"Die Demokratie selbst ist erschüttert"
Nach Ansicht von Hajo Funke haben die NSU-Mordserie und das Verhalten der Behörden das Vertrauen in die deutschen Geheimdienste stark erschüttert. Der Politologe wirft ihnen vor, keine Aufklärung zu wollen und am Staat vorbei zu operieren.
Joachim Scholl: Vor ein paar Wochen hätte uns das vermutlich alle noch durchweg beeindruckt und gefreut, dass man die E-Mails hochrangiger Al-Qaida-Führer abgefangen und daraufhin eine groß angelegte Terrorwarnung ausgegeben hat. Inzwischen aber wissen wir, was die Abhörprogramme der Geheimdienste alles können und was damit getan wird. Und mitten in unsere Empörung, unseren Unmut darüber tönt jetzt also diese Erfolgsmeldung. Interessanter, merkwürdiger Zeitpunkt? Haben Sie sich das vielleicht auch gefragt, und glauben Sie womöglich gar nicht so recht an die Warnungen, obwohl sie ja durchaus begründet erscheinen?
Das ist der psychologische Reflex, wenn Vertrauen verloren geht. Und wie sich das politisch auswirkt und über die Hintergründe, wie das auf unser Staatswesen und unsere Vorstellung davon wirkt, darüber denkt der Politologe Hajo Funke nach. Er ist bei uns im Studio, guten Morgen!
Hajo Funke: Guten Morgen!
Scholl: Was haben Sie denn am Wochenende gedacht, Herr Funke, angesichts dieser Terrorwarnung?
Funke: Ja, ich war skeptisch, und ich lese heute im "Tagesspiegel", dass diejenigen, die in Sanaa im Jemen als NGO arbeiten, sagen, es gibt gar keine konkrete Warnung, sondern eher eine diffuse. Die mag stimmen, und so verhält er sich, als sei nichts geschehen, er passt auf wie immer, wenn er in Sanaa ist.
Scholl: Herr Funke, wir sind auf die Idee gekommen, mit Ihnen diesen Zusammenhang von Staat und Glaubwürdigkeit zu diskutieren über einen Aufsatz, den Sie zusammen mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik kürzlich veröffentlicht haben, erschienen in den "Blättern für Deutsche und Internationale Politik". Und da entfalten Sie anhand der unglaublichen institutionellen Vorkommnisse und Fehler beim sogenannten NSU-Komplex ein ganz tristes Szenario. Die Dienste, also die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern, das BKA, diese Institutionen, sagen Sie, bilden mit ihren Entscheidungen, ihren Kompetenzen, ihren Protagonisten eine Struktur jenseits aller parlamentarisch-demokratischen Kontrolle aus inzwischen, und dass dadurch ein vordemokratischer Zustand entsteht.
Im Falle der Zwickauer Nazis, da hat sich der staatliche Verfassungsschutz also völlig auch unglaubwürdig gemacht gegenüber der Öffentlichkeit. Sind es jetzt also die Geheimdienste, unser BND im Genauen, denen man einfach nicht mehr glaubt, weil man jetzt vermutet, dort geht es genauso zu?
Funke: Ja, die Skepsis habe ich. Ich glaube ihnen nicht. Sie halten ja auch viel zurück. Sie haben systematisch die V-Leute-Praxis zurückgehalten. Wir wussten nicht, es sei denn, sie wurden öffentlich oder sogar aus den Diensten, die sagten, das geht zu weit, enttarnt und so erst der Öffentlichkeit bekannt gemacht. V-Leute waren in Thüringen dabei, eine der stärksten, rechtsextremistischen, gewaltbereiten Szenen - den Thüringer Heimatschutz - mit aufzubauen, mit systematisch zu fördern, obwohl das den Regeln, die sich die Geheimdienste gaben, widerspricht. Ich hab kein Vertrauen in die Geheimdienste.
