"Die berühmteste deutsche Rede, die jemals gehalten wurde"

Moderation: Matthias Hanselmann · 18.02.2013
"Wollt ihr den totalen Krieg?" Vor 70 Jahren hielt Joseph Goebbels seine berüchtigte Rede im Berliner Sportpalast. Wie der NS-Propagandaminister dabei moderne PR-Techniken nutzte und was Goebbels mit seinem Auftritt erreichen wollte, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister.
Matthias Hanselmann: Die Rede heute vor 70 Jahren dauerte 109 Minuten. Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte sie akribisch vorbereitet, nichts wollte er dem Zufall überlassen, das Volk musste eingeschworen werden auf den totalen Krieg. Dies, nachdem die Schlacht um Stalingrad verloren war, eine Schlacht, bei der 700.000 Menschen ihr Leben lassen mussten. Hören wir einen Ausschnitt aus der Goebbels-Rede, der zeigt, dass dieser sogar seine Versprecher bewusst eingebaut hat:

O-Ton Joseph Goebbels: Deutschland jedenfalls hat nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu beugen, sondern vielmehr die, ihr rechtzeitig, wenn nötig unter vollkommener und radikalster Ausro… – Ausschaltung des Judentums entgegenzutreten! (Jubel)
Im Zeichen all dieser Überlegungen steht die militärische Belastung im Osten. Der Krieg der mechanisierten Roboter gegen Deutschland und gegen Europa ist auf seinen Höhepunkt gestiegen. Das deutsche Volk erfüllt mit seinen Achsenpartnern im wahrsten Sinne des Wortes eine europäische Mission, wenn es dieser unmittelbaren, ernsten Lebensbedrohung mit den Waffen entgegentritt. Wir lassen uns nicht durch das Geschrei des internationalen Judentums in aller Welt in der mutigen und aufrechten Fortführung des gigantischen Kampfes gegen diese Weltpest beirren. Er kann und darf nur mit Sieg enden! (Jubel)

Hanselmann: Joseph Goebbels, Reichspropagandaminister der Nazis am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast. Man muss dabei im Hinterkopf behalten, dass nicht nur die Schlacht um Stalingrad verloren war und die deutschen Truppen an der Ostfront sich auf dem Rückzug befanden, auch in Nordafrika war die Wehrmacht in einer schwierigen Lage. Und wie gesagt: Diese Rede war kein Zufallsprodukt, sie war akribisch vorbereitet und mit den Mitteln der damals modernsten Medien genau kalkuliert. Bei uns ist der Filmemacher und Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister, Autor des Films "Das Goebbels-Experiment". Willkommen im Studio!

Lutz Hachmeister: Guten Tag!

Hanselmann: Dieser Versprecher eben, "Ausr…" und dann … Es lief auf "Ausrotten" hinaus, war er kalkuliert, hatte er sich das in die Rede hineingeschrieben? Oder ist ihm da sozusagen der Gedanke ausgerutscht, sprachlich?

Hachmeister: Also, das ist heute sehr schwer zu rekonstruieren, aber beides ist möglich. Auf der anderen Seite muss man sagen, die Vernichtung der Juden in Deutschland und in Europa ist ja doch schon als Staatsgeheimnis behandelt worden und es wäre von Goebbels sehr eigenmächtig gewesen, quasi indirekt an diesem Geheimnis zu rühren. Es wussten viele, es gab Gerüchte, Flüsterwitze und so weiter, also, insofern würde ich im Nachhinein doch sagen, es war im Grunde diese berühmte Freud‘sche Fehlleistung.

Hanselmann: Und ich meine, "Ausschalten" ist auch nicht weniger schlimm.

Hachmeister: So ist es.

Hanselmann: Diese Rede gilt als ein Paradebeispiel für die Rhetorik der Nazis und für ihre Propaganda. Wie wurde sie denn damals geplant und vorbereitet?

Hachmeister: Na ja, er hat schon sehr lange selber daran gearbeitet. Also, Goebbels war jemand, der wenig Redenschreiber brauchte. Also, im Vergleich zu heutigen Politikern. Er hat wirklich hart gearbeitet zu Hause, in Lanke zum Beispiel, am See, und in seinen Dienstwohnungen, und hat viel selber gemacht. Und er hielt sich ja für einen begnadeten Rhetor, der er sicherlich auch war, und für einen begnadeten PR- und Werbefachmann. Er ließ ungern andere Leute an solche Staatsreden heran und er wusste eigentlich – Sie haben den Zeitpunkt ja geschildert, deutsche Defensive, immer mehr Bombenangriffe auch auf das damalige Reichsgebiet –, das ist eine der entscheidenden Reden in seiner Karriere. Und insofern hat er sie auch sehr wichtig genommen.

Hanselmann: Die Menschen, die damals im Publikum saßen, waren, soweit ich gelesen habe, auch handverlesen?

