Die Care-Krise

Kümmert Euch!

Ein glückliches Rentner-Pärchen
Ein glückliches Rentner-Pärchen © imago stock&people / Westend 61
Von Paula-Irene Villa · 19.06.2018
Ist von Pflege die Rede, wird meistens von Notstand gesprochen, von knappen Zeitbudgets, Personalmangel und Finanzierungsproblemen. Das ist alles nicht falsch, geht aber am eigentlichen Kern vorbei, sagt die Soziologin Paula Irene Villa.
Wir wissen Bescheid. Eigentlich. Wir lesen oder hören nicht nur täglich darüber in den Nachrichten, wir erleben es selber. Täglich. Die Care-Krise. Die Krise des Sich-Kümmerns. Sie ist unmittelbar Alltag: bei der verzweifelten Suche nach einem Kitaplatz in Ballungsgebieten; wenn die gesetzlich zugesicherten Krankheitstage aufgebraucht sind, die Noro-Viren des Kindes sich aber nicht daran halten. Krise, wenn aus Teilzeit Altersarmut wird. Solche Alltagserfahrungen von Not und Überforderung sind Ausdruck eines strukturellen Problems: Care und Erwerbstätigkeit stehen in einem parasitären Verhältnis zueinander.

Ohne Care geht nichts

Erwerbsarbeit, also das, was wir gemeinhin "arbeiten gehen" nennen, beruht auf einem Fundament, das beständig erneuert werden muss: Die Arbeitskraft, die auf dem Arbeitsmarkt verkauft wird, muss täglich reproduziert werden. Eine Fülle von Erledigungen, Entlastungen und Wiederherstellungen sind dazu nötig. Sie betreffen einen selbst ebenso wie die Angehörigen: Einkaufen, putzen, schlafen, gesund bleiben, emotional stabil sein, Müll runter bringen, Windeln wechseln, kochen; die Liste ist nicht endlos, aber sehr lang und füllt sich täglich aufs Neue. Das ist nicht nur nötig, um im engeren Sinne arbeiten gehen, also Geld verdienen zu können, sondern um überhaupt am Leben zu bleiben. Ohne Care geht nichts. Nicht mal Leben.

Care ist auch Quelle von Lebenssinn, Glück, Lust und Anerkennung

Care umfasst alle unbezahlten wie bezahlten Tätigkeiten des Kümmerns. Care beinhaltet die Hinwendung zu den Bedürfnissen des Lebendigen, sei dies eine Pflanze, ein Kind, ein kranker Nachbar, man selbst oder die alternden Eltern. Care macht sich nicht von allein, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie beziehungsförmig, also zwischen Personen geschieht. Care ist darum auch Quelle von Lebenssinn, Glück, Lust und Anerkennung. Das wird heute vielfach vergessen, weil wir Erwerbsarbeit und individuelle Autonomie fetischisieren.

Care wird romantisiert und ausgebeutet

Care ist auch Arbeit. Anstrengende, aufwändige Arbeit, und - in Teilen zumindest - professionalisierbar und bezahlbar. Pflegerinnen, Erzieher und Pizzaboten sind dafür Beispiele. Historisch sind diese Berufe als Verlängerung der Hausfrau entstanden. Als solche sind sie in derselben Paradoxie wie alles Weibliche: gesellschaftlich himmelhochjauchzend romantisiert und zugleich skandalös ausgebeutet. In Care-Berufen herrschen horrende Arbeitsbedingungen, sie sind in jeder Hinsicht unterbezahlt. Das ist das eine Problem. Das müssen wir gesellschaftlich lösen, und nicht den einzelnen Personen überlassen, auf dass sie ihre work-life-balance managen.

Sich Bedürfnissen zuzuwenden ist nicht profitabel

Das andere Problem geht tiefer und wird seltener zum Thema: Care-Tätigkeiten lassen sich eben nur bedingt professionell rationalisieren. Und wir sollten dies auch nur bedingt wollen. Denn Bedürfnisse und Beziehungen von lebenden Wesen haben ihren Eigensinn. Das Lebendige fügt sich letztlich nicht den Formen und Normen der strategischen Verfügbarkeit. Sich Bedürfnissen zuzuwenden wirft auch keinen Mehrwert ab, ist nicht profitabel. Und doch so strukturell notwendig wie individuell sinnstiftend. Wir müssen also als Gesellschaft dafür sorgen, dass Menschen beides realisieren können: Das Streben nach Autonomie und marktgängiger Arbeit und unsere Angewiesenheit auf Andere, die sich kümmern und um die wir uns kümmern.

Care ist Anerkennung und Realisierung unserer sozialen Natur

Care ist nicht nur belastende Arbeit, die es endlich angemessen zu bezahlen gilt. Care ist nicht nur Privatsache, ist nicht nur individuelles Vereinbarkeitsproblem. Care ist auch nicht nur Ausbeutung anderer Menschen zur Herstellung der eigenen Autonomie. Care ist auch, und davon sprechen wir viel zu wenig, Freude, Sinn, Lust – es ist die Anerkennung und Realisierung unserer sozialen Natur. Darum müssen wir uns kümmern!

Paula-Irene Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München und unter anderem im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sie forscht und lehrt zu Biopolitik, Sozialtheorien, Care/Fürsorge und Popkultur.

Soziologin Paula-Irene Villa
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