Scholl: Das heißt aber in der Konsequenz, dass die Politiker, die ja eigentlich sozusagen die Entscheidungsgewalt hätten, selbst von den Diensten in dieser Hinsicht dann entmachtet sind, weil die Dienste sich selber zum Leiter, zum Souverän erklären. Gestern etwa hat sich in unserem Schwesterprogramm Deutschlandfunk Wolfgang Bosbach, CDU-Politiker und Vorsitzender im Innenausschuss des Deutschen Bundestags, diese ernüchternde Frage gestellt:
Wolfgang Bosbach: "... ob wir als Parlamentarier nicht ohnehin nur das erfahren, was wir erfahren sollen. Und wenn wir dann von anderen Sachverhalten Kenntnis erlangen, in der Regel durch Journalistinnen und Journalisten, dann schaut man uns blauäugig an und fragt, ja, wenn ihr danach gefragt hättet, dann hätten wir euch selbstverständlich auch die Auskunft erteilt. Es ist eine Bringschuld!""
Scholl: Diese Aussage von einem Spitzenpolitiker, Herr Funke, die ist schockierend eigentlich. Das heißt sozusagen, der Bürger sagt ja, wenn nicht ihr da oben wisst, was hier getan wird, wer soll es dann wissen? Das heißt sozusagen, dass hier eine völlig abgekoppelte Entscheidungsstruktur, auch eine Exekutivstruktur entstanden ist, die von jeglicher parlamentarischer Kontrolle befreit ist.
Funke: Ja, und ich glaube auch, dass sie so denken, diese Vertreter von Geheimdiensten, und gar nicht die Aufklärung wollen. Sie sagen sich, wir repräsentieren die Sicherheit des Staates. Wir entscheiden, was wir für sicher erachten. Wir entscheiden, was wir nötig erachten, damit diese Sicherheit geschieht. Das ist ein absolutistisches Verständnis vom Staat. Und zu diesem Staatsverständnis passt weder rechtsstaatliche Kontrolle noch entsprechende Öffentlichkeit.
Scholl: Sie zitieren in diesem Zusammenhang in Ihrem Aufsatz den Begriff vom Staatswohl und einen berüchtigten Satz des Staatsrechtlers Carl Schmitt: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Den hat er in den 20er-Jahren in seiner Politischen Theologie formuliert, später damit die Willkürherrschaft der Nazis damit begründet und gerechtfertigt. Und der Terrorismus, der wird uns ja auch als Ausnahmezustand vermittelt in den letzten Jahren. Wer ist aber eigentlich der Souverän, der darüber entscheidet? Das Volk wohl nicht mehr, oder?
Funke: Also, nach unserer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung ist das Volk der Souverän. Und immerhin wählen wir ja auch. Aber ob die Kanzlerin tatsächlich dann die Souveränität repräsentiert über das Parlament, eine Kontrolle über die Exekutive hat, bezweifle ich. Im Falle der Aufklärungsschwierigkeiten der Geheimdienste hat Barbara John gesagt, es war tollkühn von der Kanzlerin, lückenlose Aufklärung über die NSU-Mordserie zu verlangen und selbst dafür einzustehen. Sie ist am Innenministerium des Bundes und am Bundesamt für Verfassungsschutz und anderen gescheitert. So jedenfalls Barbara John schon im Herbst 2012. Deswegen war dieses Versprechen, wie Barbara John sagt, tollkühn.
Das heißt, sie wusste, dass jedenfalls mit den Mitteln keine Kontrolle erfolgen wird. Und so ist es geschehen. Wir wissen bis heute nicht, was das Bundesamt wirklich getrieben hat. Es hat sich nicht dazu entschlossen, selbst über das Desaster ihrer Sicherheit aufzuklären.
Scholl: Soll, kann man Geheimdienstwarnungen Glauben schenken? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Hajo Funke. Wie wichtig, Herr Funke, ist es denn für ein Gemeinwesen, dass man seinen Institutionen vertraut und glaubt?
Funke: Es ist entscheidend. Und der Souverän, das Volk, ist hinsichtlich bestimmter Institutionen noch immer bereit, zu glauben, Glauben zu schenken. Zum Beispiel dem Bundesverfassungsgericht. Und dies hat seinen Sinn. Weil das Bundesverfassungsgericht eine Appellationsinstanz ist, an die jeder Bürger und vor allem auch Organe sich wenden können und sagen können, das wollen wir jetzt wirklich geklärt haben, und das Bundesverfassungsgericht muss dem folgen, wenn es einigermaßen vernünftig erscheint.