Hachmeister: Die waren im Wesentlichen ausgesucht, von hoher Prominenz wie Albert Speer und Heinrich George, die dann auch bewusst in der "Wochenschau" im Bild in Nahaufnahmen gezeigt wurden. Was Goebbels aber auch wichtig war, dass alle deutschen Stände vertreten waren. Man sieht Verwundete, man sieht Arbeiter, man sieht alte Frauen, Kinder und so weiter. Also, er wollte auch dann durch die "Wochenschau"-Übertragung das Bild suggerieren, hier ist das gesamte deutsche Volk vorhanden, versammelt in diesem Sportpalast, und ich rede im Prinzip auch nicht zu einzelnen Segmenten der Bevölkerung, sondern adressiere wirklich alle Deutschen.

Hanselmann: Wie konnte so was damals eigentlich medial verwertet werden? Also, Live-Fernsehen gab es ja noch nicht.

Hachmeister: Nein, es gab kein Live-Fernsehen, es wurde halt eine sehr präzise, sehr gut vorbereitete "Wochenschau"-Ausgabe geschnitten, die auch dramaturgisch sehr ausgefeilt komponiert wurde, eben, wie gesagt, mit diesen Gesichtern, mit der Mischung aus Prominenz und einfachen Bürgern. Und das war der Weg neben dem Radio, durch den diese Rede die Mehrheit der deutschen Bevölkerung erreicht hat, übrigens natürlich auch das Ausland, die Rede ist ja nun auch von ausländischen Journalisten, Kommentatoren, Politikern sehr deutlich wahrgenommen worden.

Hanselmann: Sie haben gerade das Kürzel PR benutzt. Ich habe mal nachgeschaut, schon 1937 definierte der spätere Vorsitzende der Deutschen Public Relations Gesellschaft Carl Hundhausen den Begriff PR wie folgt: Public Relations ist die Kunst, durch das gesprochene oder gedruckte Wort, durch Handlungen oder durch sichtbare Symbole für die eigene Firma, deren Produkt oder Dienstleistung eine günstige öffentliche Meinung zu schaffen. – Da habe ich mich gefragt, war Joseph Goebbels der Begriff Public Relations überhaupt schon geläufig?

Hachmeister: Ich glaube, das war ihm geläufig. Er hat doch die Literatur, die Fachliteratur der damaligen Zeit auch wahrgenommen, das weiß man aus seinen Tagebüchern, auch so etwas wie Markentechnik, der Beginn wirklich der modernen Planung, die sich so zwischen Werbung und Öffentlichkeitsarbeit bewegt. Das hat ihn schon interessiert. Er hat auch sehr genau beobachtet, wie die USA etwa eine PR-Maschinerie im Ersten Weltkrieg aufgebaut haben für den Kriegseintritt der USA damals. Also, all diese im Grunde am Rande der Fachwissenschaft situierten Schriften hat er gelesen.

Hanselmann: Was würden Sie denn sagen, war diese Rede denn letztlich eine perfekte Glanzleistung in Publik Relations oder haben Sie auch Dilettantismus, grobe Fehler und Ähnliches ausmachen können?

Hachmeister: Na ja, zunächst mal, inhaltlich hat er gar nichts Neues gebracht. Das waren die üblichen Gleichsetzungen von Plutokratie, Bolschewismus und Judentum, das war die Überhöhung des Führers ins Religiöse oder ins Scheinreligiöse. Man muss schon sagen, dass diese Kaskade an Fragen, die ja wohl am berühmtesten geworden ist, also "Wollt ihr den totalen Krieg" und so weiter und "Die Engländer behaupten, dass …", und dann steht das Volk auf und sagt, so ist es nicht, also, wir kämpfen weiter bis zum Letzten … Das ist schon ziemlich einzigartig. Also, es ist schon … Wahrscheinlich ist es die berühmteste deutsche Rede, die jemals gehalten wurde, so schrecklich es ist, das konzedieren zu müssen. Aber das ist ja bis heute … Wir reden jetzt immer noch darüber, 70 Jahre später, und das muss ja seinen Grund haben.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Filmemacher und Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister über Methoden der Propaganda und der Public Relations aus Anlass der Rede von Joseph Goebbels heute vor 70 Jahren im Berliner Sportpalast. Herr Hachmeister, in Ihrem Dokumentarfilm "Das Goebbels-Experiment" nennt Goebbels in seinem Tagebuch Adolf Hitler als den geborenen Aufpeitscher. Warum hat Hitler diese Rede eigentlich nicht selber übernommen?

