Die Deutschländer
"Deutschländer" werden sie in der Türkei genannt, "Deutschtürken" nennen sie die Deutschen. Und sie selbst? Viele von ihnen wissen selbst nicht, wo sie hingehören, was sie Zuhause nennen sollen. Sie fühlen sich als Fremde, hier wie dort.
Der Heimkehrer: "Jeder weiß nicht, wo er hingehört richtig - also in die Türkei oder nach Europa oder nach Deutschland. Wenn eine Generation zurückkommt, aber die andere Generation ist immer noch dort – also ich bin in der Türkei, aber meine Kinder sind in Deutschland, entweder müssen sie zu mir kommen oder ich muss zu ihnen, weil es ist ja Familie halt."
Die Pendlerin: "Zu Hause, ja, das ist schwer. Wirklich. Also ich vermisse Deutschland. Also ich hab mich nie fremd gefühlt gehabt dort, ich hab nie Schwierigkeiten gehabt. Aber ich fühle mich hier heimisch …"
Der Ausgetürkte: "Deutschländer sagen die Türken hier in der Türkei, wenn jemand von Deutschland kommt. Die sagen nicht, unserer Landsmann oder so, oder einer von uns, sondern die sagen Deutschländer. Das stört mich irgendwie. Da merke ich, dass ich nicht akzeptiert werde, dass ich ausgetürkt bin."
Alle Viere von sich gestreckt - wie tot liegt sie da. Ein Auge öffnet sich kurz, als Sandra sich zu ihr runter beugt, über das goldblonde Fell streichelt. Hündin Zia hält Mittagsschlaf, so wie alle um sie herum. Nur der Fernseher schläft nicht. Ununterbrochen flimmern CNN-Nachrichten über den riesigen silbernen Flachbildschirm in der Ecke, Sandra guckt nur selten wirklich hin. Strohige blonde Haare, grüne Augen, Sommersprossen – Sandra ist Australierin. Seit 14 Jahren lebt sie an der Westküste der Türkei, betreibt mit ihrem Mann Yussuf die "Golden Bed Pension".
Sandra: "Also, als ich 1995 zum ersten Mal hier war, war Kusadasi ein Oliven- und Fischerdorf. Die Menschen begannen dann ihre Farmen und ihre Olivenhaine zu verkaufen, um mit Souvenirs oder Teppichen Geld zu verdienen. Und da, wo eigentlich Bauernhöfe waren, da begann man, diese riesigen Hochhäuser und Appartements zu bauen. Hässliche Gebäude. Und das ist schade, denn Kusadasi war eigentlich schön und irgendwie malerisch."
Sandra zeigt aus dem Fenster auf das Minarett einer kleinen Moschee. "Bis dahin ging Kusadasi, als ich hierher kam", sagt sie. Dahinter türmen sich heute kilometerweit lieblose Hotelblöcke, einer höher als der andere – jeder will seinen Gästen Meerblick bieten. 50.000 Menschen leben im Winter in Kusadasi. Im Sommer sind es zehn mal so viele. Auch ohne Fischerdorf-Atmosphäre und Olivenhaine: die Touristen kommen weiter, das Geschäft läuft gut. Immer mehr von denen, die mit Cafés, Restaurants und Souveniershops Geld verdienen sind Zugezogene – oder besser: Zurückgekehrte. Deutschtürken zum Beispiel, die ihr großes Glück in der Sonne von Kusadasi suchen.
Sandra: "Ich glaube, von dem, was ich in den letzten 15 Jahren gesehen habe, die meisten Menschen, die die Türkei verlassen, kommen zurück. Das ist einfach meine eigene Beobachtung. Es ist einfach nicht ihre Lebensart."
Sie, die Rückkehrer, leben vor allem jenseits der kleinen Moschee. Von Sandras Golden Bed Pension im alten Teil der Stadt geht es durch enge Gassen den Hang hinab, Autofahren ist hier Millimeterarbeit. Die alten Häuser links und rechts der Straße: gelb, rosa, hellblau. Überall bröckelt der Putz, Wäsche baumelt von langen Leinen. Nur ein paar hundert Meter, dann ist alles anders: ein Burger King, riesige Werbetafeln, mehrere Bierpubs. Irgendwo dazwischen, fast ein bisschen unauffällig, das Café Teras.
