Die ganze Geschichte präsentiert der Sonderforschungsbereich "Episteme in Bewegung" der FU Berlin ab dem 14.10. als Podcast im Netz unter www.hinter-den-dingen.de.
Wohin die Himmelsleiter führt
10:27 Minuten
Was offenbaren Träume? Sind sie nur Hirngespinste oder ernst zu nehmen? Anhand eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhunderts geben Forschungen an der FU Berlin Einblicke in die Zusammenhänge von Träumen und der Entstehung von Wissen in früherer Zeit.
Ein vermutlich 1691 von Michael Willmann angefertigtes Gemälde im Berliner Bode-Museum steht im Zentrum der Betrachtung: Es trägt den Titel "Landschaft mit dem Traum Jakobs".
"Im Vordergrund, rechts unten, liegt der schlafende Jakob, den Kopf auf einen Stein gebettet. Von ihm ragt diagonal eine Leiter in den Himmel – von rechts unten nach links oben – auf der Engel auf- und absteigen. Die Leiter führt hinauf in himmlische Regionen, durch die Wolken, wo es immer heller wird. Sie geht schließlich in einer Lichtfläche auf, wo sich ganz vage und nur in Umrissen erahnen lässt, dass Gott sich dem Träumenden zeigt."
Das Motiv stammt aus dem alten Testament. Nachdem Jakob sich auf Kosten seines älteren Bruders Esau den Segen des Vaters erschlichen hat, muss er fliehen. Da erscheint ihm Gott im Traum und verheißt ihm nicht nur Beistand, sondern auch, dass er zum Ahnvater der zwölf Stämme Israels werden wird:
"Und siehe, ich bin mit Dir, und werde Dich behüten, wohin Du auch gehst, und werde Dich zurückbringen in dieses Land, denn ich werde Dich nicht verlassen, bis dass ich getan habe, was ich Dir gesagt habe."
Wie Jakobs Geschichte seit Jahrhunderten herangezogen wurde, um philosophische und theologische Fragen zu veranschaulichen, darüber forschen die Philosophin Anne Eusterschulte und die Judaistin Hanna Zoe Trauer vom Sonderforschungsbereich "Episteme in Bewegung" der Freien Universität Berlin.
Wichtig ist Anne Eusterschulte dabei, "Traditionen nicht nebeneinander, sondern in ihrem Ineinander und ihren wechselseitigen Veränderungsbewegungen zu untersuchen – und das heißt sowohl unterschiedliche theologische als auch philologische und philosophische Ströme stets in ihren Wirksamkeiten und in ihren Verflechtungen zu untersuchen."
Für ihr Forschungsprojekt "Imaginatio. Imaginatives Sehen und Wissen – Theorien mentaler Bildlichkeit in Philosophie und Theologie des Mittelalters" haben die Wissenschaftlerinnen zunächst Jakobs Traumoffenbarung untersucht.
"Jakob ist eben darauf angewiesen zu begründen, dass dieser Traum nicht nur ein Hirngespinst, oder nicht nur ein Fiebertraum war, sondern dass das, was ihm im Traum passiert ist, wirklich auch Anspruch darauf hat, ernst genommen zu werden."
"Welche Berechtigung hat Traumwissen? Welche höhere Quelle bringt sich hier zu Geltung? Und welche wissenschaftlichen Grundlegungen müssen herbeigeführt werden, um das zu bestätigen?"
Die Jakobsleiter wird immer wieder unterschiedlich ausgelegt
Der im 4. Jahrhundert vor Christus lebende griechische Philosoph Aristoteles hielt es für unwahrscheinlich, dass Gott zu den Menschen im Traum spreche – denn schließlich hätten auch unvernünftige Menschen und sogar Tiere Träume. Demgegenüber sah der Philosoph Synesius von Kyrene um 400 nach Christus in der Intensität der inneren Wahrnehmung im Traum sehr wohl einen Hinweis auf Gottes Wirken. Verblüffenderweise, so Anne Eusterschulte, ziehen Philosophen des Mittelalters dann aber doch teilweise Aristoteles heran, um Gott als Ursache von Traumvisionen zu beweisen.
