Die Brigade der Schattenmenschen

Von Andrea Rehmsmeier |
Der Moskauer Bauboom, mit dem der Aufstieg der russischen Hauptstadt zu einer der reichsten Wirtschaftsmetropolen der Welt begann, wäre ohne Wanderarbeiter nicht möglich gewesen. Schätzungsweise jeder sechste Einwohner der Millionenstadt ist nur zum Arbeiten gekommen. Viele von ihnen kommen aus Kirgistan.
Der Moskauer Bauboom, mit dem der Aufstieg der russischen Hauptstadt zu einer der reichsten Wirtschaftsmetropolen der Welt begann, wäre ohne Wanderarbeiter nicht möglich gewesen.

Schätzungsweise jeder sechste Einwohner der Millionenstadt ist nur zum Arbeiten gekommen. Mit dem dort verdienten Geld unterhalten sie ihre zurückgebliebenen Familien. Kirgistan, ein Gebirgsstaat in den Vorläufern des Himalayas, bestreitet ein Drittel seines Staatshaushaltes mit solchen Rücküberweisungen.

"Die machen uns hier die Löhne kaputt! Wir können jetzt keine Arbeit mehr finden, die vernünftig bezahlt ist. Weil es billiger ist, einfach ein paar von diesen "tschúriki" einzustellen - Entschuldigung, ich meine natürlich von den Gastarbeitern. Von denen kriegt man doch Zehn zum Preis von Dreien von uns!"

"Tschúriki" – die Schwarzköppe. Sie gehören zum Straßenbild von Moskau: Gesichter hinter winzigen Kioskfenstern, kaum zu erkennen im Dunkel der Verkaufsräume. Männer in den orangefarbenen Overalls der städtischen Abfallentsorgung, die zwischen Parkbänken hindurchhuschen und Plastikbecher aufsammeln.

Wenn man die Moskauer nach ihrer Meinung über diese Fremden fragt, ist in der Regel kaum Schmeichelhaftes zu hören. Menschen, die für wenig Geld schmutzige Arbeit machen, treffen in der wohlhabenden Metropole auf wenig Verständnis.

"Wir Russen würde diese Arbeit niemals machen wollen. Wie leben die eigentlich? Wovon leben sie? Wie viel bezahlt man ihnen? Warum tun sie das? Keine Ahnung! Wir sind dagegen, dass sie hier sind. Aber andererseits: Wir selbst würden doch so niemals arbeiten wollen!"

5000 Kilometer südöstlich von Moskau liegt die Republik Kírgistan – ein Gebirgsstaat in den Vorläufern des Himalayas. Hier, in Petróvka, ein Örtchen nahe der Hauptstadt Bischkék, lebt Maria Kondubáeva, Mutter von neun erwachsenen Kindern. In ihrem Backsteinhäuschen wohnt die Rentnerin gemeinsam mit zwei Söhnen und einer Enkeltochter.

Ein paar Hühner, ein Gemüsegarten und eine Rente, die hinten und vorne nicht reicht – das ist ihr Lebensunterhalt: Maria Kondubaeva weiß, warum Menschen ihre Heimat verlassen, warum sie bereit sind, miserable Jobs zu miserablen Bedingungen anzunehmen.

Maria Kondubaeva: "Als Rentnerin bekomme ich 1600 Kirgische Som im Monat, das sind 25 Euro. Das reicht nicht vorne und hinten, dafür kriegt man gerade mal einen Sack Mehl. Aber wir brauchen auch Zucker und Butter, und wir müssen für Wasser und Strom zahlen. Da bleibt zum Leben nichts mehr übrig."

Seit über fünf Jahren dauert die ökonomische Krise in Kirgistan nun schon an. Sie hat fast die gesamte Wirtschaft des Landes lahm gelegt. Deshalb schien es der Rentnerin ein Wink des Schicksals zu sein, als die Ehe ihrer ältesten Tochter zerbrach. Die Idee, sie zum Geld verdienen nach Moskau zu schicken, lag für sie nahe. Maria Kondubáevas Enkelin, die damals sechs Jahre alt war, blieb in Petrovka.

Maria Kondubáeva: "Sarina, meine Älteste, war die erste, die nach Moskau gegangen ist. Ihre Tochter Karina hat sie bei mir gelassen. Ich fand das gut, ich wollte, dass sie Geld verdient – dann kann sie uns finanziell unterstützen. Im Mai hat sie uns 12.000 Rubel geschickt, fast 300 Euro. Viel ist das nicht. Aber jetzt kann ich die Kleidung und die Schulkosten für die Kleine bezahlen. Na, ich klage nicht. Es reicht."

