Das Theater kehrt zurück - mit Abstand
08:56 Minuten
Nur 50 Menschen mit Maske in einem großen Theater. Aber immerhin: Im Schauspielhaus Bochum wird wieder vor Publikum gespielt. Zum Start gibt es Elias Canettis "Die Befristeten". Regisseur Johan Simons erwartet ein besonderes Theatererlebnis.
Liane von Billerbeck: Die ersten Theater machen wieder auf. Am Schauspielhaus Bochum, einem der großen, gibt es heute Abend sogar eine Premiere: ein selten gespieltes Stück, "Die Befristeten" von Elias Canetti. Der Regisseur ist auch der Intendant, Johan Simons, ein erfahrener Theatermann, vorher Intendant der Ruhrtriennale und der Münchner Kammerspiele. Seine "Woyzeck"-Inszenierung wurde 2019 mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet. – Viele Theater fangen ja erst nach der Sommerpause wieder an, warum ist es Ihnen so wichtig, so schnell wieder Theater zu spielen?
Simons: Ich habe viele Wochen gewartet, und dann hat Armin Laschet angekündigt, dass wir wieder aufmachen dürfen. Da habe ich gleich gedacht: Wenn man in dieser Coronakrise ist, hat man bestimmt auch viel zu sagen über diese Coronakrise. Also habe ich gedacht, na, dann mache ich auf, und ich sammle auf diese Weise natürlich auch Erfahrungen, die ich dann im September auch wieder mit dem Publikum benutzen kann. Das war für mich eine Gelegenheit, in dieses Theaterloch zu springen.
"Das große Thema ist der Tod"
von Billerbeck: Sie haben das Stück ja, könnte man sagen, innerhalb kürzester Zeit realisiert. Normalerweise gibt’s da acht Wochen Zeit für Proben, jetzt waren es nur knapp drei. Haben Sie und das Ensemble die letzten Tage und Nächte durchgearbeitet?
Simons: Ja, wir haben sehr, sehr, sehr hart gearbeitet, ich bin auch richtig müde im Moment. Aber das macht nichts, es hat mir viel Freude gemacht, das zu tun. Man macht eine Inszenierung, wo die Zuschauer anderthalb Meter auseinandersitzen müssen, wo die Schauspieler auf der Bühne drei Meter auseinander sein müssen – außer dann die Infektionsgemeinschaft –, und wenn man schreit oder singt, eben sechs Meter. Daran muss man sich natürlich gewöhnen.
von Billerbeck: Das sind sozusagen die wichtigsten Regeln des Hygienekonzepts, das Ihnen die Stadt Bochum auferlegt hat. Letztlich hat also die Stadt entschieden, ob die Premiere heute Abend stattfinden kann. Wie sind Sie und die Schauspieler denn damit klargekommen, dass der Abend ja buchstäblich bis zur letzten Minute abgesagt werden könnte?
Simons: Das ist kein Problem. Für Szenenkenner und für Probenkenner haben wir ein neues Ensemble, das ist das zweite Jahr, dass wir beieinander sind, und dann probt man gerne und redet gern über die Probleme, die es jetzt gibt. Man redet natürlich unendlich viel über den Tod – das ist auch in dem Stück natürlich das große Thema. Es wäre natürlich blöd gewesen, wenn es so zwei Tage vorher abgesagt wird, aber das ist dann doch wieder am nächsten Tag vergessen. Dann denkt man, na ja, dann mache ich das im September, aber ich habe die Gelegenheit ergriffen, um jetzt zu eröffnen.
"Ich favorisiere das Nichtwissen"
von Billerbeck: Das Stück "Die Befristeten" von Elias Canetti spielt in der Zukunft, die Menschen wissen, wie lange sie leben werden – Sie haben es schon erwähnt, der Tod ist in dieser fiktiven Gesellschaft berechenbar. Welche Konsequenzen schildert Canetti da?
Simons: Das ist natürlich erst mal ein Thema, das in Canettis Leben eine große Rolle gespielt hat, der Tod, und das spielt natürlich in diesem Stück, wenn man weiß, wie alt man wird. Wenn ich mit 93 sterbe und ich werfe mich mit 40 von einem hohen Gebäude, dann stehe ich danach wieder auf und laufe weiter. Themen wie dieses, dass man weiß, wann man stirbt, sagen eigentlich natürlich auch etwas über unsere eigene Gesellschaft, wie viel wir mit dem Tod beschäftigt sind.