"Gerade die aristotelische Tradition im mittelalterlichen Kontext zeigt auf überraschende Weise, wie eine Umdeutung aristotelischer Schriften, der Einfluss von Platonismen und Neuplatonismen, aber gerade die arabischen Übersetzungen aristotelischer Texte, die Offenbarungsquelle Gott oder eine höhere Instanz wieder zur Geltung bringen..."
Die mittelalterliche Übersetzung der aristotelischen Schriften transferiert Wissen, verflicht es mit bereits vorhandenen Denktraditionen, schafft neue Deutungsmuster und Assoziationen. Auch die Jakobsleiter selbst wird über die Jahrhunderte hinweg unterschiedlich ausgelegt und ist damit geradezu ein Paradebeispiel von Wissenstransfer.
Hanna Zoe Trauer: "Eine Möglichkeit, das Auf- und Absteigen an der Leiter zu verstehen, die schon in der Antike im Judentum verbreitet ist, sieht in den Engeln nicht Engel, sondern die Vertreter der Weltreiche, also bspw. des Griechischen und des Römischen Reiches. Sie verstehen die Leiter als eine Metapher für das politische Geschehen. Die Könige der verschiedenen Reiche steigen an der Leiter hinauf, müssen aber auch immer wieder hinuntersteigen, denn Gott steht oben auf der Leiter, und er hat Jakob versprochen, dass er, Jakob, zur Herrschaft zurückkehren wird. Das zeigt auch, dass die weltlichen Situationen von Krise und Unterdrückung des Judentums hier immer nur als Zwischenzustände verstanden werden."
Der biblische Jakob als Mittler zwischen Mensch und Gott
In der christlichen Theologie wiederum steht Jakob mit seiner Leiter als Vorbote Christi, als Vermittler zwischen Mensch und Gott. Die einzelnen Stufen können aber auch als moralische Besserung der Seele auf ihrem Weg zu Gott gedeutet werden. Oder in der Wissenschaft als Erkenntnisgewinn vom sinnlichen über das bloß vorgestellte zum rationalen Wissen.
"Wir sehen hier schon in dieser Vielfalt der Deutungen – die Jakobsleiter als Tugendleiter, als Aufstieg in den Wissenschaften, als kosmologischer Aufstieg, aber auch als politischer Aufstieg der verschiedenen Weltreiche –, dass die Leiter, von der Jakob träumt, als Denkmodell in ganz verschiedenen Bereichen Anwendung findet."
Die Judaistin sieht hierbei auch eine enge Verknüpfung mit der Frage nach Krise und Hoffnung.
"Jakob auf der Flucht, der von Gott wieder Versicherung erhält, spiegelt sich in der politischen Deutung von den unterdrückten Juden, die anhand der Jakobsleiter die Versicherung erhalten, wieder zur Herrschaft aufzusteigen, wieder in Sicherheit zu kommen."
Die Philosophin Anne Eusterschulte bezeichnet die Jakobsleiter deshalb auch als eine "Kippfigur". Eine Figur, die unabhängig von ihrem biblischen Ursprung in Jakobs Traum in vielen Facetten auftritt.
"So dass man Kontinuität und Veränderung, Transformation, die sich im Material, in den medialen Bereichen des Thematisierens dieser Kippfigur zwischen Hoffnung und Trauer, zwischen Zeitlichem und Überzeitlichem, zwischen menschlicher Seele und einer Art Instanz, auf die sich diese menschliche Seele richten kann, zwischen der Frage, welche Rolle Träume spielen und ob diese Träume Realitätscharakter besitzen können, immer wieder neu bedenkt und thematisiert."
Selbstverständlich taucht die Jakobsleiter auch in den Krisensituationen des 20. Jahrhunderts immer wieder auf – besonders prominent etwa in Arnold Schönbergs unvollendet gebliebenem, gleichnamigem Oratorium, das er während des ersten Weltkriegs schrieb. Doch zurück zu Michael Willmanns Gemälde: Auch Ende des 17. Jahrhunderts stand es für die Hoffnung nach der Krise: Es zierte das Refektorium des niederschlesischen Klosters Leubus, das nach den Zerstörungen im 30-jährigen Krieg wieder aufgebaut worden war.