Vereint gegen Johnson, kreativ im Protest
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Großbritannien: Popland, Klassenland, Brexitland. In zwei Wochen wird gewählt. "Fck Boris" heißt derzeit ein populärer Slogan, der sogar musikalisch verewigt wurde. Was machen Pop und progressive Kunst zwischen Ghettos und der City of London?
Am Dienstag war die Deadline für die Bürger Großbritanniens, sich für die Wahl zum Unterhaus am 12. Dezember zu registrieren. In letzter Minute haben sich Musiker und Kulturschaffende aufgerafft und sind mit Bekenntnissen zur Labour-Opposition und ihrem Chef Jeremy Corbyn an die Öffentlichkeit gegangen, darunter der Rapper Stormzy. Die Partei ihrerseits hat eine Charta für die Künste und "kulturelle Renaissance" im Umfang von einer Milliarde Pfund in Aussicht gestellt.
Wahlen sind das eine, Lebenswelt und Alltag das andere
Parteien, Politiker, Wahlen sind das eine, Lebenswelt und Alltag sind das andere – und die sind für sehr viele Briten, gerade auch die jungen, oft deprimierend. Sozialsystem abgerockt, Kulturförderung nicht mehr vorhanden, Bildung nur mitsamt enormer Verschuldung möglich, Rassismus und verschärfte Klassengegensätze – die Situation ist hochpolitisch.
Es gibt Kunst, die die Situation und die Lebensverhältnisse verarbeitet − solche, die sich mit Aktivismus verbindet, und solche, die rein ästhetisch ein Sinnbild der Lage bietet.
"Die Musikszene ist aufgewacht, etwas spät aufgewacht", sagt der Londoner Kulturjournalist Robert Rotifer. "351.000 Leute haben sich in der letzten Woche zum Wählen registriert, auf den allerletzten Drücker. Das führen viele direkt auf das Engagement von Stormzy zurück, der auf Instagram zum Wählen aufgerufen hat. Das hat eine starke Wirkung gehabt, vielleicht gerade noch rechtzeitig."
Auch die eigentlich eingeschlafene Bewegung Grime4Corbyn, die bei der Wahl 2017 so wesentlich war, scheint wieder zum Leben erwacht zu sein. "Nicht nur Stormzy, auch sehr viele andere sind da jetzt wieder dabei", sagt Rotifer. Warum so spät? "Es gab sicher eine Enttäuschung über Jeremy Corbyn wegen seines Standpunktes zum Brexit, der irgendwie herumlaviert ist. Diese jüngere Klientel will ganz entschiedene Worte zum Brexit hören."
Die junge Generation von britischen Musikerinnen und Musikern sei vereint gegen den Brexit, sagt Rotifer. Blicke man auf die älteren Künstler, sei bemerkenswert, dass Musiker wie Chris Martin von Coldplay sich jetzt für die Liberaldemokraten aussprächen, die ebenfalls klar für einen Verbleib in der EU sind. Ed Sheeran habe diesmal keine Wahlempfehlung gegeben, 2017 hatte er sich noch als großer Fan von Corbyn geoutet − er hat allerdings Stormzy nach seinem "Fck-Boris"-Auftritt beim Festival in Glastonbury als "perfekten Headliner" gelobt.
Die große Brexit-Müdigkeit
Seit Jahren changiert die Kulturszene zwischen Hysterie und Apathie. Doch der Brexit muss vielleicht keine Katastrophe, sondern kann auch eine Chance sein, meint Sarah Thom vom Berliner Politkunst-Kollektiv Gob Squad. Sie hat den Brexit bereits in einem Stück thematisiert und sagt:
"Es gibt eine Art Brexit-Müdigkeit in Großbritannien, weil es einfach schon so lange darum geht. Die Leute sind einerseits genervt, andererseits haben sie auch Angst und sind besorgt über ihre Zukunft. Ich selber warte lieber − ich bin natürlich auf Seiten von Jeremy Corbyn, weil es mich interessiert, wie er versuchen wird, einen neuen Deal hinzubekommen. Er will das Ergebnis ja dann zur Abstimmung stellen. Beim ersten Referendum wussten die Leute gar nicht, worüber sie abstimmen."
Sarah Thom nennt den Niedergang der öffentlichen Finanzierung von Kunst in Großbritannien "ziemlich schockierend", es könne kaum schlimmer werden. Deshalb sei der Plan von Corbyn, mehr Geld für Kunstprojekte zu investieren, natürlich gut und wecke Hoffnung. Aber die Künstler hätten selbst inzwischen kluge Überlebensstrategien entwickelt − und obwohl man ihnen so viel weggenommen habe, würden tolle Sachen entstehen, weil die Überlebensstrategien in die Arbeiten einfließen: "Die Austeritätspolitik ist eigentlich das größere Thema als der Brexit."
Kunst gegen den Überwachungsstaat
Die britische Gesellschaft ist polarisierter denn je − ein ideales Terrain für Künstler, um auch andere Debatten anzustoßen. Das Yoke Collective macht Kunstperformances im Grenzbereich zu Aktivismus, Identitätspolitik und Graswurzel-Netzwerken − unter anderem mit einem Projekt gegen die in Großbritannien allgegenwärtige Kamera-Überwachung. Mit ihren Dazzle Walks zeigt die Londoner Gruppe, wie Camouflage-Tricks gegen Gesichterkennungs-Software funktionieren. Erfunden hat die Technik der Künstler Adam Harvey.
Das Yoke Collective findet das Thema Überwachung im öffentlichen Raum so wichtig, weil das Gesicht heute sehr viel "wertvoller" sei als früher − voll mit Informationen zur Kontrolle und Identifizierung, die für polizeiliche oder kommerzielle Zwecke ausgebeutet werden können.
Wie funktioniert ein Dazzle Walk? Emily Roderick und Georgina Rowlands vom Yoke Collective erklären:
"Wir verwenden eine Technik namens cvdazzle, das ist ein Gesichtsfarbenmuster. Man kann unterschiedlich farbige Streifen im Gesicht haben, die dann die Gesichtserkennung blockieren. Wir machen seit August jeden Monat einen stummen Spaziergang und erkunden Gegenden in London, die extrem überwacht werden und eine Dichte an Kameras haben. Dann diskutieren wir unsere Erfahrungen mit Leuten, die an Überwachungspolitik interessiert sind."
Ihr Projekt beschäftige sich mit der politischen Instabilität in Großbritannien und sei auch als Unterstützung für die Bürger gedacht, ihre Position in dieser Gesellschaft zu bestimmen: "Bei all dem Brexit und den Wahlen versuchen wir, unsere Autonomie zu behaupten. Wir wollen, dass die breite Öffentlichkeit sich fragt, wo sie in diesem Überwachungsstaat steht."
(cre)