Die Bildhaftigkeit des Deutschen als Hilfsmittel der Psychoanalyse
Georges-Arthur Goldschmidt wurde zwar 1928 in Deutschland geboren, verbrachte seine Kindheit aber in einem französischen Internat, was ihn vor den Nazis rettete. In "Freud wartet auf das Wort" bewundert er die Bildmächtigkeit der deutschen Sprache und wie sich Freud dieser zur Beschreibung der Psyche bedient hat.
Während einer internationalen Konferenz fragte ein französischer Politiker seinen deutschen Dolmetscher, warum übersetzen Sie nicht endlich? Er antwortete lakonisch: "Ich warte auf das Verb".
Solange das letzte Wort eines deutschen Satzes nicht ausgesprochen ist, bleibt sein Sinn in der Schwebe. Das muss auch Sigmund Freud bei seinen Patienten häufig erlebt haben, vermutet Georges-Arthur Goldschmidt. Deshalb der rätselhaften Buchtitel: "Freud wartet auf das Wort." Goldschmidt, der einige seiner Bücher auf deutsch verfasst hat, andere auf französisch, staunt über die Verschiedenheit der beiden Sprachen. Nirgendwo zeige sie sich treffender als beim Versuch, Freuds Prosa ins Französische zu übersetzen. "Wie sieht wohl das Deutsche auf französisch aus", fragt er sich.
"Die Schlüsselwörter des Freudschen Denkens sind im Französischen undurchschaubar. Freuds Texte liegen in jeder Sprache von Anfang an anders, sowohl was ihren Verlauf, als auch, was ihre Zugänglichkeit betrifft. Das "Sprachniveau" ist ganz unterschiedlich, und das hat nicht Freud so gemacht, sondern die Sprache selbst. (...) Jeder, der Deutsch kann, kann Freud auf Deutsch lesen, vorausgesetzt, er ist des Lesens mächtig; vielleicht ist der Sinn ihm "zu hoch", die Wörter sind es nicht. (...) Auf Französisch ist Freud keineswegs allgemein zugänglich, dazu muss man schon über ein ziemlich umfängliches Spezialvokabular verfügen."
Der Entdecker der Psychoanalyse schöpfte aus der Alltagssprache. Aus dem vorhandenen, nahezu unbegrenzten Sprachmaterial prägte er Begriffe wie "das Unbewusste", "der Trieb", "die Verdrängung". Der berühmte Freudsche Satz: "Wo Es war soll Ich werden" klingt auf Deutsch ziemlich harmlos. Ihn ins Französische zu übersetzen, ist zum Verzweifeln schwer. Das Wörtchen "es" ließe sich als "en" übertragen, bedeutet dann aber etwas anderes... Für "Ich" gibt es zwar zwei Wörter, aber keines passt so richtig. Französisch ist abstakt. Deutsch dagegen bildhaft.
"Ein Umkleideraum (vestaire) ist ein Raum, in dem man die Kleider wechselt; (...) Das Feuerzeug - briquet ist im Französischen nach seiner Ziegelform benannt, im Deutschen einfach in seiner Funktion beschrieben. Der Schuhlöffel nach seiner gebogenen Form, im Deutschen folgt die Form "Löffel" der Funktion: für den Schuh. (...) Das Krankenhaus - hopital - ist ein Haus für die Kranken, der Krankenwagen - ambulance - das Fahrzeug, das sie dorthin bringt. (...) All diese Wörter machen das, wovon sie sprechen, sichtbar, wahrnehmbar, fast körperlich spürbar: Wer poubelle hört, weiß nicht, wovon die Rede ist, der Mülleimer kippt einem den Mist vor die Füße."
Das klingt wie ein Lobgesang auf die deutsche Sprache. Aber so einfach macht es Goldschmidt seinen Lesern dann doch nicht. Die Möglichkeit, im Deutschen fast unbegrenzt Wörter zusammenzusetzen, zu kombinieren und neu zu "schöpfen", lädt auch zum Missbrauch ein. Beispiel: Die unsäglich raunende Prosa des Philosophen Martin Heidegger. Und war es wirklich nur ein Zufall, dass ausgerechnet die Nationalsozialisten so erfinderisch waren, wenn es darum ging, Wortungeheuer wie "Sonderbehandlung" und "Vergasung" hervorzubringen?
