Wer hat das Längste?
Wer es sich leisten konnte, hat in 2016 sein Musikvideo im Stile eines Kurzfilms gedreht - lang, ausführlich, mit Geschichte und Message. Welche anderen Trends hatten die Musikvideos 2016 noch zu bieten?
Das beliebteste Musikvideo des Jahres ist weder von Beyonce noch von Frank Ocean. Es ist kein aufwändiger Kurzfilm,und hat wenig bis gar keinen künstlerischen Anspruch. Das erfolgreichste Musikvideo 2016 ist dieses hier:
"Work From Home" von der amerikanischen Girl-Group Fifth Harmony. Aufrufe bei Youtube: Über 1,2 Milliarden.
Leichtbekleidete Sängerinnen tanzen lasziv auf einer Baustelle herum, dazu muskulöse, ebenfalls leichtbekleidete Bauarbeiter. Sex hat eben auch im letzten Jahr gesellt.
Und das weiß wahrscheinlich keiner so gut wie Kanye West, der in seinen Videos sehr gerne auf nackte Haut setzt - allerdings noch nie zuvor so offensiv wie im "Famous".
Das Musikvideo zu "Famous" hat dieses Jahr wohl die meisten Schlagzeilen gemacht hat - vom Spiegel über die FAZ bis zur Bildzeitung, alle haben über Wests "Skandalvideo" geschrieben. Ein Video, das auch Regisseur Werner Herzog gefallen hat:
"I have never seen anything like this… It’s very very interesting. I see something very wild here, which is essential in real deep storytelling."
West und seine Frau Kim Kardashian liegen nackt in einem riesigen Bett, neben ihnen ebenfalls nackt - und aus Wachs - u.a. Donald Trump, Rihanna, George W. Bush, Taylor Swift und Bill Cosby.
Ein Kommentar zu Berühmtheit, zu Voyeurismus, zur Star-Obsession der Medien, eine Hommage an das Gemälde "Sleep" von Vincent Desiderio - hinter den nackten Promis aus "Famous" steckt mehr, als im ersten Moment deutlich wird.
Wie sich Promis einsetzen lassen
Wie sich Prominenz in Musikvideos noch geschickt einsetzen lässt, um zum Nachdenken anzuregen, hat dieses Jahr Anohni gezeigt. Ihr Video zu "Drone Bomb Me" war damit gleichzeitig Teil eines anderen Musikvideo-Trends des letzten Jahres.
Wenn Supermodel Naomi Campbell mit Tränen im Gesicht Anohnis Zeilen über die unzähligen Drohnentoten in Afghanistan, Syrien und dem Irak singt, dann ist das eine sehr deutliche Anklage einer kaputten Welt. Eine offene Form des politischen Kommentars, die 2016 in vielen Videos zu sehen war.
In "Nobody Speak" von DJ Shadow und Run The Jewels gehen Politiker während einer hochoffiziellen Konferenz in Zeitlupe aufeinander los. Grimes und Jamie XX haben in "Gosh" und "Kill V Maim" dystopische Zukunftsvisionen gezeigt, MIA besteigt in "Borders" Flüchtlingsboote, in Austras "Utopia" und "Vodoo in My Blood" von Massive Attack unterwirft die Technologie den Menschen.
Für Radioheads Frontmann Thom Yorke blieb angesichts solch einer Welt im Video zu "Daydreaming" nur eine Konsequenz - verwirrt und ängstlich irrt er durch verschiedene Räume, um am Ende in einer kleinen Höhle in Embryo-Haltung darauf zu hoffen, das alles irgendwie wieder gut wird.
Bis ins kleinste Detail durchgeplant
Musikvideopreise wird es für solche Videos aber kaum geben. Die werden zum großen Teil wieder alle OK GO einheimsen.
Die Spezialisten für aufwändige, bis ins kleinste Detail durchgeplante Choreografien haben auch dieses Jahr wieder aufwändig, bis ins kleinste Detail durchgeplant choreografiert. Zum einen im Video zu "Upside Down Inside Out" in einem Flugzeug in der Schwerelosigkeit, zum anderem im Video zu "One Moment" in Superzeitlupe. Gegen bunte explodierende Dinge und fliegende Tanzeinlagen kommen politische Kommentare und Spiegelbilder der Realität selten an. Wobei der Comedian Patton Oswalt nach diesem katastrophalen Jahr immerhin noch eine kleine Hoffnung hat: Dass die Wahl von Donald Trump vielleicht doch nur Teil eines sehr sehr langen Videos von OK GO sein könnte.