Die Leute heißen in diesem Stück zum Beispiel 50 oder 12, aber wenn man natürlich den ganzen Tag ständig hört, "hey, 12", dann ist man natürlich auch ständig mit dem Tod beschäftigt. Ich kann den Tod manchmal auch mal vergessen, aber bei Canetti ist das wirklich das Hauptthema. Hilft es uns, wenn wir wissen, wie alt wir werden? Das ist natürlich die große Frage, die er uns stellt. Wie müssen wir selber mit dem Unerwarteten, dem Tod umgehen? Das ist auch schwierig, also beide sind, glaube ich, schwierig, aber ich favorisiere das Nichtwissen.
von Billerbeck: In einer Szene des Stückes diskutieren zwei Schauspieler über die frühe Festlegung dieser Todesdaten, dieser individuellen, und sie nennen sie den größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Was halten Sie davon? Sie wollen es nicht wissen?
Simons: Ich finde das nicht den großen Fortschritt der Menschheit, aber ich glaube auch, von Canetti ist das – Provokation finde ich zu viel gesagt, ich glaube nicht, dass Canetti das selber denkt, das kann ich mir nicht vorstellen.
"Ich bin nicht zu Hause geblieben"
von Billerbeck: Nur wer lange lebt, ist ja in diesem Canetti-Stück als wertvolles Mitglied der Gesellschaft angesehen.
Simons: Das ist natürlich auch schrecklich.
von Billerbeck: Ja, aber das Alter wird auch sehr geachtet, und wenn wir uns jetzt erinnern, so zu Beginn der Pandemie…
Simons: Ja, und das ist natürlich – Entschuldigung, wenn ich Sie unterbrechen darf –, das macht natürlich die Gesellschaft jetzt auch. Ich habe zum Beispiel einen Sohn, der ist 29, der hat mich angerufen am Anfang der Pandemie und hat zu mir gesagt: Papa, du bleibst zu Hause, weil, ich möchte gerne, dass meine Kinder ihren Großvater sehen. Da hab ich gefragt, aber wieso denn, wieso soll ich zu Hause bleiben? - Ja, weil du ein gefährdetes Alter hast, du musst unbedingt zu Hause bleiben, weil, ich mache den Lockdown wegen dir, ich habe eine sehr gute Kondition, ich bin jung, ich sterbe nicht. Aber die Chance, dass du stirbst, ist größer als die Chance, dass ich sterbe.
von Billerbeck: Was haben Sie geantwortet?
Simons: Ich bin nicht zu Hause geblieben. [lacht] Aber ich bin natürlich wirklich sehr vorsichtig, weil ich andere natürlich nicht in Gefahr bringen möchte. Darum geht es natürlich auch.
von Billerbeck: Lehrt uns das Stück auch das Jetzt der Existenz anzunehmen und eben das Beste draus zu machen?
Simons: Ja, das finde ich schon, obwohl es natürlich im Moment nicht immer einfach ist mit dem unsichtbaren Tod. Und wann kommen wir wieder raus aus diesem unsichtbaren Tod? Keine Ahnung. Aber ich finde schon, dass man jetzt leben muss. Deswegen führe ich so gern Regie, denn beim Regieführen, wenn man mit den Schauspielern zusammen ist, ist man natürlich nur hier und jetzt, weil man beurteilt: das, was gemacht ist, ist eine Hier-und-Jetzt-Situation. Und das mag ich am Proben.
"Es wird natürlich eine Gemeinde sein"
von Billerbeck: Was meinen Sie denn, wie wird’s heute Abend sein, werden sich die Leute wieder ins Theater trauen und werden Sie ein volles Haus haben, also unter den möglichen Umständen?
Simons: Das Haus wird total voll sein, ich meine – nein. Etwa 50 Leute sind da in einem Saal von 800, die können sehr komfortabel sitzen. Das ist fast ein individuelles, delikates Geschehen. Ich habe keine Ahnung, wie das ausgeht, und das ist gerade auch so spannend, dass man das miterlebt.
Theater ist natürlich auch ein Medium, von dem ich denke, ja, wir können auch etwas über die Pandemie sagen, wir können auch etwas über unsere Gesellschaft sagen in diesem Moment – und dann hofft man natürlich, weil, das ist bei Theater oft der Fall. Ich hatte mal eine Truppe, Hollandia, damals in den Niederlanden, und die war eigentlich im Theaterland, meine ich, weltberühmt, und dann hab ich viel mehr Leute in meinem Leben getroffen, die zu mir gesagt haben, ja, ich habe nie etwas von Hollandia gesehen, aber es scheint sehr gut zu sein.
von Billerbeck: Und auf diesen Effekt hoffen Sie auch, wenn da nur 50 Leute sitzen.
Simons: Ja, dass die Leute da weiter drüber reden …
von Billerbeck: Na klar, ich war dabei, ich war einer von den 50...
Simons: … ich war Teil dieser Gemeinde, die da gesessen hat, weil, es wird natürlich eine Gemeinde sein. Alle tragen auch Mundmasken – nicht die Schauspieler, aber die Zuschauer tragen Mundmaske. 50 Leute, die da mit Mundmaske sitzen, oh Gott, das ist Beckett und Canetti und Ligeti und alle zugleich. Ich meine, das ist unfassbar.
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