens zwei Unternehmen fahren, dazu fahren noch Regionalbahnen, die auch diese Takte mit einhalten werden, also insofern fahren da mehrere auf der Strecke und das ist auch gut so – wir wünschen uns ja Wettbewerb!"
Denn bedienen wird die beliebte Strecke neben der Deutschen Bahn auch Flixtrain. Mit neun eigenen Verbindungen pro Tag heißt es aus der Branche, könnten die grünen Züge zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Deutsche Bahn auf der Verbindung Hamburg – Berlin werden – und neue Zielgruppen auf die Schiene locken.
Mitbewerber sehen sich benachteiligt
Sicher ein guter Anfang. Doch um noch mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, müssten auch die hohen Trassenpreise endlich gesenkt werden, fordert der Bahnexperte Philipp Kosok vom Verkehrsclub Deutschland.
"Weil es so teuer ist, auf dem deutschen Schienennetz zu fahren, werden viele Verbindungen gar nicht angeboten. Wir erwarten uns also von einer Senkung der Trassenpreise zum Einen, dass die Ticketpreise für die Fahrgäste günstiger werden, zum anderen aber auch, dass das Angebot auf der Schiene wächst. Dass das geht, hat die Bundesregierung bewiesen, sie hat nämlich vor gut einem Jahr die Trassenpreise für den Güterverkehr auf der Schiene deutlich abgesenkt, gerade eben aus der Motivation heraus, mehr Güter von der Straße auf die Schiene verlagern zu wollen."
Doch Staatssekretär Enak Ferlemann winkt ab: "Im Fernverkehr brauchen wir diese Reduzierung nicht, da wir ja sehen, dass die Bahn im Markt gut platziert ist. Da ist ja eher die Frage, dass sich zum Beispiel die Fernbusse benachteiligt fühlen. Insofern brauchen wir dort keine Subventionierung vorzunehmen. Die Züge sind voll und wir haben ja deutlich steigende Passagierzahlen."
Soll heißen: Der Markt regelt das schon alleine.
Steigende Fahrgastzahlen bedeuten noch keine Verkehrswende
Aber stimmt das wirklich? Tatsächlich nimmt die Zahl der Reisenden im Fernverkehr schon seit Jahren kontinuierlich zu. Doch um die Verkehrswende zu schaffen, reichen mehr Fahrgäste alleine nicht aus, erklärt Philipp Kosok vom Verkehrsclub Deutschland.
"Grundsätzlich ist es ein positives Symbol, dass wir Jahr für Jahr einen Fahrgastrekord vermelden können – bei der Bahn sowie insgesamt bei den öffentlichen Verkehrsmitteln in ganz Deutschland. Die Menschen sind mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, aber – und da kommt der Wermutstropfen – sie sind auch mehr mit dem Autoverkehr unterwegs. Der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel zum Anteil des Verkehrs mit dem Auto, der ist unverändert."
Von einer Verkehrswende könne daher noch gar keine Rede sein. Tatsächlich werden nur rund zehn Prozent der Wege in Deutschland mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt – beim Auto sind es mehr als 50 Prozent. Der Wert hat sich laut einer Mobilitätsstudie des Bundesverkehrsministeriums zwischen 2008 und 2017 kaum verändert.
"Das führt dazu, dass die CO2-Emissionen im Verkehr heute exakt dieselben sind wie noch 1990, da gab es keinerlei Reduktion, und das macht für Deutschland heute die Klimaziele in den nächsten Jahren eigentlich unerreichbar. Was wir brauchen, ist, dass die umweltfreundlichen Verkehrsmittel – und das ist allen voran die Bahn – deutlich überproportional wachsen, so dass wir eine Reduktion des Verkehrs auf der Straße und des Luftverkehrs möglich machen können."
Ein Ziel, das im Autofahrerland Deutschland auch mit dem neuen Taktfahrplan eine riesige Herausforderung bleibt.