"Anders als viele seiner Zeitgenossen - selbst solche, die mit dem Nazidreck nicht das geringste zu tun hatten - hat Freud nie die unbegrenzten Verknüpfungsmöglichkeiten des Deutschen missbraucht; es ist eher die Kühnheit des Denkens als die vermeintliche Tiefe lexikalischer Zusammenhänge, die seine Schriften kennzeichnet. (...) Weglassen und Eingrenzen der unendlichen Möglichkeiten zeichnen die großen deutschen Schriftsteller aus; genau das hat Freud stets getan."
Im Deutschen kann sich jeder an der Überfülle der Sprache bedienen. Im Französischen ist es genau umgekehrt. Man muss versuchen, das vorhandene Vokabular bestmöglich zu nutzen. Wortschöpfungen sind nur sehr begrenzt möglich und daher selten.
Wie hätten Theorie und Praxis der Psychoanalyse ausgesehen, wenn sie zuerst in Frankreich entdeckt worden wäre, fragt Georges-Arthur Goldschmidt schließlich:
"Wenn die analytische Deutung nur durch und für die deutsche Sprache Sinn gehabt hätte, hätte es die Psychoanalyse nicht gegeben. (...) Auch wenn die deutsche Sprache auf ihre Weise der Psychoanalyse den Zugang zu ihrem Gegenstand erleichterte, hätte die Psychoanalyse doch andere Wege gefunden, wenn sie vor dem Deutschen in anderen Sprachen entstanden wäre; so kann nicht die deutsche Sprache Gegenstand der Analyse sein, sondern nur die, die sie sprechen."
Manche Wertungen des Autors schießen übers Ziel hinaus: Etwa, wenn er behauptet, der Nationalsozialismus sei "in erster Linie" ein Anschlag auf die Sprache gewesen. Dennoch sind seine klugen und lehrreichen Betrachtungen auch für Nicht-Philologen faszinierend zu lesen.
George-Arthur Goldschmidt: Freud wartet auf das Wort
Freud und die deutsche Sprache II
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Ammann Verlag April 2006
256 Seiten. Gebunden
Solange das letzte Wort eines deutschen Satzes nicht ausgesprochen ist, bleibt sein Sinn in der Schwebe. Das muss auch Sigmund Freud bei seinen Patienten häufig erlebt haben, vermutet Georges-Arthur Goldschmidt. Deshalb der rätselhaften Buchtitel: "Freud wartet auf das Wort." Goldschmidt, der einige seiner Bücher auf deutsch verfasst hat, andere auf französisch, staunt über die Verschiedenheit der beiden Sprachen. Nirgendwo zeige sie sich treffender als beim Versuch, Freuds Prosa ins Französische zu übersetzen. "Wie sieht wohl das Deutsche auf französisch aus", fragt er sich.
"Die Schlüsselwörter des Freudschen Denkens sind im Französischen undurchschaubar. Freuds Texte liegen in jeder Sprache von Anfang an anders, sowohl was ihren Verlauf, als auch, was ihre Zugänglichkeit betrifft. Das "Sprachniveau" ist ganz unterschiedlich, und das hat nicht Freud so gemacht, sondern die Sprache selbst. (...) Jeder, der Deutsch kann, kann Freud auf Deutsch lesen, vorausgesetzt, er ist des Lesens mächtig; vielleicht ist der Sinn ihm "zu hoch", die Wörter sind es nicht. (...) Auf Französisch ist Freud keineswegs allgemein zugänglich, dazu muss man schon über ein ziemlich umfängliches Spezialvokabular verfügen."