In einem Vorbau, einer Art Bierzelt: weiße Plastikstühle und -tische. Eine Tafel mit bunten Bildchen zeigt das Angebot: Macaroni, Sandwich, Omelett – Bier … An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei blonde Mädchen über einen Reiseführer gebeugt. Zwischen ihnen steht Cengiz Öztürk, fährt mit dem Finger über eine Karte, erklärt den Weg – auf Deutsch!
Vor mehr als 30 Jahren: Cengiz kommt nach Deutschland, Rüdesheim am Rhein.
Cengiz: "Sehr schöne Gegend, Weinberge überall, Martinstal, wirklich schöne Gegend. Eine der schönsten Ecken von Europa eigentlich. Jetzt ist es glaub ich Weltkulturerbe geworden, die ganze Gegend. Es war für mich schönes Kindheit eigentlich dort.""
Cengiz zieht sich einen der Plastikstühle vom Nebentisch heran, setzt sich, verschränkt die Arme vor der Brust. Nach Deutschland kommen, das heißt für den Jungen damals auch den Vater kennen lernen. Der verlässt die Familie Jahre zuvor, geht ins reiche Deutschland, um Geld zu verdienen.
Cengiz: "Ich hab meinen Vater erst mit zwölf Jahren richtig kennen gelernt. Das ist nicht nur bei mir. Das ist bei vielen Familien in der Türkei so. Viele Kinder haben ihren Vater erst mit 15 oder mit 20 Jahren kennen gelernt. Man hat ihn nur in der Urlaubszeit gesehen. Und daher war’s halt, wenn man zu Hause war, war Familie nicht so einfach."
Der Zwölfjährige lernt damals schnell Deutsch, findet deutsche Freunde, macht eine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Knapp 30 Jahre lebt er in Deutschland – seine Heimat wird es nicht.
Cengiz: "Ich war fast jedes Jahr in der Türkei, also in den Sommerferien mindestens sechs Wochen in der Türkei. Ich hab meine Heimat nie vergessen, wenn’s Ferien hieß, dann war’s für mich halt Heimat. Also wenn die Deutschen damals gedacht haben, Ferien, dann war’s Mallorca. Für mich war das Mallorca mein Dorf damals."
Mallorca, Alicante, Lloret der Mar. Wer die spanischen Hochburgen des Billigtourismus kennt, der kennt auch diesen Teil von Kusadasi mit Karaoke Bars, Tatoostudios, Clubs. Cengiz fühlt sich wohl hier. Doch trotz Sonne und Meer…
Cengiz: "… die ersten zwei Jahre waren sehr schwierig. Jetzt hab ich langsam kapiert, verstanden, wie die Leute denken hier, wie die überlegen. Also, wenn man hierher kommt und man denkt wie Europäer, dann ist es nicht so gut. Man sollte denken wie Leute in der Türkei."
Es sind die kleinen Dinge, sagt er, die ihm immer wieder zeigen, dass er anders ist – hier wie dort. Und es sind auch die kleinen Dinge, die er vermisst.
Cengiz: "…also Kuchen vermiss ich sehr. Käse-Sahne und Kirschtorte ist sehr schwierig zu bekommen … Und halt die Freundschaften. Ich hab sehr viel Umgebung gehabt von Ärzten, von Anwälten, von Geschäftsleuten … Das waren halt … Man konnte mit den Leuten einfach reden, keiner hat von einem was erwartet und es war keine Lüge oder was. Man kann mit jemandem über was diskutieren, freier. Wir waren nicht immer derselben Meinung, aber deswegen haben wir uns nie gekracht … Das ist in der Türkei ganz anders."
Und noch etwas vermisst er: seine beiden Kinder ... Cengiz redet jetzt langsamer, zieht nachdenklich an seiner Zigarette, wischt sich kurz mit der Hand über die Augen. "Ich weiß inzwischen, wo ich hingehör", sagt er dann. Seine Kinder wissen es noch nicht.