Das ist eine Institution, zu der es einen institutionell und regelhaft begründetes Vertrauen gibt. Gegenüber den Geheimdiensten, die sagen tatsächlich, wie Herr Bosbach richtig gesagt hat, was sie glauben, entscheiden zu sollen, uns zu sagen, aber nicht, was Sache ist.
Scholl: Begründet wird dieses Geheime ja mit dem Schutz, den der Bürger vom Staat ja auch fordert. Und wenn zu diesem Schutz auch gehört, dass man Dinge geheim hält, werden sie ja dadurch legitimiert, und diesen Zusammenhang, den hat man ja auch immer akzeptiert als Bürger. Klar können Ermittler nicht immer einem alles sagen, wenn sie denn Gangster haben wollen. Ist dieser Zusammenhang jetzt aufgelöst durch diesen Vertrauensverlust?
Funke: Er ist erschüttert. Er ist in der Tat erschüttert. Es gibt tatsächlich eine erschütterte Glaubwürdigkeit dieser Institutionen, etwa des Bundesamts für Verfassungsschutz, aber auch eines Teils der Polizei. Denn sie haben, das zeigt sich in den Untersuchungsausschüssen, insbesondere auch in Bayern, einseitig, nach ihren intuitiven Vorgaben, ermittelt. Sie haben nicht offen ermittelt. Sie haben vor allem im Bereich organisierter Kriminalität und im weiteren Sinn im Umfeld der Opfer ermittelt. Das heißt, sie haben Opfer und Täter aneinander gerückt, ohne Sinn und Verstand, ohne empirische Evidenz. Sie haben über elf Jahre lang im Bereich organisierter Kriminalität ermittelt, obwohl nach vier, fünf Jahren längstens man hätte sehen können, das reicht nicht, da kommt nichts raus.
Scholl: Was passiert in einer Gesellschaft, mit uns also, wenn wir Institutionen, die dazu geschaffen wurden, uns als Bürger zu schützen, wenn man diesen Institutionen nicht mehr vertraut?
Funke: Die Demokratie selbst ist erschüttert und in Gefahr, die rechtsstaatliche Demokratie, und deswegen ist es so wichtig, dass man die Regeln entschieden, öffentlich, vor den Wahlen in öffentlichen Debatten einfordert. Denn es geht ja um die Regeln, die das Vertrauen begründen. Ein blindes Vertrauen führt zu Diktatur und zu Willkür.
Scholl: Sie bezeichnen in Ihrem Aufsatz diese Entwicklung als Weg hin zu einem "tiefen Staat", das ist der Ausdruck, das heißt ein autoritärer Rückfall in vordemokratische Zeiten. Man will es eigentlich nicht recht akzeptieren, dass so etwas möglich ist. Nur, wenn jetzt Politiker selbst sozusagen den Schulterschluss mit dem empörten Bürger suchen und sagen, ja, ihr Dienste seid eigentlich schuld – wie kann man das eigentlich wirklich verhindern? Das geht doch eigentlich nur durch Legislative, durch Gesetzgebung?
Funke: Ja, und durch Öffentlichkeit. Also ich habe in den letzten zwei Jahren in der Untersuchungsausschussbeobachtung erfahren, wie wichtig öffentlicher Druck ist. Noch mehr öffentlicher Druck, auch vor den Wahlen, nicht hinnehmen, dass man handwerklich das eine oder andere ändert durch kleine Korrekturen. Wir sind ja schon auf dem guten Weg, so höre ich das Bundesamt für Verfassungsschutz reden, ohne jede innere, interne und unabhängige Selbstaufklärung.
Also da zu insistieren als Parteien – da sind natürlich die Parteien beziehungsweise dann das Parlament gefordert. Ich sehe noch nicht, dass man das nachdenklich genug sieht und die nötigen Konsequenzen fundamental zieht aus dieser erschütterten Glaubwürdigkeitskrise der Sicherheitsinstitutionen herauszukommen. Es gibt auch keinen Architekten, der tatsächlich eine neue Sicherheitsarchitektur will. Man wird sehen, ob das noch Gegenstand im Wahlkampf und vor allem danach wird.
