Hier ihre Reaktion während der Pressekonferenz:
"Bis vor Kurzem hatte ich noch die Hoffnung, dass heute die Gerechtigkeit stattfindet, seinen Weg findet. Vor fünf Minuten ungefähr habe ich dann die Nachricht erhalten, dass meine Mutter für sechs Jahre und drei Monate verurteilt worden ist, für eine Sache, die jeder Mensch wie sie an ihrer Stelle gemacht hätte. Sie hat für Menschen gekämpft in ihren Möglichkeiten, in ihrem Rahmen, sie hat ihren Gesang, sie hat ihre Lieder für die unterdrückten Menschen wiedergegeben, sie hat versucht, durch ihre Stimme deren Stimme zu sein.
Und das ist der Preis dafür, den sie bezahlen muss, und wird dann ungerechterweise verurteilt, allerdings: Es ist nicht nur meine Mutter, die ungerecht verurteilt worden ist, es sind so viele Menschen in der Türkei, so viele Journalisten, so viele Künstler, so viele Abgeordnete, die seit Monaten, Jahren, grundlos hinter den Gittern sitzen und weiterhin auch auf ihre Verhandlungen sogar warten.
Bei meiner Mutter war es verblüffenderweise so schnell zum Abschluss gebracht worden dieser Prozess, innerhalb von vier bis fünf Monaten hat man recherchieren können, hat man übersetzen können, hat man alles hinterfragen können. Und dann kam man dann zu dem Schluss seitens der türkischen Regierung und Gerichte, dass sie für sechs Jahre und drei Monate hinter Gitter gehen soll.
Dieses Urteil werde ich nicht akzeptieren und das wird kein Mensch, der halbwegs logisch denkt, akzeptieren können. Ich werde weiterhin für meine Mutter kämpfen – und nicht nur für meine Mutter, für alle zu Unrecht inhaftierten Personen. Es tut mir leid, dass meine Stimme gerade zittert. Obwohl ich mit so einer Ungerechtigkeit gerechnet hatte, hatte ich trotzdem diese Hoffnung, dass das doch anders ausgehen würde.
Wir werden in Berufung gehen, wir werden bis zum Schluss, bis zum Europäischen Gerichtshof gehen, denn kein Mensch hat es verdient, der sich für Menschen einsetzt, der sich für alle unterdrückten Menschen einsetzt, mit so etwas bestraft zu werden. Und an dieser Stelle mein Appell an die türkische Regierung und auch an unsere deutsche Regierung, habt keine Angst vor Stimmen von einzelnen Personen. Diese Menschen können ihre kritische Meinung äußern, diese Menschen können ihre Gedanken auf Papier bringen, diese Menschen können ihre Lieder in ihren Muttersprachen sprechen und singen.
Davor sollte man keine Angst haben, dafür sollte man eher offene Arme haben und diese Leute auch umarmen und sagen, super, dass es solche Menschen gibt, die für Gerechtigkeit noch kämpfen und sich auch für so etwas einsetzen so wie Adil Demirci, der die Zivilcourage gezeigt hat und jetzt seinen Preis bezahlt, der zu Unrecht seit Monaten hinter Gittern ist. Habt keine Angst vor uns und auch keine Angst vor Journalisten, die ihre Berichte nur machen und ihre Arbeit nur tätigen. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen, die heute ein offenes Ohr für uns haben und uns weiterhin auch unterstützen. Tut mir leid, mir fehlen momentan die Worte."
Verhaftet, verurteilt und vergessen?
Die Stimme von Dilan Örs zittert, als sie am 14. November auf einer Pressekonferenz das Handy beiseite legt. Gerade hat sie erfahren, dass ein türkisches Gericht ihre in Istanbul inhaftierte Mutter Hozan Canê verurteilt hat. Doch sie kämpft weiter.
Isabella Kolar: Hozan Canê, mit bürgerlichem Namen Saide Inac, ist eine kurdischstämmige Sängerin und Schauspielerin mit deutschem Pass, die seit 1993 in Köln lebte. Lebte, weil sie seit Juni in der Türkei lebt, unfreiwillig. Die 48-Jährige wurde kurz vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 24. Juni in der westtürkischen Stadt Edirne festgenommen, weil sie auf einer Wahlveranstaltung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP gesungen hatte. Eine von fünf Deutschen und eine von vielen, die in der Türkei aus politischen Gründen derzeit inhaftiert sind.
Vor vier Wochen wurde Hozan Canê wegen angeblicher Terrorpropaganda sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. An jenem Mittwoch, dem 14. November um 14 Uhr erfuhr ihre 35-jährige Tochter Dilan Örs auf einer Pressekonferenz in Köln per Handy von dem Urteil.
