Egal, ob Sie die Ferien am sonnigen Strand oder auf dem heimischen Sofa verbringen: Unsere Literaturredaktion empfiehlt Ihnen hier die perfekten Sachbücher für den Sommer.
Für Kaffee-Junkies und Pflanzenrechtler
Eine Empfehlung von Kim Kindermann.© Verlag Antje Kunstmann
Michael Pollan ist Kaffee-Junky. Im Selbstversuch verzichtet er darauf und ist auf einmal lahm, uninspiriert und gereizt – er bekommt echte Entzugserscheinungen. Warum, fragt Pollan, wird Koffein gesellschaftlich und politisch trotzdem begrüßt? Warum werden Mohn und Kaktus dagegen als Drogen deklariert und verboten?
Pollan verbindet die Erkenntnisse aus Biologie, Geschichte und Anthropologie zu einer großartigen Kulturgeschichte psychoaktiver Pflanzen. Dabei ist er ein hinreißender Erzähler. Was er schreibt, ist spannend, klug und unterhaltsam.
Er weitet den Blick auf medizinische und psychologische Anwendungsbereiche und will weg von der klaren Einteilung in gute Pflanzen versus böse Pflanzen. Sinnvoller sei es, von „Pharmakon“ zu sprechen, denn in dem Griechischen stecke beides drin: dass die Pflanzen schädlich sein können, aber auch hilfreich. Sie können giftig sein, aber trotzdem auch eine wunderbare Wirkung haben.
Dass wir uns dieser Erkenntnis wieder mehr öffnen müssen, zeigt dieses Buch. Das ist wirklich grandiose Sommerlektüre.
Wir stehen vor einem Atomspaltungsmoment
Eine Empfehlung von Florian Felix Weyh.© Ecowin Verlag
Man fragt sich, ob der hochkompetitive Wissenschaftsbetrieb, so wie er von Walter Isaacson schonungslos geschildert wird, nicht oft aus reinem Geltungsdrang und Egoismus Feuer an eine Lunte legt, von der wir noch nicht mal wissen, zu welchem Pulverfass sie führt.
Was wäre mit gen-editiertem Nachwuchs? Was mit einem vermutlich sehr viel ungerechteren Gesundheitssystem, wenn die Heilung von Erbkrankheiten zwar möglich wird, aber teuer und nur für wenige zugänglich bleibt?
Isaacson zitiert auch Putin, der euphorisch von gen-editierten, angstfreien Soldaten sprach, vor ein paar Jahren. Keine Frage: Wir stehen vor einer Art Atomspaltungsmoment.
Mit dem neuen Wissen und Können um die „Genschere“ CRISPR ist die Welt eine andere geworden. Ob eine bessere, das wird sich erst herausstellen. Isaacson schreibt: „Einfallsreichtum ohne Klugheit ist gefährlich.“
Eine absolute Sommerbuchempfehlung: Wann, wenn nicht in den Ferien, will man sich denn sonst über 700 Seiten mit der Zukunft der Menschheit befassen?
Die absurde und vergnüglich erzählte Geschichte von Wonder Woman
Eine Empfehlung von Catherine Newmark.© C.H. Beck
Der Psychologe William Moulton Marston war ein Scharlatan und ein Charmeur, ein Kämpfer für Frauenrechte und ein Enthusiast für erotische Bondage. In den 1910ern erfand er den Lügendetektor und in den 1940ern die Comic-Superheldin „Wonder Woman“.
Privat lebte er mit mehreren Frauen zusammen – eine Tatsache, die die Familie durchaus bewusst verheimlichte. Eine Partnerin im polyamourösen Geflecht war die Nichte von Margret Sanger, der prägenden US-amerikanischen Feministin der 1910er-Jahre, die für die Legalisierung von Empfängnisverhütung stritt.
Die Verbindungen der noch heute beliebten Comic-Figur „Wonder Woman“ zur frühen Frauenbewegung, zur leicht absonderlichen psychologischen Großtheorie des Professors Marston und zu seinen privaten Obsessionen entfaltet die US-Historikerin Jill Lepore, eine der besten Erzählerinnen ihrer Zunft, in einem extrem vergnüglichen Buch.
