Die deutschen Kirchen und ihr Umgang mit Aids

Abwehr statt Solidarität

08:42 Minuten
Eine Menschenmenge demonstriert unter em Motto "Gegen Aids – für Vernunft" in München. In der Bildmitte ist ein Transparent mit der Aufschrift "Den Spießern die Moral, Den Menschen die Kondome!" zu sehen.
Die Kirchen reagierten auf HIV mit Sexualmoral und Stigmatisierung – so auch die bayerische Regierung. Dagegen wurde 1987 in München demonstriert. © picture alliance / dpa / Erk Wirginings
Von Christian Berndt |
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Als Mitte der 80er-Jahre Aids auch in der BRD zum Thema wird, spielen die Kirchen eine eher unrühmliche Rolle. Sie brauchen lange, bis sie überhaupt reagieren, und dann konzentrieren sie sich nicht auf die Erkrankten, sondern die Sexualmoral.
1982 berichtet der amerikanische Fernsehsender NBC über eine Studie, der zufolge der Lebensstil männlicher Homosexueller eine neue Epidemie ausgelöst haben sollte. Bereits am 5. Juni 1981 hatte die US-Seuchenschutzbehörde über außergewöhnliche Krankheitsfälle bei jungen Homosexuellen berichtet. Als die Krankheit sich zur Epidemie auszuwachsen droht, gibt ihr die Behörde im September 1982 einen Namen: Aids. In der Bundesrepublik tritt die sogenannte ‚Lustseuche‘ ein Jahr später ins öffentliche Bewusstsein, sagt der Medizinhistoriker Henning Tümmers:
"In der Bundesrepublik begann die Wahrnehmung von Aids und HIV im Grunde mit einer Spiegel-Ausgabe, die Aids als Aufmacher brachte. Ein Cover, auf dem zwei nackte Männer dargestellt sind, versehen mit der Überschrift ‚Tödliche Seuche Aids‘."

Aids wird zur Herausforderung für alle

Aber zunächst, so Tümmers, wird Aids hierzulande nur als Problem von Schwulen und Drogenabhängigen wahrgenommen - bis 1985: "Man kann das ganz gut nachverfolgen an der ersten Aufklärungskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die auch Rita Süssmuth verantwortet hat, und dort heißt es, dass Aids jeden betreffe."

Die neue CDU-Bundesgesundheitsministerin Süssmuth lässt 1985 an alle westdeutschen Haushalte die Broschüre "Was Sie über Aids wissen sollten" verteilen. Anders als die DDR, die eine eher restriktive Linie verfolgt und damit Vorbild für die bayerische Politik wird, setzt Süssmuth auf einen Aufklärungskurs. Das bringt sie nicht nur in Konflikt mit den Konservativen in der CDU, die gläubige Katholikin erfährt auch heftigen Gegenwind aus ihrer Kirche, sagt Henning Tümmers:
"Das war ja auch ein Tabubruch, was Rita Süssmuth so starke Probleme auch mit der katholischen Kirche bereitet hat, dass sie sich auch klar für die Benutzung von Kondomen ausgesprochen hat. Das war einmalig."

Warnung vor sexueller Zügellosigkeit

Die katholische Kirche gibt damals keine offiziellen Stellungnahmen zum Umgang mit Aids heraus. Einzelne ihrer Theologen befürworten den Gebrauch von Kondomen, aber prominente katholische Stimmen sehen darin eine Aufforderung zur Promiskuität und werten Aids als Folge sexueller Zügellosigkeit.
Schwester Hannelore aus dem Berliner Franziskaner-Orden erinnert sich: "Von Kardinal Höffner ist bekannt, dass er gesagt hat, man muss vielleicht nicht von einer Strafe reden, aber von einer Heimsuchung Gottes. Oder der spätere Papst Benedikt XVI. hat in den 80er-Jahren gesagt, die Natur wehrt sich."

Nonnen bauen einen Hospizdienst für Aids-Kranke auf

Schwester Hannelore gründet 1997 mit Schwester Juvenalis in Berlin einen Hospizdienst für Aids-Kranke. Zuvor hatten beide an Kliniken in Münster Kontakt mit Betroffenen gehabt. Schwester Juvenalis pflegt einen jungen Aids-Kranken, der anfangs große Vorbehalte gegen eine Nonne als Krankenschwester hat: "Was er dann gesagt hat, das hat mich, glaube ich, bewogen, mich mit Aids auseinanderzusetzen", erinnert sich Schwester Juvenalis. "Er sagte: ‚Schwester, ich habe hier ein anderes Gesicht von Kirche kennengelernt.‘ Und da war das so, dass ich gesagt habe, wenn jemand solche Angst vor einem christlichen Krankenhaus hat, dann stimmt mit uns was nicht."
Deshalb gehen die Ordensschwestern Juvenalis und Hannelore gemeinsam nach Berlin, um Aids-Kranke beim Sterben zu begleiten. Auch Schwester Hannelore erlebt Vorbehalte gegenüber Nonnen: "Manche sagten, aber ich als schwuler Mann lebe doch nicht so wie die Mehrheit – wo ich öfters gesagt habe: Dann sind wir im gleichen Boot, ich als Ordensfrau lebe auch nicht so wie die Mehrheit."