Kolar: Dilan Örs, die Tochter von Hozan Canê, am 14. November in Köln. Und jetzt freue ich mich sehr, Frau Örs persönlich begrüßen zu können, die uns aus Köln zugeschaltet ist. Guten Tag!
Dilan Örs: Guten Tag!
"Ich war tief betroffen davon"
Kolar: Frau Örs, das Urteil gegen Ihre Mutter ereilte Sie in dieser Situation, in dieser Pressekonferenz. Das heißt, es gab keinerlei Zeit zum Nachdenken, eine sofortige öffentliche Reaktion war gefragt. Wie geht es Ihnen damit heute, vier Wochen später?
Örs: Diese Nachricht, wir hatten damit gerechnet gehabt, dass das dann käme, aber zuvor hieß es, es kann sein, dass es sich um mehrere Stunden handelt, das heißt erst nach der Pressekonferenz hatten wir das erwartet. Und kaum hatte die Pressekonferenz angefangen, schon kam auch schon die Nachricht per Telefon. Es war schwer, es war – hatte auch keine Rede vorbereitet gehabt – es war emotional, ich war tief betroffen davon. Das hat man auch an meiner Stimme, glaube ich, erkannt.
Jetzt, knapp vier Wochen später, der Kampf geht weiter, die Hoffnung geht weiter, sie ist nicht gestorben. Ich gebe mein Bestes für meine Mutter und für alle anderen, die zu Unrecht inhaftiert sind in der Türkei. Deswegen müssen wir auch hier einfach weitermachen und Kraft schöpfen und, auch wenn es schwer ist, gerade für mich sehr schwer ist, trotzdem einfach nur weitermachen.
Kolar: Ihre Mutter sitzt ja im Frauengefängnis des Istanbuler Stadtteils Bakırköy ein. Unser Türkeikorrespondent wird gleich über dieses Gefängnis berichten. Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu ihr?
Örs: Zu meiner Mutter habe ich am letzten Freitag telefonischen Kontakt gehabt. Früher war es immer dienstags, jetzt wurde es auf Freitage verlegt, also freitags. Und, ja, zehn Minuten dürfen wir telefonieren und sie ist so, glaube ich, ein bisschen gesundheitlich angeschlagen, das konnte man an ihrer Stimme erkennen, weil ich kenne ihre Stimme als sehr bunt und sehr fröhlich unter normalen Umständen.
Ein dreijähriges Kind hinter Gittern sehnt sich nach Spielzeug
Kolar: Also, Sie können mit ihr einmal pro Woche zehn Minuten sprechen?
Örs: Ja genau. Ich darf sie nicht anrufen, sie ruft mich an.
Kolar: Und Ihrer Mutter, das sagten Sie gerade, geht es nicht besonders gut dort. Was berichtet sie über ihre Lebensumstände in diesem Gefängnis.
Örs: Das ist ein halbwegs großer Raum mit über 30 Frauen in diesem Raum. Alle sind politische Gefangene und viele müssen mehrere Jahre sitzen. Da ist auch ein kleines Kind, das auch letztens mit mir telefoniert hat, seine Mutter ist im Gefängnis, und der muss mit seiner Mutter zusammen dort seine Kindheit verbringen. Das tat mir sehr, sehr weh, als ich die Stimme dieses Kindes hörte, und er von mir Spielzeuge wollte. Ich habe dann ein paar Stück auch geschickt, aber nicht alle Spielzeuge, die er sich gewünscht hatte, durfte er behalten. Ja, wenn ich höre, dass ein dreijähriges Kind dort hinter Gittern ist, das unschuldig und ein Engel hoch drei ist, kann ich mir schon alles andere gar nicht vorstellen.
Das Urteil war ein Schlag ins Gesicht
Kolar: Wie hat Ihre Mutter, die ja schon seit Juni in diesem Gefängnis einsitzt, dieses Urteil, sechs Jahre und drei Monate, aufgenommen? Das ist ja eine lange Zeit.
Örs: Das war ein Schlag ins Gesicht. Das haben mir die Rechtsanwälte berichtet, weil die haben am nächsten Tag sie direkt besucht. An dem Tag, wo dieser Prozess stattfand, durfte sie ja nicht zu ihrem eigenen Prozess persönlich auftreten, sie wurde per Videoschaltung zugeschaltet. Sie hatte damit gar nicht gerechnet, sie sagte, okay, wir wissen ja, dass, wenn wir kritisch … Also, sie war nicht mal regierungskritisch, das war sie auch nicht, das war eher so, sie hat sich für die pro-kurdische Partei HDP eingesetzt bei den Präsidentschaftswahlen im Juni. Und sie ist dort aufgetreten, hat auf Kurdisch gesungen, aber sie sagt halt, man kann, also, vielleicht könnte man ein bisschen vorsichtiger gewesen sein, aber doch nicht direkt sechs Jahre und drei Monate, nur für einen Auftritt, den man dort geleistet hat. Da war sie so wirklich am Boden zerstört, als sie diese Strafe mitbekommen hat.
