Stille mitten in Tokio
Es ist ein Ort zum Lesen und Träumen: Im Zentrum Tokios hat ein umtriebiger Bücherfreund eine "Bibliothek im Wald" eingerichtet. Das Haus möchte den Lesern das bieten, was in der Leihbücherei nicht zu finden ist: Lektüre in Verbindung mit Freizeitspaß und Entspannung.
500.000 Menschen überqueren täglich die große Kreuzung von Shibuya Station im Herzen Tokyos. In diesem Viertel gibt es Einkaufspaläste, tausende Cafés und Restaurants, Massen an Lovehotels für den schnellen Sex und Spielhallen. Es ist laut, unübersichtlich und wahnsinnig aufregend. In einem siebenstöckigen Haus, das nicht breiter als zehn Meter ist und sich irgendwie in dieses Chaos reinquetscht, liegt im dritten Stock über einem Boxclub und unter einem Nagelstudio eine Oase der Ruhe, die "Bibliothek im Wald", wie es auf einem kleinen Schild neben der Klingel heißt.
Ein Buzzer erklingt und die graue Metalltür öffnet sich automatisch, aber der Durchgang wird gleich hinter der Tür durch ein Buchregal aus Sperrholz versperrt. Ich warte, schaue, dann schiebt es jemand von der anderen Seite beiseite. Jetzt erst darf ich eintreten.
Angenehme Musik kommt aus den Lautsprechern. Die eine Wand des schlauchartigen Zimmers ist eine Fensterfront, freier Blick auf das Treiben des Stadtteil Shibuyas. Matratzen liegen auf dem Boden, ein paar Besucher fläzen sich hier, ein Buch in der Hand, eine Tasse Kaffee daneben.
Eine Bibliothek, finanziert mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne
"Dieser Ort entstand, weil ich mir genauso einen Ort immer gewünscht habe. Ich widme diesen Ort allen, die Bücher lieben und hoffe, dass ein jeder denkt, wie schön, dass es genau einen solchen Ort gibt", schreibt Shunsuke Mori, Bibliotheksinhaber in einem Heft, das mir in die Hand gedrückt wird. Mori heißt Wald, daher auch der Name. Er hat diese Bibliothek mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne finanziert. Hier kann jeder Zeit mit seinen Lieblingsbüchern verbringen und eintauchen in die Welt der Bücher.
Im vorderen Teil des Raums ist entlang der Wand ein Regalbrett, auf dem besondere Comic-Bücher, Fotobände, aber auch Romane, Erzählungen und Anthologien mit dem Cover nach vorne liegen. "Die unendliche Geschichte" von Michael Ende, auf Japanisch, fällt mir sofort auf. Im hinteren Teil stehen 5000 Bücher, nach Autoren geordnet in langen, hohen Regalen. Murakami, Chandler, viele japanische Autoren. Und in jedem dieser Bücher steht vorne eine kleine Bemerkung: In jedes einzelne hat jemand hineingeschrieben, warum er oder sie dieses Buch mag. Zu "Der dunkle Kristall" heißt es:
"Die Zeit hat mich verändert, aber dieses Buch liebe ich noch immer."
Sato-chan arbeitet hier, die junge Frau ist aber schüchtern, will nicht viel sagen. Schade. Stattdessen gehe ich zur Bar, dort werden Getränke - auch alkoholische - und Snacks angeboten. Für einen Besuch inclusive Getränke zahlt man tagsüber umgerechnet zehn Euro, abends sind es 40 Euro, wegen der Cocktails und des Essens. Da wird dann heiße Schokolade a la Momo angeboten, ein "Cutty Sark" wie in "Mister Aufziehvogel" oder ein Gericht aus geräuchertem Hering, eine Speise aus Agatha Christies "Zehn kleine Negerlein". Köstlich. Ein Ort zum Träumen eben – die Bibliothek im Wald.