Die Blume südlich des Baumes
Der Autor versucht die Fehler und Fallstricke nachzuvollziehen, die zu dem Irrglauben führten, unsere Sprache bestimme was wir denken könnten und was nicht. Historisch kundig, detailreich und spannend erzählt er diese Ideengeschichte.
Der Himmel ist blau, The sky is blue, Le ciel est bleu. Egal, welche Sprache ich spreche: Der Himmel ist blau. Daran ändert sich nichts, sollte man meinen. Aber warum ist dann in der Ilias nie davon die Rede? Konnten die alten Griechen kein blau sehen, oder fehlten Homer einfach die Worte? Der Linguist Guy Deutscher nimmt einen genauen Blick auf das Farbvokabular Homers als Ausgangspunkt für seine Suche nach der Antwort auf eine der großen Fragen der Sprachwissenschaft: Wie beeinflusst unsere Muttersprache unsere Wahrnehmung der Welt?
In den 1930er Jahren verkündete der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf: Er habe eine Sprache ohne Zeitbegriffe gefunden, die Sprache der nordamerikanischen Hopi Indianer. Forsch schloss er, die Hopi könnten über Zeit nicht so denken wie wir. Seine These von der linguistischen Relativität machte ihn schlagartig berühmt. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die Hopi sehr wohl über Zeitbegriffe verfügten und es ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, unsere Zeitvorstellungen zu verstehen.
Fast die Hälfte seines Buches bestreitet Guy Deutscher damit, die Fehler und Fallstricke nachzuvollziehen, die zu dem Irrglauben führten, unsere Sprache bestimme, was wir denken könnten und was nicht. Historisch kundig, detailreich und spannend erzählt Deutscher diese Ideengeschichte. Doch all dies nur als Vorlauf für das, was ihn wirklich umtreibt: Die Frage, ob nicht doch etwas dran sein könnte an dieser Idee.
Da gibt es zum Beispiel das Guungu Yimithirr, die Sprache einiger australischer Aborigines. Deren Sprecher orientieren sich im Raum allein durch absolute Koordinaten: Nord, Süd, Ost, West. Die bei uns übliche egozentrische Raumorientierung (links, rechts, vor, hinter) ist ihnen unbekannt. Sie sagen nicht: "Schau mal, die Blume da vor dem Baum", sondern: "Schau mal, die Blume da südlich vom Baum." Fordert man ältere Guungu Yimithirr-Sprecher dazu auf, eine Geschichte nachzuerzählen, die sie im Fernsehen gesehen haben, dann kann man aus ihrer Erzählung stets schließen, ob der Fernseher nördlich, südlich, östlich oder westlich von ihnen stand.
In den vergangenen Jahren haben eine Vielzahl ausgeklügelter Experimente feine, aber unübersehbare Unterschiede in unserer Wahrnehmung der Welt zutage gefördert: Die Geschlechtsunterscheidung in Sprachen wie Deutsch oder Französisch beeinflusst unsere Assoziationen mit bestimmten Wörtern. Russisch-Sprecher haben zwei verschiedene Begriffe für Hellblau und Dunkelblau und können eng beieinander liegende Blautöne schneller bestimmen.
Homer sah genauso viele Farbtöne wie wir heute. Aber das Farbvokabular des Altgriechischen war schwächer. Unsere Muttersprache entscheidet nicht darüber, wie logisch oder abstrakt wir denken können, sagt Deutscher. Aber sie beeinflusst doch unser Gedächtnis, unsere Assoziationen und einige unserer praktischen Fähigkeiten, wie die Orientierung im Raum. Es bedarf keiner wilden Hypothesen à la Whorf, sondern exakter empirischer Feldforschung und wohl überlegter Experimentalpsychologie, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Sprache unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst.
Was Deutscher über solche Entdeckungen berichtet, öffnet die Augen für die Wunder und Vielfalt der Welt. Dieses Buch auf der Westseite meines Schreibtischs: ein reines Lesevergnügen.
Besprochen von Sibylle Salewski
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
C.H. Beck, München 2010
320 Seiten, 22,95 Euro
In den 1930er Jahren verkündete der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf: Er habe eine Sprache ohne Zeitbegriffe gefunden, die Sprache der nordamerikanischen Hopi Indianer. Forsch schloss er, die Hopi könnten über Zeit nicht so denken wie wir. Seine These von der linguistischen Relativität machte ihn schlagartig berühmt. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die Hopi sehr wohl über Zeitbegriffe verfügten und es ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, unsere Zeitvorstellungen zu verstehen.
Fast die Hälfte seines Buches bestreitet Guy Deutscher damit, die Fehler und Fallstricke nachzuvollziehen, die zu dem Irrglauben führten, unsere Sprache bestimme, was wir denken könnten und was nicht. Historisch kundig, detailreich und spannend erzählt Deutscher diese Ideengeschichte. Doch all dies nur als Vorlauf für das, was ihn wirklich umtreibt: Die Frage, ob nicht doch etwas dran sein könnte an dieser Idee.
Da gibt es zum Beispiel das Guungu Yimithirr, die Sprache einiger australischer Aborigines. Deren Sprecher orientieren sich im Raum allein durch absolute Koordinaten: Nord, Süd, Ost, West. Die bei uns übliche egozentrische Raumorientierung (links, rechts, vor, hinter) ist ihnen unbekannt. Sie sagen nicht: "Schau mal, die Blume da vor dem Baum", sondern: "Schau mal, die Blume da südlich vom Baum." Fordert man ältere Guungu Yimithirr-Sprecher dazu auf, eine Geschichte nachzuerzählen, die sie im Fernsehen gesehen haben, dann kann man aus ihrer Erzählung stets schließen, ob der Fernseher nördlich, südlich, östlich oder westlich von ihnen stand.
In den vergangenen Jahren haben eine Vielzahl ausgeklügelter Experimente feine, aber unübersehbare Unterschiede in unserer Wahrnehmung der Welt zutage gefördert: Die Geschlechtsunterscheidung in Sprachen wie Deutsch oder Französisch beeinflusst unsere Assoziationen mit bestimmten Wörtern. Russisch-Sprecher haben zwei verschiedene Begriffe für Hellblau und Dunkelblau und können eng beieinander liegende Blautöne schneller bestimmen.
Homer sah genauso viele Farbtöne wie wir heute. Aber das Farbvokabular des Altgriechischen war schwächer. Unsere Muttersprache entscheidet nicht darüber, wie logisch oder abstrakt wir denken können, sagt Deutscher. Aber sie beeinflusst doch unser Gedächtnis, unsere Assoziationen und einige unserer praktischen Fähigkeiten, wie die Orientierung im Raum. Es bedarf keiner wilden Hypothesen à la Whorf, sondern exakter empirischer Feldforschung und wohl überlegter Experimentalpsychologie, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Sprache unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst.
Was Deutscher über solche Entdeckungen berichtet, öffnet die Augen für die Wunder und Vielfalt der Welt. Dieses Buch auf der Westseite meines Schreibtischs: ein reines Lesevergnügen.
Besprochen von Sibylle Salewski
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
C.H. Beck, München 2010
320 Seiten, 22,95 Euro