Scholl: Die Abhöraffäre und die Terrorwarnung – wie unser Vertrauen in die Institutionen leidet. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke war bei uns zu Gast. Sein Aufsatz, den er mit Micha Brumlik verfasst hat, "Auf dem Weg zum tiefen Staat. Die Bundesrepublik und die Übermacht der Dienste", dieser Text ist in der Zeitschrift "Blätter für Deutsche und Internationale Politik" veröffentlicht. Herr Funke, besten Dank, dass Sie bei uns waren!
Funke: Bitte schön, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das ist der psychologische Reflex, wenn Vertrauen verloren geht. Und wie sich das politisch auswirkt und über die Hintergründe, wie das auf unser Staatswesen und unsere Vorstellung davon wirkt, darüber denkt der Politologe Hajo Funke nach. Er ist bei uns im Studio, guten Morgen!
Hajo Funke: Guten Morgen!
Scholl: Was haben Sie denn am Wochenende gedacht, Herr Funke, angesichts dieser Terrorwarnung?
Funke: Ja, ich war skeptisch, und ich lese heute im "Tagesspiegel", dass diejenigen, die in Sanaa im Jemen als NGO arbeiten, sagen, es gibt gar keine konkrete Warnung, sondern eher eine diffuse. Die mag stimmen, und so verhält er sich, als sei nichts geschehen, er passt auf wie immer, wenn er in Sanaa ist.
Scholl: Herr Funke, wir sind auf die Idee gekommen, mit Ihnen diesen Zusammenhang von Staat und Glaubwürdigkeit zu diskutieren über einen Aufsatz, den Sie zusammen mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik kürzlich veröffentlicht haben, erschienen in den "Blättern für Deutsche und Internationale Politik". Und da entfalten Sie anhand der unglaublichen institutionellen Vorkommnisse und Fehler beim sogenannten NSU-Komplex ein ganz tristes Szenario. Die Dienste, also die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern, das BKA, diese Institutionen, sagen Sie, bilden mit ihren Entscheidungen, ihren Kompetenzen, ihren Protagonisten eine Struktur jenseits aller parlamentarisch-demokratischen Kontrolle aus inzwischen, und dass dadurch ein vordemokratischer Zustand entsteht.
Im Falle der Zwickauer Nazis, da hat sich der staatliche Verfassungsschutz also völlig auch unglaubwürdig gemacht gegenüber der Öffentlichkeit. Sind es jetzt also die Geheimdienste, unser BND im Genauen, denen man einfach nicht mehr glaubt, weil man jetzt vermutet, dort geht es genauso zu?
Funke: Ja, die Skepsis habe ich. Ich glaube ihnen nicht. Sie halten ja auch viel zurück. Sie haben systematisch die V-Leute-Praxis zurückgehalten. Wir wussten nicht, es sei denn, sie wurden öffentlich oder sogar aus den Diensten, die sagten, das geht zu weit, enttarnt und so erst der Öffentlichkeit bekannt gemacht. V-Leute waren in Thüringen dabei, eine der stärksten, rechtsextremistischen, gewaltbereiten Szenen - den Thüringer Heimatschutz - mit aufzubauen, mit systematisch zu fördern, obwohl das den Regeln, die sich die Geheimdienste gaben, widerspricht. Ich hab kein Vertrauen in die Geheimdienste.
Scholl: Das heißt aber in der Konsequenz, dass die Politiker, die ja eigentlich sozusagen die Entscheidungsgewalt hätten, selbst von den Diensten in dieser Hinsicht dann entmachtet sind, weil die Dienste sich selber zum Leiter, zum Souverän erklären. Gestern etwa hat sich in unserem Schwesterprogramm Deutschlandfunk Wolfgang Bosbach, CDU-Politiker und Vorsitzender im Innenausschuss des Deutschen Bundestags, diese ernüchternde Frage gestellt:
Wolfgang Bosbach: "... ob wir als Parlamentarier nicht ohnehin nur das erfahren, was wir erfahren sollen. Und wenn wir dann von anderen Sachverhalten Kenntnis erlangen, in der Regel durch Journalistinnen und Journalisten, dann schaut man uns blauäugig an und fragt, ja, wenn ihr danach gefragt hättet, dann hätten wir euch selbstverständlich auch die Auskunft erteilt. Es ist eine Bringschuld!""