Kolar: Dieser Vorwurf der Terrorpropaganda sowie der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, das ist ja ein Standardvorwurf gegen Angeklagte in der Türkei.
Örs: Ja, leider.
Ein Film über die Jesiden als Haftgrund
Kolar: Inwiefern soll sich Ihre Mutter denn hier schuldig gemacht haben?
Örs: Meine Mutter ist ja Sängerin seit 25 Jahren. Sie hat schon immer auf Kurdisch gesungen und sie hat sich auch für unterdrückte Menschen, Frauen, Kinder, aber auch zum größten Teil halt wirklich auch für das kurdische Volk eingesetzt und gesungen. Und zu guter Letzt hat sie einen Film gedreht, "74th Genocide Sengel", der in Rojava, also in Syrien, gedreht worden ist. Dieser Film handelt von dem Krieg, der vom IS ausgegangen ist, über die kurdischen Jesiden, wo sehr viele Frauen vergewaltigt, ermordet worden sind – und nicht nur Frauen, natürlich auch Männer und Kinder.
Da hat sie gesagt gehabt, man kann nicht einfach so tatenlos zusehen, aber ich kann auch keine Waffe in die Hand nehmen und irgendwie kämpfen, ich bin Sängerin. Dann hat sie sich überlegt, wie könnte man das Leiden dieser Menschen an die weite Öffentlichkeit tragen. Dabei kam die Idee, ich drehe einen Film, ob ein kurzer, langer, ein Dokufilm, das war ihr damals, glaube ich, gar nicht bewusst. Aber das war die Grundidee, dass man gesagt hat, wenn dieser Film auf die Leinwand kommt und viele, viele Menschen das einfach sehen, dann werden die auch verstehen, wie grausam IS eigentlich ist und war und was die Kurden alles so durchgemacht haben. Das wollte sie einfach aus eigener Kraft präsentieren und das hat sie auch gut gemacht. Ich bin stolz auf sie.
Aber das ist unter anderem der Grund, warum man ihr vorwirft, Mitglied in einer Terrororganisation gewesen zu sein. Da sind während des Filmdrehs auch Bilder entstanden, wenn man einen Film über Krieg dreht, da sind die Waffen unumstritten, die sind da. Dass man dann im Hintergrund, nicht in der Filmszene, sondern im Hintergrund einfach Bilder von sich machen lässt. Das sind eigentlich keine Gründe, jemandem vorzuwerfen, sie hätte Propaganda betrieben oder schweigendes Mitglied gewesen zu sein. Aber leider sind das die Gründe seitens des türkischen Gerichtes.
"Das kann kein Mensch annehmen"
Kolar: Sie haben erwähnt, dass Sie weiter kämpfen werden, dass Sie rechtliche Schritte einleiten werden gegen das Urteil. Welche werden das sein?
Örs: Jetzt sind wir in Berufung gegangen, da habe ich noch gestern mit dem Rechtsanwalt gesprochen, die sind dabei, die Verteidigung intensiver zu schreiben und einzureichen. Das alles wurde auch angenommen. Wann die Berufung dann entschieden wird, also wann das nächste Gericht dann terminiert wird, das liegt zwischen sechs und neun Monaten in der Regel, haben die Anwälte mir mitgeteilt. Wenn das dann in der Berufung auch nichts bringt, dann gibt es zwei weitere Prozesse, die man dann in der Türkei noch in Anspruch nehmen kann. Und erst wenn die ganzen rechtlichen Wege in der Türkei ausgeschöpft sind, dann kann man sich immer noch an den Europäischen Gerichtshof wenden und sein Recht dort dann suchen.
Gut, das ist ein langer Weg, ich hoffe, dass wir nicht diesen ganzen, langen Weg gehen müssen und dass die Unschuld meiner Mutter seitens der türkischen Gerichte früh genug erkannt wird, aber wenn nicht, dann müssen wir weitermachen. So einfach hinzunehmen und zu sagen, ja gut, dann bin ich eben mal sechs Jahre und drei Monate hinter Gittern, das kann kein Mensch annehmen – und ich erst recht nicht.
Kolar: Ihre Mutter, Hozan Canê, hat einen deutschen Pass. Bekommen Sie Unterstützung durch die deutsche Bundesregierung und durch deutsche Parteien?