Cengiz: "Also, die sprechen beide sehr gut Deutsch, die sind beide in Deutschland geboren, meine Tochter besucht das Gymnasium, mein Sohn ist so`n bisschen ein Lausebub. Aber, für die Heimat jetzt … Seit ich nicht mehr in Deutschland bin, überlegen die auch in die Türkei zurück zu gehen. Weil ich hab mit meinen Kindern sehr enges Verhältnis. Also, was ich bei mir vermisst habe, das wollte ich meinen Kindern nicht leben lassen …"
Am Otogar, dem Busbahnhof von Kusadasi, stehen weiße Minibusse bereit. Die Fahrer dösen am Lenkrad, einige sind ausgestiegen, rauchen an die Kühlerhaube gelehnt eine Zigarette. In kleinen Shops gibt es Nüsse, Kekse, Getränke. Ein alter Mann mit Hut verkauft Sesamringe von einem Handwagen.
Kurve an Kurve schlängelt sich die Küstenstraße in Richtung Süden. Rechts das türkisblaue Meer, wie aus dem Werbekatalog. Links eine felsige Mondlandschaft, bedeckt von graugrünem Gras. Silbrig glänzende Olivenbäume werfen in der Nachmittagssonne ihre langen Schatten. Baum an Baum an Baum. Dann plötzlich, unerwartet, wie aus Versehen hingestreut: unfertige Häuser. Wie Gerippe ragen graue Säulen und Wände in den Himmel, bis irgendwann einmal das Ersparte fürs nächste Stockwerk reicht. Die meisten Fahrgäste sind eingeschlafen, wachen erst wieder auf, als der Bus Stunden später in den Otogar von Fethiye einrollt.
Der nächste Morgen. Fethiye, gut 200 km südlich von Kusadasi, schläft noch. Eine einzelne Touristin sitzt, die Beine angezogen, auf einer Bank am Hafen, den Blick auf die in der Morgensonne schaukelnden Fischkutter. Lilly, Medizinstudentin aus Hannover, ist zum ersten Mal in der Türkei, reist mit dem Rucksack die Küste entlang bis Gaziantep im Süden. Türkisch spricht sie kein Wort, aber eigentlich kommt sie mit Deutsch gut zu recht, sagt sie.
Lilly: "Ja, zum Beispiel wollte ich mir was zu essen kaufen und stand vor so ’nem Stand, wo so lauter Teiggeschichten waren, und ich wusste halt nicht, was da drinnen ist, und dann plötzlich kam einer und hat gesagt: 'Soll ich dir nicht mal helfen und dir erklären, was das ist?!' Und dann hab ich mich umgedreht und dachte so: 'Hä?' Und dann war das halt auch einer, der hier halt arbeitet und eigentlich auch in Deutschland war …"
Der, den sie meint, ist "Willy ohne W" aus Heilbronn. – So stellt sich Illy selbst am liebsten vor. Nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt sitzt er auf der Terrasse eines Restaurants, den massigen Körper auf den eingedeckten Tisch gelehnt, die Zigarette winzig klein zwischen seinen Fingern. Vom Drogendealer zum Tellerwäscher, vom Schläger zum Oberkellner, vom Neckar ans Mittelmeer. Illys Geschichte ist lang. Pfingstsonntag 1993: In Solingen brennt das Haus einer türkischen Familie, von Nazis angezündet. Frauen und Kinder sterben. Einen der Brandstifter bekommt Illy in die Finger, so sagt er.
Illy: "War ’ne riesen Schlägerei, der war halb gelähmt. Dafür hab ich `ne Knaststrafe bekommen von elf Jahren. Davon sollte ich sieben absitzen und dann in die Türkei – oder gleich in die Türkei. Ich hab natürlich Türkei angenommen."
Der 16-jährige Illy, in Deutschland geboren, ist Türke. Vor allem auf dem Papier. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er kurz zuvor voller Stolz abgelehnt.