Scholl: Diese Aussage von einem Spitzenpolitiker, Herr Funke, die ist schockierend eigentlich. Das heißt sozusagen, der Bürger sagt ja, wenn nicht ihr da oben wisst, was hier getan wird, wer soll es dann wissen? Das heißt sozusagen, dass hier eine völlig abgekoppelte Entscheidungsstruktur, auch eine Exekutivstruktur entstanden ist, die von jeglicher parlamentarischer Kontrolle befreit ist.
Funke: Ja, und ich glaube auch, dass sie so denken, diese Vertreter von Geheimdiensten, und gar nicht die Aufklärung wollen. Sie sagen sich, wir repräsentieren die Sicherheit des Staates. Wir entscheiden, was wir für sicher erachten. Wir entscheiden, was wir nötig erachten, damit diese Sicherheit geschieht. Das ist ein absolutistisches Verständnis vom Staat. Und zu diesem Staatsverständnis passt weder rechtsstaatliche Kontrolle noch entsprechende Öffentlichkeit.
Scholl: Sie zitieren in diesem Zusammenhang in Ihrem Aufsatz den Begriff vom Staatswohl und einen berüchtigten Satz des Staatsrechtlers Carl Schmitt: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Den hat er in den 20er-Jahren in seiner Politischen Theologie formuliert, später damit die Willkürherrschaft der Nazis damit begründet und gerechtfertigt. Und der Terrorismus, der wird uns ja auch als Ausnahmezustand vermittelt in den letzten Jahren. Wer ist aber eigentlich der Souverän, der darüber entscheidet? Das Volk wohl nicht mehr, oder?
Funke: Also, nach unserer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung ist das Volk der Souverän. Und immerhin wählen wir ja auch. Aber ob die Kanzlerin tatsächlich dann die Souveränität repräsentiert über das Parlament, eine Kontrolle über die Exekutive hat, bezweifle ich. Im Falle der Aufklärungsschwierigkeiten der Geheimdienste hat Barbara John gesagt, es war tollkühn von der Kanzlerin, lückenlose Aufklärung über die NSU-Mordserie zu verlangen und selbst dafür einzustehen. Sie ist am Innenministerium des Bundes und am Bundesamt für Verfassungsschutz und anderen gescheitert. So jedenfalls Barbara John schon im Herbst 2012. Deswegen war dieses Versprechen, wie Barbara John sagt, tollkühn.
Das heißt, sie wusste, dass jedenfalls mit den Mitteln keine Kontrolle erfolgen wird. Und so ist es geschehen. Wir wissen bis heute nicht, was das Bundesamt wirklich getrieben hat. Es hat sich nicht dazu entschlossen, selbst über das Desaster ihrer Sicherheit aufzuklären.
Scholl: Soll, kann man Geheimdienstwarnungen Glauben schenken? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Hajo Funke. Wie wichtig, Herr Funke, ist es denn für ein Gemeinwesen, dass man seinen Institutionen vertraut und glaubt?
Funke: Es ist entscheidend. Und der Souverän, das Volk, ist hinsichtlich bestimmter Institutionen noch immer bereit, zu glauben, Glauben zu schenken. Zum Beispiel dem Bundesverfassungsgericht. Und dies hat seinen Sinn. Weil das Bundesverfassungsgericht eine Appellationsinstanz ist, an die jeder Bürger und vor allem auch Organe sich wenden können und sagen können, das wollen wir jetzt wirklich geklärt haben, und das Bundesverfassungsgericht muss dem folgen, wenn es einigermaßen vernünftig erscheint.
Das ist eine Institution, zu der es einen institutionell und regelhaft begründetes Vertrauen gibt. Gegenüber den Geheimdiensten, die sagen tatsächlich, wie Herr Bosbach richtig gesagt hat, was sie glauben, entscheiden zu sollen, uns zu sagen, aber nicht, was Sache ist.