Örs: Meine Mutter hat ausschließlich nur den deutschen Pass. Unterstützung habe ich erhalten, ich erhalte auch weiterhin Unterstützung von deutschen politischen Parteien, da sind viele Personen, die ihre Solidarität mit mir geteilt haben und mich auf vielen Veranstaltungen auch begleiten und mir die Plattform anbieten, wo ich dann einfach über dieses Schicksal meiner Mutter dann berichten kann und darf. Fast alle deutschen politischen Parteien haben mich dann auf diesen Wegen und emotionalen Wegen begleitet und begleiten weiter. Aber ich hoffe, dass das nicht aufhört, ich hoffe, dass die Menschen weiterhin sich an meine Seite und an die Seite meiner Mutter stellen und mich weiterhin unterstützen, weil ganz allein ist es extrem schwer.
"Gefahrlos passiert nichts mehr in der Türkei"
Kolar: Sie haben ja einmal die Einstellung Ihrer Mutter wie folgt geschildert: "Ich bin Sängerin, ich mache Kunst und ich freue mich, in der Türkei aufzutreten." Nun war der Film ein Grund, sie zu verurteilen, aber der eigentliche Anlass war der Auftritt für die kurdische HDP auf einer Wahlveranstaltung im Juni. War Ihre Mutter sich gar keines Risikos bewusst, als sie dort hinfuhr? Sie erzählten mir, Sie fuhren dort öfters hin, in den Urlaub in die Türkei, das war kein Problem, aber das war nun eine politische Veranstaltung einer Kurdenpartei. War das für Sie völlig klar, dass da alles gefahrlos passiert?
Örs: Nein, nein. Gefahrlos passiert nichts mehr, leider, leider, nichts mehr in der Türkei. Aber wenn man sehr davon überzeugt ist, also von der eigenen Sache überzeugt ist, dass man sagt, ich unterstütze eine legale Partei in der Türkei – und es ist die drittstärkste Partei im Parlament –, dann hofft man einfach auf die Vernunft dieser Menschen und sagt, wenn ich dann aus Deutschland komme, ich habe einen deutschen Pass und ich habe kurdische Wurzeln und bin Kurdin, ich spreche die Sprache. Ich möchte einfach, dass die Menschen, dass die Kurden vor allem, in der Türkei einfach auch an diesen demokratischen Geschehnissen teilhaben können, und da möchte ich als Person meinen Beitrag dazu leisten, das sollte nicht strafbar sein. Und dann hat man einfach darauf gehofft.
Gut, der Co-Vorsitzende von der HDP, Herr Demirtaş, wurde jetzt auch zu vier Jahren, glaube ich, viereinhalb Jahren, rechtskräftig verurteilt, obwohl der Europäische Gerichtshof ihn freigesprochen hat. Es ist also, die Situation in der Türkei ist unberechenbar, was die Menschenrechtslange angeht, was die freie Meinungsäußerung angeht. Sie sagten vorhin, als ich gesagt habe, dass wir dort Urlaub gemacht haben, ja das stimmt. Aber ich habe das Gefühl, wenn man Urlaub macht und einfach nur die Familie besucht, muss man nicht unbedingt mit so etwas rechnen, aber wenn man sich dann doch politisch einsetzt, dann sieht man ja, was passiert.
"Sie singt überwiegend über die Liebe"
Kolar: Ihre Mutter wird ja als Sängerin in der kurdischstämmigen Community sehr verehrt. Haben ihre Lieder einen politischen Inhalt, worüber singt sie?
Örs: Sie singt überwiegend über die Liebe, über die Sehnsucht nach Heimat – und natürlich sind auch einige Lieder politisch motiviert. Diese Lieder dienen dazu, dass das kurdische Volk einfach diesen Kampf nach Freiheit, nach Selbstständigkeit, nach Selbstbestimmung einfach nicht aufgeben sollte. Das fängt ja schon bei der Sprache an. Ich bin sehr, sehr froh, dass meine verstorbene Oma mir meine Muttersprache beigebracht hat, und meine Mutter dann einfach über ihre Lieder in ihrer Sprache diese Kultur weitergibt und weiterleben lässt.
Aber überwiegend singt sie wirklich über die Liebe, über Sehnsucht, über die Heimat und über das Leiden der Kurden – die Geschichte kennen Sie wahrscheinlich, das ist ja nicht neu oder seit ein paar Jahren, das ist ja seit mehreren hundert Jahren schon, dass die Kurden wirklich leiden. Das versucht sie durch ihre Lieder einfach zum Ausdruck zu bringen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.