Vier Jahre ist es jetzt her, seit Sarina nach Moskau fuhr – und das Geld fließt seitdem all monatlich auf das Familienkonto. Später taten es zwei ihrer Söhne der Schwester nach. So wurde die Familie Teil der globalisierten Arbeitswelt – wie viele andere auch. Wer immer in Kirgistan jung und arbeitsfähig ist, der versucht, ins Ausland zu gehen – und schickt Geld an die daheimgebliebenen Eltern, Ehepartner, Kinder. Die Summen, die auf diese Weise zusammenkommen, sind enorm: Zu einem Drittel speist sich der kirigisische Staatshaushalt aus Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten. Es ist eine Armee von Billiglöhnern, die mit klagloser Bereitwilligkeit jede Art von Arbeit annimmt.

Eine Welt aus Waschbeton, mit Türklingeln, die keine Namensschilder tragen – so sehen in Moskau die Vorstadtviertel aus. Hier lebt jetzt Maria Kondubáevas älteste Tochter: Sarina, eine kleine, sportliche Frau in Jeans und T-Shirt, mit dezent geschminktem Gesicht und schwarzem Pferdeschwanz.

Gerade hat sie sich in der Küche eine Kochplatte für Teewasser erkämpft – das ist nicht einfach in einer Wohngemeinschaft, in der sich 33 Menschen eine Küche, zwei Wohnräume, eine Toilette und ein Waschbecken teilen.

Sarina: "In unserer Wohnung gibt es nur ein einziges Bett, darin schläft unsere Hauswirtin. Die mietet die Wohnung für uns alle, und sie schmiert die Polizei. Wenn ich morgens um sechs zur Arbeit gehe, dann muss ich aufpassen, dass ich im Dunkeln nicht auf die Schlafenden trete."

Im Flur herrscht Gedränge. Jemand putzt sich die Zähne, ein anderer wischt mit einem Lappen den Boden, ein dritter dreht ziellose Runden, das Handy am Ohr: Keine Zimmerpflanze, kein achtlos liegen gelassenes Papierchen. Stattdessen türmen sich Isomatten und Kulturbeutel an den Wänden. Sonntags sind alle sind erschöpft von der Woche. Der Fernseher ist der wichtigste Zeitvertreib.

Die Frauen arbeiten als Kioskverkäuferinnen und Putzhilfen, die Männer als Lastenträger und Bauarbeiter. Die einen verdienen 800 Euro im Monat, andere nur 80. Für Moskauer Verhältnisse ist das erbärmlich. Noch schlimmer ist es, wenn die Menschen um ihren Lohn gebracht werden - wie es kürzlich einem von Sarinas Mitbewohnern passiert ist, dem 24-jährigen Muchid, der auf einer Großbaustelle arbeitet.

Muchid: "Zwei oder drei Monatsgehälter habe ich nicht ausbezahlt bekommen: 50.00 Rubel, das sind über 1000 Euro! Ich habe in der Schlange um meinen Lohn angestanden. Doch als ich an der Reihe war, da ist der Subunternehmer, der mich angestellt hat, plötzlich aufgestanden und weggegangen. Ich habe mich beim Bauherren beschwert, aber der sagte nur: Was willst du, von unserer Seite sind die Lohnkosten korrekt ausgezahlt – fertig, aus! Da stehst du dann, und kannst nichts machen!"

Wer illegal in Russland lebt, hat keine Rechte – und auf irgendeine Weise illegal sind fast alle, die in dieser Wohngemeinschaft leben. Die einen, weil die Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, die anderen, weil die Arbeitserlaubnis gefälscht ist, wieder andere, weil die städtische Registrierung über eine andere Adresse läuft. Auch Sarina hat in Moskau zunächst schwarz gearbeitet. In ihrem ersten Jahr hat sie in einer U-Bahn-Station Bananen verkauft: täglich 18 Stunden von sechs Uhr morgens bis Mitternacht, ohne Pausenzeiten, und mit einem einzigen freien Tag im Monat.