Illy: "… wegen dem türkischen Fußballclub, Fanatik, weiß nicht. Weil du, wie sagt man, jung und nicht bescheiden warst. Damals, ne, was will ich, ich bin Türke – obwohl ich gar nichts über die Türkei weiß, ne?! War halt nur, ja ich bin Türke, was will ich mit der deutschen Staatsbürgerschaft."
Illys schwerer Körper scheint jetzt noch schwerer. Tief zieht er den Zigarettenrauch in die Lunge, stößt ihn durch die Nase wieder aus. Die schlechte Haut, tiefe blaue Ringe unter den Augen erinnern an die Zeit, in der Illy noch keine weißen Hemden trägt. "Heute", sagt er dann, "würde ich anders entscheiden." Erst, als er Deutschland verlässt, in der Türkei bei einem Onkel unterkommt, wird ihm klar, was passiert ist. Sein Türkisch ist schlecht, Freunde hat er hier nicht.
Illy: "Du bist ja mit der Kultur aufgewachsen, mit der europäischen Kultur. Jetzt kommst du in die asiatische Kultur. Geht nicht, klappt nicht. Ja, ok, ich hab hier mit keinem Menschen Probleme, nix. Aber es ist halt doch irgendwie …"
Drei Touristen laufen auf dem Bürgersteig vorbei, gucken kurz auf das Tagesmenü, gehen weiter. Illy schaut ihnen hinterher. Normalerweise springt er auf, spricht Touristen erst auf Deutsch an, dann auf Englisch, überrascht sie mit seinen Sprachkenntnissen, bittet sie dann herein. Er hat sich hochgearbeitet in der Türkei: vom Tellerwäscher zum Kellner, zum Oberkellner.
Illy: "Die ersten Jahre war ich der Germane, der Almanji. Bis ich dann jeden Tag fünf Zeitungen gelesen hab, bis ich dann das Türkisch wie die Türken hier, sagen wir mal, wie das Hochdeutsch in Hamburg, sprechen konnte. Da haben sie’s aus meinem Akzent dann nicht mehr rausgehört, dass ich der Deutsche, der Germane oder der Almanji bin. Wir haben ja zu Hause nur deutsch gesprochen und ganz selten 'ich hab Hunger' auf Türkisch oder 'gute Nacht' auf Türkisch."
Am Telefon erzählen ihm seine Schwestern heute, was es Neues gibt in Heilbronn, was aus seinen Freunden geworden ist. "Alle tot, im Knast oder abgeschoben", sagt Illy zwischen zwei Zigarettenzügen. Seit bald 16 Jahren lebt, arbeitet, verdient er in der Türkei, der Heimat seiner Eltern – in Heilbronn war er seitdem nicht mehr.
Illy: "Natürlich vermisse ich es. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Das war meine Jugend. Okay, ich hab Scheiße gebaut, aber da sind jetzt zwölf Jahre vergangen. Das war damals der 16-Jährige, jetzt ist es der 34-Jährige. Äh, hallo!? Ich möchte einen Monat nur Neckar, Heilbronn laufen. Laufen, echt."
Illy steht auf, läuft zwischen den leeren Tischen hindurch zur Küche. Sein Antrag auf ein Urlaubsvisum für Deutschland: abgelehnt.
Die Sonne steht inzwischen hoch, taucht die Bucht, an deren südlichem Ende Fethiye liegt, in gleißendes Licht. Die Stadt ist aufgewacht, bleibt trotzdem ruhig. Kein Vergleich mit dem bunten, schreienden Kusadasi am Vortag.
Nur hier schreien sie: Auf dem Markt an der Atatürk Caddesi wühlen sich Frauen mit bunten Kopftüchern an Bergen von roten Paprika, Bananen, Auberginen vorbei, tragen prall gefüllte Plastiktüten. Der Duft von frisch gerösteten Nüssen liegt über allem, muss nur am Fischstand weichen. Wer hier frischen Fisch essen möchte, sucht sich einen aus, bringt ihn zu einem der umliegenden Restaurants, lässt ihn frisch zubereiten, mit Salat servieren. Dazu Raki, türkischen Anisschnaps.]