Scholl: Begründet wird dieses Geheime ja mit dem Schutz, den der Bürger vom Staat ja auch fordert. Und wenn zu diesem Schutz auch gehört, dass man Dinge geheim hält, werden sie ja dadurch legitimiert, und diesen Zusammenhang, den hat man ja auch immer akzeptiert als Bürger. Klar können Ermittler nicht immer einem alles sagen, wenn sie denn Gangster haben wollen. Ist dieser Zusammenhang jetzt aufgelöst durch diesen Vertrauensverlust?
Funke: Er ist erschüttert. Er ist in der Tat erschüttert. Es gibt tatsächlich eine erschütterte Glaubwürdigkeit dieser Institutionen, etwa des Bundesamts für Verfassungsschutz, aber auch eines Teils der Polizei. Denn sie haben, das zeigt sich in den Untersuchungsausschüssen, insbesondere auch in Bayern, einseitig, nach ihren intuitiven Vorgaben, ermittelt. Sie haben nicht offen ermittelt. Sie haben vor allem im Bereich organisierter Kriminalität und im weiteren Sinn im Umfeld der Opfer ermittelt. Das heißt, sie haben Opfer und Täter aneinander gerückt, ohne Sinn und Verstand, ohne empirische Evidenz. Sie haben über elf Jahre lang im Bereich organisierter Kriminalität ermittelt, obwohl nach vier, fünf Jahren längstens man hätte sehen können, das reicht nicht, da kommt nichts raus.
Scholl: Was passiert in einer Gesellschaft, mit uns also, wenn wir Institutionen, die dazu geschaffen wurden, uns als Bürger zu schützen, wenn man diesen Institutionen nicht mehr vertraut?
Funke: Die Demokratie selbst ist erschüttert und in Gefahr, die rechtsstaatliche Demokratie, und deswegen ist es so wichtig, dass man die Regeln entschieden, öffentlich, vor den Wahlen in öffentlichen Debatten einfordert. Denn es geht ja um die Regeln, die das Vertrauen begründen. Ein blindes Vertrauen führt zu Diktatur und zu Willkür.
Scholl: Sie bezeichnen in Ihrem Aufsatz diese Entwicklung als Weg hin zu einem "tiefen Staat", das ist der Ausdruck, das heißt ein autoritärer Rückfall in vordemokratische Zeiten. Man will es eigentlich nicht recht akzeptieren, dass so etwas möglich ist. Nur, wenn jetzt Politiker selbst sozusagen den Schulterschluss mit dem empörten Bürger suchen und sagen, ja, ihr Dienste seid eigentlich schuld – wie kann man das eigentlich wirklich verhindern? Das geht doch eigentlich nur durch Legislative, durch Gesetzgebung?
Funke: Ja, und durch Öffentlichkeit. Also ich habe in den letzten zwei Jahren in der Untersuchungsausschussbeobachtung erfahren, wie wichtig öffentlicher Druck ist. Noch mehr öffentlicher Druck, auch vor den Wahlen, nicht hinnehmen, dass man handwerklich das eine oder andere ändert durch kleine Korrekturen. Wir sind ja schon auf dem guten Weg, so höre ich das Bundesamt für Verfassungsschutz reden, ohne jede innere, interne und unabhängige Selbstaufklärung.
Also da zu insistieren als Parteien – da sind natürlich die Parteien beziehungsweise dann das Parlament gefordert. Ich sehe noch nicht, dass man das nachdenklich genug sieht und die nötigen Konsequenzen fundamental zieht aus dieser erschütterten Glaubwürdigkeitskrise der Sicherheitsinstitutionen herauszukommen. Es gibt auch keinen Architekten, der tatsächlich eine neue Sicherheitsarchitektur will. Man wird sehen, ob das noch Gegenstand im Wahlkampf und vor allem danach wird.
Scholl: Die Abhöraffäre und die Terrorwarnung – wie unser Vertrauen in die Institutionen leidet. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke war bei uns zu Gast. Sein Aufsatz, den er mit Micha Brumlik verfasst hat, "Auf dem Weg zum tiefen Staat. Die Bundesrepublik und die Übermacht der Dienste", dieser Text ist in der Zeitschrift "Blätter für Deutsche und Internationale Politik" veröffentlicht. Herr Funke, besten Dank, dass Sie bei uns waren!
Funke: Bitte schön, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.