Die Jobs, die folgten, waren nicht mehr ganz so hart. Heute arbeitet sie als Verkäuferin in einem Supermarkt – legal, sozial abgesichert, und mit einem Arbeitgeber, der ihre Arbeitserlaubnis gerade erst verlängert hat. Sie könnte zufrieden sein. Doch sie fühlt sich in Russland nicht willkommen. Oft denkt sie an Kirgistan. An Karina, ihre Tochter, die inzwischen fast zehn Jahre alt, und die sie in den vergangenen vier Jahren nur zweimal besucht hat. Wenn sie abends mit ihr telefoniert, dann kommt es vor, dass beide weinen müssen.

Sarina: "Lieber schicke ich meiner Familie das Geld, als selbst heim zu fahren. Ich werde wohl noch ein ganzes weiteres Jahr hier bleiben. Die Reise ist so teuer, da tut es mir einfach um die Fahrtkosten leid. 1000 Dollar ist in Moskau nicht viel, aber in Kirgistan ist das eine Menge Geld. Oh, was staunen sie dort, wie viel ich hier verdiene!"

Wälder, Siedlungen, Graslandschaft – Stunde um Stunde vergeht, der Blick aus dem Fenster aber ist immer derselbe: eine menschenleere Weite, die sich über 5000 Kilometer erstreckt. Vier Nächte und drei Tage fährt der Zug von Moskau nach Bischkek. "Gastarbeiter-Express" nennen ihn die Kirgisen scherzhaft.

Schmale Pritschen, über- und nebeneinander geschachtelt, bilden die Schlafbuchten - ohne Sichtschutz, mit zwei Toiletten pro Waggon. An einem der Seitentische sitzt ein junger Mann und schaut aus dem Fenster.

Azíz: "Ich dachte, ich verdiene mir was fürs Studium dazu, aber das hat nicht geklappt. 15.000 Rubel habe ich verdient, 350 Euro. Ich habe mehr ausgegeben als eingekommen. Dabei habe nur mal hin und wieder ein Bier getrunken – das tun doch alle. Irgendwann muss doch jeder mal entspannen!"
Azíz Kondubáev ist Sarinas kleiner Bruder. Eigentlich studiert er Agrarwissenschaft in Bischkék. Aber seine Studiengebühren hat er auch in Moskau nicht zusammenbekommen. Seit dort Wirtschaftskrise herrscht, sind die Zeiten hart geworden - für Einheimische genauso wie für Gastarbeiter. Viele Großbaustellen, bei denen früher Hunderte beschäftigt waren, stehen still.

Seit der Staat saftige Geldstrafen für Schwarzarbeit verhängt, stellen die Baufirmen lieber Einheimische ein. Azíz hat ein paar Wochen als Kellner und Verkäufer gearbeitet. Die restliche Zeit lief er ziellos durch Moskau - und das sauer verdiente Geld war schnell weg. Jetzt gehört er zu den vielen, die mit leeren Händen nach Hause reisen. Die zu lange nach Arbeit gesucht haben in einer Stadt, die keine Arbeit mehr für sie hat.

Nach anderthalb Tagen stoppt der Zug: die russisch-kasachische Grenze. Es ist früh am Morgen. Die Stimmung ist angespannt. Nur die beiden Zugbegleiter laufen geschäftig durch den Waggon und sammeln die Pässe ein. Demonstrativ halten sie Packen voller Rubelscheine in ihren Händen, bekommen von rechts und links weitere Scheine zugesteckt. Das Warten dauert Stunden.

Dann kommen die Grenzbeamten: Sie handeln gezielt, greifen einzelne Passagiere heraus, führen sie davon. Als diese eine halbe Stunde später wieder hereinkommen, haben sie missmutige Gesichtern. Eine zierliche Frau ist den Tränen nah.

Erst viel später, als der Zug schon längst wieder unterwegs ist, kann sie reden über das, was ihr an der Grenze passiert ist. Fast ihr ganzes Geld hat sie an das korrupte Netzwerk des Grenzverkehrs verloren: 4000 Rubel, das sind etwa 100 Euro.

"In Moskau habe ich meinem Arbeitgeber den Pass geben, damit er für mich eine Arbeitserlaubnis beantragt. Dass er den Stempel fälschen würde, das habe ich nicht gewusst! Ich habe ihm geglaubt! Außerdem habe ich Übergepäck. Auch dafür habe ich 1000 Rubel bezahlt. Die Zollbeamten haben mir aber nur eine Quittung über 275 Rubel geschrieben.
Den Rest habe ich unseren Zugbegleitern gegeben. Damit die dafür sorgen, dass wir vernünftig nach Bischkek kommen - die kasachisch-kirgisische Grenze kommt schließlich auch noch!"

