Die deutsche Frage schrumpft

Von Frieder Reininghaus |
Der "Ring des Nibelungen" als Morgengabe an sein neues Haus: So darf man wohl Philippe Jordans Einstand als musikalischer Direktor an der National-Oper in Paris verstehen. Zusammen mit Regisseur Günter Krämer ist der Schweizer jetzt beim vierten und letzten Teil angekommen.
Unscharf deutet sich im Hintergrund die Silhouette einer Stadt an (sie könnte am Rhein liegen). Vor diesem Weichbild kreist ein Gerüst mit einem Spezial-Netz, auf dem virtuelle Wellen spielen und Flammen züngeln können, das aber stets noch einen vagen Blick auf die dahinter singenden Akteure ermöglicht. Rechts vorn am Rand der ansonsten fast leeren Bühne liegen Helm, Schild und der zerbrochene Speer Wotans. Das Spiel mit den aufreizenden altdeutschen Lettern der Worte GERMANIA bzw. MANIA und GER, das in den ersten drei "Ring"-Abenden eine zentrale dramaturgische Funktion einnahm, hat einem schnörkellosen Zugriff auf die kontrastreichen Absichten und Obsessionen der Protagonisten Platz gemacht. Auf verbal konnotierende optische Ergänzungen wurde verzichtet.

Günter Krämer zeigt mit präziser Klarheit ein halbes Dutzend Egoisten, die vermittels der massiven Wucht ihrer Persönlichkeiten bzw. mit der vom Dichterkomponisten charakterisierten Weiblichkeit ihre jeweiligen Interessen betreiben – ohne Rücksicht auf Risiken, Nebenwirkungen oder gar weitreichende Folgen. Mit Torsten Kerl wird ein hünenhafter Siegfried aufgeboten, dessen Stimme allerdings immer wieder schwächelt – ein Held im teuren Anzug, der die frisch gewonnene Frau gleich am Morgen nach der ersten Liebesnacht um fragwürdiger Geschäfte willen verlässt und bei diesen auf die erstbeste Intrige hereinfällt (diese Figur sollte eigentlich nicht mit einem Nachen abreisen, sondern im BMW an den Niederrhein fahren). Beim Geschäftsbesuch trifft er auf den elegant agierenden Geschäftsführer Gunther, den Iain Paterson treffsicher als einen Durchschnittsmann gibt, der nicht weiß, in welcher Liga er spielt. Christiane Libor überzeichnet seine linkisch-heiratswütige Schwester Gutrune nur leicht.

Hans-Peter König verleiht dem bösen Hausgeist dieser beiden unseligen Königskinder vom Rollstuhl aus eine Stentorstimme, seiner tödlichen Intrige das nötige Lebendgewicht (Vater Alberich kümmert sich in jener egozentrischen Art, mit der er schon zum Vorspiel am Rhein antrat, um den behinderten Sohn Hagen). Sophie Koch profiliert sich mit differenzierter Dynamik als Waltraute – in der Rolle einer keinesfalls uneigennützigen Warnerin, die mit dem drohenden Untergang von Wotans Imperium ja eine Vorzugsstellung zu verlieren hat und daher so intensiv auf Brünnhilde einwirkt, sie möge auf den verfluchten Ring verzichten. Doch die degradierte Lieblingstochter des Obergottes denkt nicht daran, das Pfand ihrer Liebe den drei leichtlebigen Rheintöchtern auszuhändigen. Mit der Lust verletzter Liebe und frisch genährter Rachsucht treibt sie den Untergang voran. Katarina Dalayman tut es mit jener vollen Wucht, die bis in die letzten Reihen der Riesenhalle an der Place de la Bastille durchschlägt. Die Inszenierung arbeitet die Profile dieser Protagonisten ohne Zimperlichkeit oder Konzilianz heraus. Da erscheint keine(r) liebenswert – und Mitleid soll für niemand aufkommen.

Die leidige deutsche Frage, die durch die ersten drei Teile von Krämers Pariser "Ring"-Inszenierung geisterte, reduzierte sich in der "Götterdämmerung" auf Erinnerung ans Rheinland und dessen sattsam bekannten Vorrichtungen zum Feiern: Hagen, Gunther und Gutrune fädeln die Toxinierung und Täuschung Siegfrieds vor Biertischgarnituren und einem Meer farbiger Papierschlangen ein. Der Volksfestausstattung fehlt zunächst Volk und Festlichkeit, erst später füllt sie sich mit der Partei der Weintrinker, die mit imposantem Cantus der Enthüllung von Details zu Brünnhildes zweiter Hochzeitsnacht folgt.

Entschieden und anschmiegsam, wuchtig und delikat meldete sich "Neudeutsches" – in der wünschenswertesten Weise differenziert aus dem Orchestergraben: Philippe Jordan forderte den "deutsche Ton" den französischen Rohren und Bögen ab. Dabei hatte er mehr Fortüne als die meisten Kapellmeister, die laut und sattelköpfig von "deutschem Ton" schwadronieren (dabei von einem Teil der Berliner Kritik befeuert werden). Auch im unmittelbaren Leistungsvergleich zum musikalisch ambitionierten, aber bestenfalls zweitklassigen "Ring" in Aix-en-Provence (Simon Rattle, Stéphane Braunschweig), bei dem eine als Werbeträger der Deutschen Bank funktionierende Kapelle sich nicht mit Ruhm bekleckerte, schneidet das Orchestre de l'Opéra de Paris vorteilhaft ab.

Wie überhaupt, nach einem gewissen Auf und Ab, Jordans und Krämers "Ring"-Produktion sich am Ende als eine der stimmigsten erweist. Spielte die Begegnung von Siegfried und den Rheintöchtern elegant auf ein Frühstück im Grünen, so kulminieren die allemal sach- und personenbezogenen Bildideen im Trauermarsch, den Torsten Kerl, nachdem er niedergestreckt wurde, zum Orchester-Interludium antritt: auf der Spezial-Projektionswand schiebt sich eine virtuelle Treppe vor die realen breiten Stufen, die sich dahinter befinden – und virtuell erhebt sich der Tote, schreitet langsam nach oben, lässt auf jeder Stufe seinen Mantel zurück – wie eine Schlange, die sich häutet. Diese "Verklärung" kann dem Tod den Stachel nicht nehmen: die Leiche liegt noch oder wieder am Boden, wenn Brünnhilde zu ihrer Orgie der Selbstvernichtung ansetzt.