1 Marcel Beyer et al. (Hg.): "Thomas Kling. Werke in vier Bänden"
Suhrkamp, Berlin 2020
2692 Seiten, 148 Euro
Das Jahr der Altmeister
08:36 Minuten
2020 war weniger das Jahr der großen Lyrik-Neuentdeckungen. Es ist ein Jahr der Entgipsung, Entstaubung und Wiederbegegnung. Unsere Bestenliste enthält Klassiker wie Trakl und Celan, sowie Zeitgenossen wie Marcel Beyer und Elke Erb.
Als "literarisches Großereignis" feiert Richard Kämmerlings das Erscheinen dieser Werkausgabe. Das ist eine elegante Untertreibung. Thomas Kling ist der bedeutendste deutsche Lyriker der letzten 40 Jahre, ein Revolutionär, eine Rampensau, ein intellektuelles Atomkraftwerk, das Avantgarde und Alltag auf eine Art zusammengebracht hat wie niemand vor ihm und kaum einer nach ihm. 15 Jahre nach dem frühen Tod Klings präsentiert Suhrkamp nun eine Werkausgabe, die es in sich hat. Nicht nur, dass die Herausgeber um Marcel Beyer sich dankenswerterweise getraut haben, das zu Lebzeiten von Kling unter Verschluss gehaltene, äußerst aufschlussreiche Frühwerk zu veröffentlichen, sondern auch das Zusammentragen sämtlicher Essays ist gar nicht genug zu loben. Die Nachworte bieten selbst Klingkennern viel Neues und erlauben es, den Blick noch einmal zu weiten auf diesen herausragenden lyrischen Neuerer und begnadeten Vortragskünstler.
Nach "Graphit" wieder ein neuer Gedichtband von Marcel Beyer, einem der souveränsten deutschsprachigen Lyriker. Sein Dämonenräumdienst ist ein beeindruckendes Skurrileum aus Kindheitserinnerungen und lyrischen Paralleluniversen. Uns ein E (Ernst) für ein U (Unterhaltung) vormachen – und umgekehrt, das kann niemand so gut wie Marcel Beyer. Teil seines Erfolgsgeheimnisses ist der feine Humor, den er gleichsam als Binde- und Kontrastmittel einsetzt: "und ich bin wieder hier, wo / der Text stets auch der / Hausmeister ist, der nicht einmal / mit seinem Schlüsselbund grüßt".
2 Marcel Beyer: "Dämonenräumdienst"
Suhrkamp, Berlin 2020
173 Seiten, 19,99 Euro
Endlich wieder alle Gedichte in einem Band plus bislang unveröffentlichte! Dazu die Briefe, auch hier unbekannte darunter und erhellende. Dieser Ziegelstein ist nicht nur was für Germanistinnen und Germanisten, sondern für alle, die gleichsam kräftige und düstere Lyrik mögen. Der Meister der Melancholie verwittert nicht, seine Verse sind wie in Granit gehauene Ewigkeiten: "Schlaf und Tod, die düstern Adler / Umrauschen nachtlang dieses Haupt"; oder "Am Abend wenn die Glocken Frieden läuten"; oder "Schaudernd unter herbstlichen Sternen / Neigt sich jährlich tiefer das Haupt". Das haut rein – und wer so etwas einmal gelesen hat, vergisst es so schnell nicht mehr.
3 Hans Weichselbaum (Hg.): "Georg Trakl. Dichtungen und Briefe"
Otto Müller Verlag, Salzburg 2020
620 Seiten, 39 Euro
Ein klug platzierter und klug editierter Band der diesjährigen Büchnerpreisträgerin. Rinck/Popp, eine Wessi und ein Ossi haben ihre persönlichen Lieblingsgedichte aus über einem halben Jahrhundert Schaffenszeit zusammengestellt. Ihre Anthologie macht nachvollziehbar, warum Elke Erb bis heute "für junge Dichterinnen und Dichter eine wichtige Stimme und Inspiration ist", wie sie im Nachwort schreiben.
4 Steffen Popp/Monika Rinck (Hg.): "Elke Erb. Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte"
Suhrkamp Berlin 2020
210 Seiten, 20 €
50 Jahre nach Celans Freitod ergänzt diese neue Gesamtausgabe die von 2003 um noch mal fast 60 Gedichte und erweitert/aktualisiert den Kommentar auf Grundlage neu ausgewerteter Quellen wie zum Beispiel Celans Lesespuren in seiner Bibliothek. Das bringt uns den angeblich so hermetischen Dichter näher als je zuvor.
5 Barbara Wiedemann (Hg.): "Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe."
Suhrkamp, Berlin 2020
1262 Seiten, 34 Euro