Der Entdecker der Psychoanalyse schöpfte aus der Alltagssprache. Aus dem vorhandenen, nahezu unbegrenzten Sprachmaterial prägte er Begriffe wie "das Unbewusste", "der Trieb", "die Verdrängung". Der berühmte Freudsche Satz: "Wo Es war soll Ich werden" klingt auf Deutsch ziemlich harmlos. Ihn ins Französische zu übersetzen, ist zum Verzweifeln schwer. Das Wörtchen "es" ließe sich als "en" übertragen, bedeutet dann aber etwas anderes... Für "Ich" gibt es zwar zwei Wörter, aber keines passt so richtig. Französisch ist abstakt. Deutsch dagegen bildhaft.
"Ein Umkleideraum (vestaire) ist ein Raum, in dem man die Kleider wechselt; (...) Das Feuerzeug - briquet ist im Französischen nach seiner Ziegelform benannt, im Deutschen einfach in seiner Funktion beschrieben. Der Schuhlöffel nach seiner gebogenen Form, im Deutschen folgt die Form "Löffel" der Funktion: für den Schuh. (...) Das Krankenhaus - hopital - ist ein Haus für die Kranken, der Krankenwagen - ambulance - das Fahrzeug, das sie dorthin bringt. (...) All diese Wörter machen das, wovon sie sprechen, sichtbar, wahrnehmbar, fast körperlich spürbar: Wer poubelle hört, weiß nicht, wovon die Rede ist, der Mülleimer kippt einem den Mist vor die Füße."
Das klingt wie ein Lobgesang auf die deutsche Sprache. Aber so einfach macht es Goldschmidt seinen Lesern dann doch nicht. Die Möglichkeit, im Deutschen fast unbegrenzt Wörter zusammenzusetzen, zu kombinieren und neu zu "schöpfen", lädt auch zum Missbrauch ein. Beispiel: Die unsäglich raunende Prosa des Philosophen Martin Heidegger. Und war es wirklich nur ein Zufall, dass ausgerechnet die Nationalsozialisten so erfinderisch waren, wenn es darum ging, Wortungeheuer wie "Sonderbehandlung" und "Vergasung" hervorzubringen?
"Anders als viele seiner Zeitgenossen - selbst solche, die mit dem Nazidreck nicht das geringste zu tun hatten - hat Freud nie die unbegrenzten Verknüpfungsmöglichkeiten des Deutschen missbraucht; es ist eher die Kühnheit des Denkens als die vermeintliche Tiefe lexikalischer Zusammenhänge, die seine Schriften kennzeichnet. (...) Weglassen und Eingrenzen der unendlichen Möglichkeiten zeichnen die großen deutschen Schriftsteller aus; genau das hat Freud stets getan."
Im Deutschen kann sich jeder an der Überfülle der Sprache bedienen. Im Französischen ist es genau umgekehrt. Man muss versuchen, das vorhandene Vokabular bestmöglich zu nutzen. Wortschöpfungen sind nur sehr begrenzt möglich und daher selten.
Wie hätten Theorie und Praxis der Psychoanalyse ausgesehen, wenn sie zuerst in Frankreich entdeckt worden wäre, fragt Georges-Arthur Goldschmidt schließlich:
"Wenn die analytische Deutung nur durch und für die deutsche Sprache Sinn gehabt hätte, hätte es die Psychoanalyse nicht gegeben. (...) Auch wenn die deutsche Sprache auf ihre Weise der Psychoanalyse den Zugang zu ihrem Gegenstand erleichterte, hätte die Psychoanalyse doch andere Wege gefunden, wenn sie vor dem Deutschen in anderen Sprachen entstanden wäre; so kann nicht die deutsche Sprache Gegenstand der Analyse sein, sondern nur die, die sie sprechen."
Manche Wertungen des Autors schießen übers Ziel hinaus: Etwa, wenn er behauptet, der Nationalsozialismus sei "in erster Linie" ein Anschlag auf die Sprache gewesen. Dennoch sind seine klugen und lehrreichen Betrachtungen auch für Nicht-Philologen faszinierend zu lesen.
George-Arthur Goldschmidt: Freud wartet auf das Wort
Freud und die deutsche Sprache II
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Ammann Verlag April 2006
256 Seiten. Gebunden