Hachmeister: Also, Hitler war an der Südfront, er ist mit dem Flugzeug dorthin geflogen und war längere Zeit nicht in Berlin. Das hat Goebbels im Übrigen auch bekümmert. Goebbels wollte die Rede schon selbst halten. Man muss wissen, dass Goebbels in der Zeit Hitler immer wieder gedrängt hat, häufiger ans Mikrofon zu treten und zum deutschen Volk zu sprechen, und Hitler wollte das nicht, solange er sich unsicher war, wie der Krieg weitergeht. Er wollte im Prinzip intuitiv mit positiven Nachrichten aufwarten, das war nach Stalingrad fast nicht mehr möglich, also weigerte er sich, wurde mürrisch. Und Goebbels hat dann zunehmend das Heft in die Hand genommen. Man muss auch wissen, dass sich Goebbels spätestens zu diesem Zeitpunkt mehr als Politiker denn als Propagandaminister gesehen hat. Sein eigentliches Bestreben war die Ablösung von Außenminister Ribbentrop und er aspirierte sozusagen, oder er hatte vor, Außenminister zu werden, um in die wirkliche operative Politik einzutreten. Also, diese Image – du bist der Werbefuzzi des Nationalsozialismus und bist nur dieser Reichslautsprecher und im Prinzip diese personifizierte tönende "Wochenschau" –, das hat ihm nicht gefallen, dafür war er zu ehrgeizig. Er war ja auch Gauleiter, deshalb auch die Anstrengung, ich muss die totale Kriegführung in meine Hände bekommen, nicht nur als Propagandist, sondern ganz real, in der Rüstungsindustrie. Und dafür suchte er halt Koalitionen. Und die Rede war im Prinzip mehr als politische Rede auch nach innen gedacht denn als reine Propaganda.

Hanselmann: Diese Techniken und Methoden der Goebbels‘schen Propaganda, über die wir bisher gesprochen haben, haben die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fortsetzung gefunden?

Hachmeister: Also, die …

Hanselmann: Also, sagen wir mal so: Wurden die gleichen Mittel für bessere Zwecke eingesetzt, oder werden sie es vielleicht sogar heute noch?

Hachmeister: Es gibt einen berühmten Ausspruch von Konrad Adenauer, der sagt, ich brauche einen demokratischen Goebbels. Also, insofern sieht man, dass Goebbels handwerklich-technische Fähigkeiten auch von demokratischen Politikern – das kann man Adenauer ja nun nicht absprechen, dass er keiner war –, auch durchaus geschätzt wurden, und man einen solchen Typus, sei es als hintergründigen Strippenzieher oder als Regierungssprecher, sich durchaus hat vorstellen können. Natürlich nicht mehr mit dieser überschießenden Religiosität, die der Katholik Goebbels ja mit sich brachte, sondern dann schon etwas nüchterner. Aber so die Vorstellung, man kann mit Hilfe von technischen Medien von oben herab Stimmungen steuern, die war in den 50er- und 60er-Jahren noch ganz, ganz verbreitet. Also, Adenauer hat daran ohne Abstriche geglaubt.

Hanselmann: Ich würde mal sagen, auch eine Rede Barack Obamas hat solche Methoden, bedient sich solcher Methoden.

Hachmeister: Ja, ganz sicher. Also, man muss sich schon zugestehen, nur weil Goebbels das perfektioniert hat im Dritten Reich, ist es nicht so, dass es eine abgeschlossene Phase der Propaganda wäre, das finden wir heute in vielen Verkleidungen, in Verpuppungen immer noch wieder.

Hanselmann: Eine Sache noch kurz zum Schluss: Goebbels soll nach seiner Sportpalast-Rede sinngemäß gesagt haben: Das war eine Stunde der Idiotie, wenn ich den Leuten gesagt hätte, springt aus dem dritten Stock des Columbushauses – diese Hochhaus am Potzdamer Platz –, sie hätten es auch getan. Das heißt, Goebbels war bewusst, dass er Millionen Menschen in einen Krieg einstimmte, den er wahrscheinlich selbst schon für komplett verloren hielt?

Hachmeister: Das weiß ich nicht, ob er ihn für verloren hielt. Aber auf jeden Fall war er natürlich durch und durch auch Zyniker, der sich des Technischen, also dieser technischen Überredung durchaus bewusst war. Und dass natürlich zwischen dieser überbordenden Propaganda und der Realität der Kriegführung eine starke Kluft lag, das war ihm komplett bewusst. Auf der anderen Seite war er ja bereit, Hitler bis in den Tod zu folgen mit seinen Kindern. Also, er hat das bis zum Schluss auch mit sich selbst, mit seinem Körper durchgespielt.

Hanselmann: Heute vor 70 Jahren hielt der nationalsozialistische Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die berühmt-berüchtigte Sportpalast-Rede. Darüber haben wir gesprochen mit dem Filmemacher und Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister, Autor des Filmes "Das Goebbels-Experiment", der noch mal empfohlen sei an dieser Stelle. Danke schön, Herr Hachmeister!

Hachmeister: Bitte sehr!


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