Fethiye und Willy ohne W aus Heilbronn bleiben hinter einem Berg zurück, um den sich die Serpentinen der Küstenstraße wie eine Schlange legen. Nach Antalya sind es gute vier Stunden. Vor dem Fenster: Tausende von Olivenbäumen, endlose Reihen auf roter Erde.
Stromausfall, Antalyas Altstadtviertel Kaleici im Dunkeln. An einer Straßenecke steht vor einem Juweliergeschäft – dunkler Anzug, zurückgegeltes schwarzes Haar – Ibrahim aus Hamburg. "Ich erkenne Deutsche sofort", sagt er grinsend, öffnet die Glastür weit.
Drinnen, bei Notbeleuchtung, wischt ein Cousin mit einem Tuch über die Vitrinen, in denen Gold, vor allem Gold glänzt. 16 Juweliergeschäfte gehören Ibrahims Familie in der ganzen Türkei. Er selbst, Schmuckdesigner in Hamburg, nur zu Gast.
Ibrahim: "Vielleicht alle zwei Jahre mal. Sechs Wochen Urlaub in der Türkei und wieder zurück nach Deutschland. Das war’s dann aber auch. Aber so regelmäßig hier leben und so - also ich weiß nicht … Vom Wetter her ist es hier schöner, aber vom Leben her ist es in Deutschland schöner."
Ibrahims Eltern sind gerade für immer in die Türkei zurückgekehrt. Er selbst bleibt in Hamburg, wo sie ihn Ausländer nennen. Und hier, in der Türkei?
Ibrahim: "Du wirst hier nicht als Türke angesehen. Du bist hier schon richtig Deutschtürke. Nicht nur hier jetzt im Juwelier, auch wenn ich jetzt irgendwo ‘n T-Shirt kaufen gehe. Die merken das sofort, dass du kein Türke bist."
Ibrahim lässt einen Zuckerwürfel in sein Teeglas fallen, rührt langsam um, überlegt. "Meine Heimat ist schon irgendwie Deutschland.", sagt er. "Die Türkei ist irgendwie anders. Hier in Antalya geht das ja noch. Aber weiter im Osten …"
14 Stunden schiebt sich der Bus in Richtung Osten. Die Fahrt von Antalya nach Gaziantep geht langsam voran. Vorbei an staubigen Dörfern, grauen Kleinstädten. Statt Gold verkauft man hier Autoreifen am Straßenrand. Dann, im Morgengrauen, wie aus dem Boden gestampft: immer gleiche pastellfarbene Hochhäuser. Wenige Jahre alt, aufgereiht an frisch asphaltierten Straßen. Gaziantep. Boomende Wirtschaftsstadt, ein Hauch von arabischer Kultur – die syrische Grenze ist nur eine halbe Stunde entfernt.
Touristen verirren sich nur selten ins traditionell konservative Gaziantep. Sie bleiben in einer anderen Türkei: Im bunten Kusadasi, im idyllischen Fethiye, in Antalya mit seinen Clubs und Malls am türkiesblauen Meer ...
Am frühen Abend sind die Straßen von Gaziantep leer, einige junge Paare schlendern verstohlen Arm in Arm durch den Stadtpark. Aus einem halboffenen Fenster dringen Stimmen auf die Straße. Drinnen: Heller Teppich, ein Kronleuchter, beige Sessel und Sofas im Biedermeierstil. An den Wänden gerahmte Portraits von Familienmitgliedern. Eine Ausnahme, dass sie alle zusammen sitzen: die Schwiegermutter, die Schwester, der Schwager, der Neffe, die Ehefrau und er selbst: Mehmet Evesin – frisch rasiert, modische schwarze Brille, schwarzes Hemd – seit 37 Jahren in Deutschland.
Mehmet: "Ich wollte eigentlich nie von Deutschland weg, bis ich damals geheiratet habe. Ich hab leider – jetzt müsste ich sagen das war ein Fehler – 1975 zum ersten Mal von Deutschland in der Türkei Urlaub gemacht, da hab ich meine Frau kennen gelernt."
