Jörg Phil Friedrich (geb. 1965) ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster und lebt bis heute von der Softwareentwicklung und vom Schreiben philosophischer Texte. Zuletzt erschien sein Buch "Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?" (Alber 2019).
Denkraum und Ort analoger Magie
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Wenn selbst alte Pergamente und Lutherbibeln inzwischen digital verfügbar sind, wozu braucht man dann noch Bibliotheken? Der Philosoph Jörg Friedrich ist überzeugt, dass die Bibliothek eine Zukunft hat. Und sei es, weil es einer Cloud an Magie fehle.
Diesen Text hier wird niemals jemand in die Hand nehmen. Man wird nicht einmal wissen, an welchem Ort man ihn finden könnte. Irgendwo auf den Servern in "der Cloud" wird er gespeichert und kann dann an vielen Orten und immer wieder abgerufen werden.
Auch Texte, die einmal nur in physischer Form existierten, sind inzwischen digital verfügbar, darunter alte Pergamentrollen und die erste Lutherbibel, und zwar in einer Detailtreue, die dem Blick auf das Original zumeist verschlossen bleiben muss, weil kaum jemand so nah an ein altes Dokument herankommt und es so gründlich und in Ruhe studieren kann, wie es mit der digitalen Kopie möglich ist.
Warum schafft man noch Orte für Bücher und für das Arbeiten mit Texten? Warum baut man noch Bibliotheken? Gerade ist die Staatsbibliothek zu Berlin wieder eröffnet worden, es ist eigentlich ein Neubau an einem alten Ort, ein spektakuläres Gebäude für Studium und geistige Arbeit, zugleich ein Archiv voll mit Büchern und Handschriften.
Die Bibliothek als Co-Working-Space
Man hat gesagt, moderne Bibliotheken seien Co-Working-Plätze, die Lesesäle mit den Bücherregalen seien ein idealer Arbeitsort für Geistesarbeiter. Man sieht andere Menschen lesen, nachdenken, schreiben, das alles ergibt eine gedämpfte, aber nicht lautlose Stimmung, die jeden, der dazukommt, auch zu konzentrierter Arbeit motiviert.
Da ist sicherlich etwas Wahres dran, aber man stelle sich den Lesesaal der Staatsbibliothek genauso vor, wie er ist, aber eben irgendwo anders, ein paar Straßen weiter, und er wäre nichts als ein Co-Working-Saal und eben nicht das Zentrum dieser Bibliothek – wäre das wirklich die gleiche Stimmung?
Um den Unterschied zwischen diesen beiden Sälen mit einem Wort zu fassen, muss man wagen, einen Begriff zu benutzen, der schon lange aus der Mode gekommen ist: Magie.
Die Bibliothek als magischer Ort
Es ist ein Zauber, der von der Anwesenheit der richtigen Bücher ausgeht, die Tatsache, dass man an ein Regal herantreten kann, ein Buch herausziehen, mit den Händen darin blättern und aus den Zeichen auf dem vergilbten Papier einen Gedanken oder eine Geschichte herauslesen kann, ist ein Zauber. Hier sind alle Sinne beteiligt, man hat einen geistigen Inhalt buchstäblich in der Hand und weiß, dass der Gedanke wirklich in diesem Ding steckt, schon lange, und noch für lange Zeit.
Auch wenn die wertvollsten Originale im Tresor liegen, sind sie doch ganz nah. Wie bei jedem Zauber muss die Handlung nicht einmal wirklich ausgeführt werden, es genügt das Wissen, dass diese physischen Dinge, Bücher aus Leinen, Papier und Druckerschwärze, wirklich da sind – dieses Wissen verwandelt den Ort von einem Co-Working-Platz in eine Bibliothek, ein Gedanken-Gebäude.
Die Bibliothek als Denkraum
Man könnte fragen, was denn die Bibliotheken der Zukunft beherbergen werden, wenn es bald vielleicht keine physischen Bücher mehr gibt, in denen das Denken unserer heutigen Zeit aufbewahrt wird, wenn es keine Originalmanuskripte mehr gibt, in denen die großen Grübelnden unserer Tage ihre Gedanken mit eigener Hand aufgeschrieben haben. Was aus unserer Zeit wird den Zauber weitertragen, der eine Bibliothek zum Denk-Raum macht? Wer weiß – vielleicht werden unsere Gedanken gar nicht gebraucht, weil wir doch so viel Großes von unseren Vorfahren in den Regalen finden.
Vielleicht aber sollte ich diesen Text nun ausdrucken – und die letzten Korrekturen mit einem Bleistift auf diesem Blatt vornehmen. Und dann werde ich das Blatt weglegen – sicherlich wird es nicht zum Bestand einer zukünftigen Bibliothek werden, aber vielleicht findet es ein Urenkelkind von mir und wird von einem Zauber berührt, der dadurch entsteht, dass das Kind beim mühsamen Entziffern meiner Notizen auf dem alten Papier meint, eine ferne Stimme zu hören, die aus der Vergangenheit herüberklingt.