Die "christlich-jüdischen Wurzeln" der Bundesrepublik

Von Gernot Facius · 20.10.2010
Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, hatte ein klares Bild von Europa. Er sah den Kontinent auf drei Hügeln gebaut: Golgatha stehe für Frieden, die Akropolis für Demokratie und das Kapitol für eine Rechtsordnung.
Jerusalem, Athen und Rom – diese Trias gab Europa seine kulturelle und religiöse Prägung. Aus dem Judentum ist das Christentum hervorgegangen; die Heilige Schrift der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, der neuzeitlichen Aufklärung die Besinnung auf die Menschenrechte. Alle drei Elemente sind in ihrer wechselseitigen Verschränkung für die Identität des sprachlich und ethnisch vielfältigen Kontinents wichtig.

Die Islamdebatte bringt es mit sich, dass wieder vermehrt über die christlich-jüdischen Wurzeln gesprochen wird. Oft in einem skeptischen Unterton. Denn die Verwendung dieser Formel schließt die Gefahr ein, dass das Eigenrecht der jüdischen Überlieferung negiert wird – Juden semantisch enteignet werden. Zudem ruft der Vatikan in einem neu erwachten missionarischen Eifer zu einer Re-Evangelisierung auf. Nicht wenige Kritiker wittern hier den Versuch einer versteckten Re-Katholisierung, folglich begegnen sie dem Projekt mit Misstrauen.

Wie auch immer: Die vatikanische Initiative ist eine Antwort darauf, dass nur noch ein zahlenmäßig geringer werdender Teil der Europäer sich im Koordinatensystem des Christentums auskennt und nach dessen Maximen lebt. Von "getauften Heiden" ist die Rede. Doch ist das ein Grund, das christlich-jüdische Wurzelgeflecht zu marginalisieren, es aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen und es so zu entsorgen? Im Monotheismus beider Religionen ist die Würde jedes Menschen begründet: die unantastbare Menschenwürde, die in der Vorstellung von der Gott-Ebenbildlichkeit ihren Ursprung hat – verbunden mit der Solidarität aller Menschen, mit der Bedeutung der Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft. Von dieser Ethik wurden die europäischen Rechts- und Sozialordnungen befruchtet.

In seinem Buch "Missbrauchte Götter", 2009 erschienen, weist der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf allerdings zu Recht darauf hin, dass es zwischen jüdischen und christlichen Überlieferungen immer einen sehr engen Austausch und zugleich einen fundamentalen Dissens gegeben habe. Das sei bis in die Gegenwart relevant. Zum Beispiel in Fragen der Bioethik. Nirgendwo auf der Welt, so Graf, gebe es eine so intensive Stammzellforschung wie in Israel. Die jüdische Tradition kennt eben andere Deutungen des embryonalen Lebens als die dominante christliche Überlieferung.

Es ist auch richtig: Die Anerkennung der Menschenrechte musste gegen die christlichen Kirchen durchgesetzt werden. Aber, so sagt der evangelische Altbischof Wolfgang Huber, das Christentum sei nicht nur verflochten in eine Geschichte der Schuld, es sei auch die Quelle von Schulderkenntnis und Neubeginn. Vor allem die katholische Kirche hat lange gebraucht, bis sie sich in einem Konzilsdekret zur Religionsfreiheit bekannte, als Ausfluss eines Menschenrechts. Diese Entscheidung ist längst nicht voll akzeptiert, wie die Endlosdebatten um die Pius-Bruderschaft zeigen.

Und der inzwischen emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper hat sich nicht nur Freunde unter seinen Glaubensgeschwistern gemacht, als er für einen rational durchleuchteten Glauben plädierte, für einen kritischen wie konstruktiven Dialog mit der weithin säkularisierten Kultur, um den Herausforderungen gerecht werden. Für ihn ist das Problem nicht so sehr der Islam. "Das Problem", meinte er, "sind wir Europäer". Europa müsse wieder zu sich selbst stehen. Zu seinen christlich-jüdischen Wurzeln.


Gernot Facius, Journalist, geboren 1942 im Sudetenland, viele Jahre bei der Tageszeitung "Die Welt", zuletzt als stellvertretender Chefredakteur, unter anderem verantwortlich für das Ressort "Religion und Gesellschaft" und die Meinungsseite, verheiratet, fünf Kinder. Autor der "Welt"-Gruppe.