Von solchen Geschichten gibt es viele in diesem Zug: Menschen, die erpressbar werden, weil sie sich im Dschungel der russischen Bürokratie verfangen haben. Die zum Arbeiten kamen und zu Illegalen wurden – ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen.

Zwei Tage und eine Nacht geht die Reise durch die kasachische Steppe. Eine Clique junger Männer verkürzt sich mit Gesang, Bier und Wodka die Zeit. Schließlich zeigt sich, schemenhaft, am Horizont ein Gebirgszug: Die kirgisische Grenze ist nahe. Ein schmächtiger Mann steigt zu: Seine Jeansjacke ist schmierig, sein Gepäck besteht aus einer Plastiktüte. Aber seine gute Laune steckt schnell den ganzen Wagen an. Auch er kommt aus Moskau. Arbeit hat er dort zwar nicht gefunden, erzählt er.

Aber darüber ist er im Nachhinein ganz erleichtert. Er lebt ohnehin lieber in Kirgistan bei seiner Familie. Bis zur kirgisischen Grenze ist er getrampt.

"Ich bin so dankbar, allen, die mir geholfen haben, dass ich bis hierhin gekommen bin. Erst bin ich mit einen gewissen Jura von Moskau nach St. Petersburg getrampt. Dann hat mich einer nach Rjasan mitgenommen – wie hieß er noch? Ach ja, Oleg! Und von da aus bin ich mit Viktor nach Penza gefahren.

Und dann hat mich Maxim nach Orenburg mitgenommen – dabei hatte ich keine Kopeke in der Tasche. Einmal hat mich ein Milizionär aufgegriffen, und sogar der hat mir auf seine Weise geholfen. Alle denen ein herzliches Dankeschön."

Jetzt sind es nur noch ein paar Stunden bis Bischkek. Zeit, die durchgeschwitzten Reiseklamotten zu wechseln. Die Frauen holen zum Schminken ihre Taschenspiegel heraus. Und auch Azíz, dem Studenten, erscheinen seine Moskauer Monate auf einmal in einem sehr viel freundlicheren Licht.

Azíz: "Ich habe viel über das Leben gelernt, über das Geld verdienen auch. Und darüber, wie es ist, weit weg von zuhause zu arbeiten - weg von der Familie. Ich fand es sogar interessant, einmal legal, und ein anderes Mal nicht legal zu arbeiten. Ich habe es alles selbst erlebt."
Zwei Wochen später: Längst hat der kirgisische Alltag Azíz eingeholt. Das Leben in den Backsteinhäuschen von Maria Kondubaeva, seiner Mutter, geht seinen Gang: Die Arbeit mit den Hühnern und dem Gemüsegarten, das Nachrechnen und Sparen. Aber es gibt etwas Neues: Azíz hat einen Brunnen gegraben. Eigentlich sind es nur zwei Eisenrohre und ein langer Metallhebel.

Doch wenn man den betätigt, dann schießt ein armdicker Strahl kaltes, klares Wasser hervor. Ab jetzt wird das Haus unabhängig sein von der städtischen Wasserversorgung: Die ist rationiert, kostet aber trotzdem mehr, als die Familie sich leisten kann.

Azíz: "Als es diesen Brunnen noch nicht gab, da hatten wir im Haus jeden Tag nur zwei Stunden fließendes Wasser. Ich will aber, dass wir immer Wasser haben. Ich will, dass es mit Hochdruck geschossen kommt. Darum werde ich noch tiefer graben und einen kleinen Motor einbauen. Drei Tage brauche ich noch. Irgendetwas muss ich ja schließlich für unser Zuhause tun!"
Neben Aziz steht seine Nichte Karina. Seit Azíz zurück in Petrovka ist, ist sie ihm nicht von der Seite gewichen. Alles will sie wissen über ihre Mutter – wie sie lebt in der in der fernen Großstadt, und ob sie bald nach Hause kommt. Dann fällt ihr etwas ein. Ein russisches Gedicht, das sie in der Schule gelernt hat.

Karina: "Es handelt von einem Mädchen, das alles für seine Mutter tut: Tonleitern üben, Mathe büffeln und Möhren essen. Jetzt aber ist die Mutter auf Dienstreise - und das Mädchen schaut nur fern, bis spät in die Nacht. Und auch der Vater sitzt nur so herum. Er tut so, als ob er Zeitung liest - aber mit seinen Gedanken ist er sehr weit weg."