Angst der Kirche um die Sexualmoral

In den 80er-Jahren sind es in den Kirchen vor allem Seelsorger, die gegen die Stigmatisierung von HIV-Positiven ankämpfen und einen neuen Blick der Kirche auf Sexualität fordern. Konservative Vorstellungen über Aids gibt es damals auch in der evangelischen Kirche, wie sich die frühere Landesbischöfin, Margot Käßmann, im Gespräch erinnert: "In der evangelischen Kirche gab es auch Stimmen, die von einer Strafe Gottes gesprochen haben, gerade im evangelikalen Bereich, die eine sehr strikte und enge Sexualmoral stets gepredigt haben."
Aber nicht nur die Evangelikalen, sondern auch weite Teile der evangelischen Kirche sind in Fragen der Sexualmoral reaktionär, sagt Käßmann: "Mein Eindruck war bei diesen Diskussionen, dass immer, wenn für Kondome zum Schutz vor HIV-Infektionen plädiert wird, dann wird alles infrage gestellt, die ganze Sexualmoral, die Ordnung, die Sittlichkeit, dann wird zur Promiskuität aufgerufen."

Aids zeigt die Probleme der Kirchen mit Homosexualität

1988 veröffentlicht die evangelische Kirche eine Denkschrift, in der Kondome befürwortet und Sexualität als eine gute Gabe Gottes bezeichnet werden. Aber der Medizinhistoriker Henning Tümmers betont, dass es dort zugleich auch heißt, "dass Aids ein Zeichen der Entfremdung zwischen Schöpfer und Geschöpf sei und auch sie etabliert im Grunde einen Schulddiskurs, genauso wie die katholische Kirche. Liberaler ist dann dieser Entwurf in Bezug auf Heterosexualität, aber es gibt genauso reaktionäre Positionen, was die Homosexualität angeht."
Margot Käßmann versucht eine Einordnung: "Das war der Versuch, einen großen Schritt nach vorne zu gehen und die anderen aber doch mitzunehmen. Aber homosexuell liebende Menschen vollkommen gleich zu akzeptieren, das war in den 80er-Jahren kirchlich undenkbar."

Die Seelsorge soll sich um Sterbende kümmern

Das Thema Aids delegieren die Kirchen damals an die Seelsorge, sagt Pfarrer Rainer Ehlers: "Unter dem Motto, nur ein sterbender Schwuler ist ein guter Schwuler, hat man sich um die gekümmert, die krank waren und die in den Krankenhäusern waren und hat es damit den Krankenhausseelsorgern überlassen."
Rainer Ehlers übernimmt 1994 die erste Pfarrstelle für die Seelsorge von Menschen mit HIV und Aids in Hamburg. Was die Aids-Aufklärung betrifft, sei die Politik und nicht die Kirche Motor gewesen, meint Ehlers. Die Denkschrift der evangelischen Kirche von 1988 enttäuschte ihn:
"Die Denkschrift beschäftigte sich mehr mit den Ansteckungsängsten der normalen Menschen als mit den Ängsten der Infizierten. Und im gleichen Jahr hat Rita Süssmuth ein Buch herausgebracht mit dem Thema Aids, die wirklich die Kranken und Infizierten in den Mittelpunkt stellte. Ich war als Christ wirklich beschämt, dass sich die Vertreter meines Glaubens nicht starkmachen für die Menschen mit Aids, sondern starkmachen für die Menschen mit Angst vor Aids."

"Kirche positHIV" als Heimat für Menschen mit Aids

Auch Pfarrerin Marga Rust-Riedel, die in den 80er-Jahren als Krankenhaus-Seelsorgerin sterbende Aids-Kranke begleitet und die "Kirche positHIV" als Heimat für Menschen mit HIV und Aids mitbegründet hat, erlebte die Ignoranz der Kirche: "Die Kirche hat sich zurückgehalten, die waren einfach vorsichtig, die waren froh, dass es irgendjemand machte."
Rust-Riedel wird damals von Aids-Kranken für Trauerfeiern angefragt, weil die Familien die Lebensrealität der verstorbenen Angehörigen oft ignorierten: "Da wurde eine Beerdigung gehalten und der Pfarrer war nur von den Eltern informiert worden und alle anderen sollten auch gar nicht kommen, da war so ein ‚traurig, traurig, in jungen Jahren zu sterben‘ – aber kein Wort von seinem Schwulsein und kein Wort von seinem Aids. Wenn ich eigentlich gar nicht offen leben kann, das ist doch furchtbar."

Die Politik bewirkt Verbesserungen, nicht die Kirchen

In den 80er-Jahren bewirken die Aufklärungskampagnen der Bundesregierung ein Umdenken in Bezug auf Aids, in Umfragen steigen die Akzeptanzwerte für Menschen mit HIV und Aids. Aber die Kirchen sind keine Vorreiter dieser Entwicklung, betont Rainer Ehlers:
"Es hat sich immer dann verändert, wenn man jemanden kannte, der infiziert und an Aids gestorben war. Und in Hamburg war es zum Beispiel so, dass Anfang der 90er-Jahre innerhalb kurzer Zeit drei Pastoren an Aids erkrankten und verstarben. Und darauf hat die Kirchenleitung in Hamburg gesagt: ‚Wir müssen was machen!‘"
Das Ergebnis war die Einrichtung der Pfarrstelle für HIV-Positive und Aids-Kranke 1994. Die Aids-Politik der 80er-Jahre in Gestalt von Rita Süssmuth, deren liberale Linie sich gegen die restriktiven bayerischen Pläne durchsetzte und im Laufe der 80er-Jahre auch Nachahmung in der DDR fand, gilt im Nachhinein als Erfolgsmodell – anders als der Umgang der Kirchen mit Aids hierzulande.
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