Plädoyer für eine empathische Erinnerungskultur
Eine Empfehlung von René Aguigah.© Propyläen Verlag
Die vielleicht brenzligste Frage, die Charlotte Wiedemann in diesem Buch stellt, lautet: „Gelten aus deutscher Perspektive womöglich nur die jüdischen Opfer als ein gleichwertiges Gegenüber?“ Allgemeiner formuliert: Welchen Toten, welchen historischen Massenverbrechen schenken wir unsere Empathie?
Mit dieser Frage im Hinterkopf bedenkt sie unterschiedliche Katastrophen, wie sie über die Erinnerung in die Gegenwart ragen. Verschiedene Episoden kolonialer Herrschaft kommen vor, darunter die rund eine Million Toten, die das Deutsche Reich in Afrika hinterlassen hat. Der Genozid im Kambodscha wird als „Menschheitsverbrechen im schlecht beleuchteten Hinterhof der Weltgeschichte“ charakterisiert.
Im westfälischen Stukenbrock, wo Zigtausende sowjetische Kriegsgefangene den Tod gefunden haben, vollzieht sie die Entstehung von Erinnerungskultur nach. Sie bereist das Baltikum, wo sie Erinnerungsstätten besucht und mit einem Holocaust-Überlebenden spricht. Und vieles mehr.
„Den Schmerz der Anderen begreifen“ gibt sich nicht mit Erinnerungsroutinen zufrieden – behutsam, nachdenklich, Horizonte erweiternd.
Philosophie des Fahrens
Eine Empfehlung von Catrin Stövesand.© Ullstein Verlag
Endlich eine Alternative zum Auto-Bashing, das gerade so im Trend liegt: Matthew B. Crawford feiert das Fahren. Sein Buch liest sich wie ein Roadmovie und es macht Spaß, das zu lesen.
Crawford ist Philosoph und Mechaniker. Er frönt seiner Leidenschaft als Schrauber, präsentiert viele Details aus der Automobilgeschichte, er preist Erfinder und Motorenteile und den „Homo Moto“. Damit meint er das Fahren als Erfahrung menschlicher Identität. Die sieht er in Gefahr – ausgerechnet durch die Erfindung des autonomen Fahrens. Der Rückzug ins assistierte Fahren hat für ihn auch eine politische Dimension, denn Demokratie verlange eine aktive Rolle statt passiven Mitfahrens.
„Philosophie des Fahrens“ klingt hochtrabend? Ja, das Buch bleibt aber immer auf dem Boden. Crawford lehnt sich überhaupt nicht aus dem Fenster, wenn er feststellt, dass die Tech-Konzerne, die das autonome Fahren erfinden, zur Datengenerierung gern all unsere Lebensbereiche erschließen und monetarisieren möchten. Crawford warnt vor dem wachsenden Einfluss der Unternehmen auf unseren ganzen Lebensraum – auch im Auto.
Sein Buch enthält vielleicht ein bisschen viel Fahrnostalgie, aber es macht Spaß und bietet viele kluge Gedanken. Sehr lesenswert.
Ein kulturwissenschaftlicher Blick auf den Strand
Eine Empfehlung von Shelly Kupferberg.© Berenberg Verlag
Bettina Baltschev liebt Strände. Sie sind für sie Sehnsuchtsorte, sie lassen Seele und Geist durchatmen. In Ihrem Buch nimmt sie uns an diverse Strände Europas mit und weitet den Blick, indem sie nicht nur die Spezifika jener unterschiedlichen Landschaften schildert. Vielmehr ist das Ganze ein persönlicher und gleichzeitig kulturwissenschaftlicher Blick auf ein paar ausgewählte Strände Europas.
Die Journalistin geht dem Geheimnis des Verlangens nach dem Strand in uns nach, schildert ihre eigenen Eindrücke, lässt aber auch Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Irmgard Keun, Joseph Roth oder auch den Maler Max Beckmann und viele andere zu Wort kommen, die sich dem Strand künstlerisch oder denkerisch gewidmet haben in ihrer Literatur, in der bildenden Kunst, als Exilort am Meer.
Dieses Buch ist ein Hybrid: ein Nachschlagewerk, eine Kultur- und Landschaftsgeschichte, ein poetisch hinterfragender Text. Eine vielleicht etwas andere – aber in jedem Fall sich lohnende Urlaubslektüre.