Mehmet wirft einen Blick zu seiner Frau Nurai, die mit angezogenen Füßen auf dem Sofa gegenüber sitzt, schnipst mit den Fingern einen Fusel von seinem Hemd. Damals heiratet Mehmet Nurai, seine Cousine, nimmt sie mit sich nach Mannheim, beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft. Sein Pass, seine Freunde, sein Denken: Mehmet ist Deutscher.
Mehmet: "Ich hab zum Beispiel kennen gelernt, dass man seine Persönlichkeitsgrenze zeigen kann in Deutschland. In der Türkei kannst du die ja gar nicht zeigen, weil das haben wir ja nie gelernt. Jeder hat das Recht dich jeder Zeit irgendwie anzurufen oder unangemeldet vorbei zu kommen. Und das gibt’s in Deutschland zum Beispiel nicht, das find ich auch irgendwie positiv. Ich hab hier in Deutschland gelernt auch mal nein zu sagen. 'Nein' war für mich irgendwie Schande und da hab ich das in Deutschland dann gelernt."
Länger als eine Woche am Stück hält Mehmet es inzwischen nicht mehr aus in Gaziantep. Dann muss er zurück nach Mannheim, bis er wieder Sehnsucht bekommt. Bei jedem Besuch in der Türkei fühlt er sich jetzt ein Stück fremder, die eigenen Landsleute akzeptieren ihn nicht mehr. Mehmet ist Deutschländer.
Mehmet: "Es war, dass die Deutschländer hier sehr gut angesehen waren. Die waren ja praktisch für die Türkei, wie sagt man das in Deutsch, goldlegende … Goldeier legende Hühner oder so was wurden sie genannt damals. Aber die Zeit hat sich geändert. Und jetzt werden sie auch nicht mehr gut angesehen. Weil die Deutschländer auch nicht mehr viel kaufen und sie lassen sich auch nicht mehr viel sagen. Ich kenn viele Menschen aus der zweiten oder dritten Generation, die von der Türkei nichts mehr wissen wollen."
Nuray hört von ihrem Sofa aus zu, schüttelt bei den letzten Worten ihres Mannes fast unmerklich den Kopf, verdreht die Augen. 15 Jahre verbringt sie mit ihm in Mannheim, integriert sich, lernt schnell Deutsch. Nachdem zwei der drei Kinder an Leukämie sterben, kommen die Depressionen – sie muss zurück in die Türkei zu ihrer Familie. Er geht mit, versucht es zumindest.
Mehmet: "Hier ist alles anders, man muss Bezüge haben, wenn man Geschäfte führt und das hab ich halt nicht. Und ich hab versucht so zu machen, wie die hier das machen. Und ich kann das nicht. Ich bin praktisch ausgetürkt, da hab ich gemerkt, dass ich ausgetürkt bin, ja. Dass ich nicht so kann wie die. Ich hab meiner Frau gesagt, ich kann das nicht, ich kann Deutschland nicht verlassen."
Zurück nach Mannheim. Sie bleibt mit der Tochter in Gaziantep, beginnt zu pendeln … Nurai kommt jetzt herüber, setzt sich neben ihren Mann.
Nurai: "Also, ich bin sehr unter Druck und das kostet mich sehr Kraft und Nerven. Das ist nicht so leicht. Ich geh paar Monate hier, dann wieder rüber. Überhaupt habe ich immer gedacht, meine Tochter soll, nachdem wir soviel erlebt haben, möchte ich, dass sie mit einer Kultur aufwächst. Deswegen habe ich mir viel Mühe gegeben …"
Dezent geschminkt, elegante Brille, blonder Kurzhaarschnitt. Nurai sieht sportlich, frisch aus. Die Angst, die Anstrengung, die Zerrissenheit ... Man sieht sie ihr nicht an. Beide haben Angst um ihre Ehe, eine Lösung sehen sie nicht.
Mehmet & Nurai: "Es kann ja nicht sein, dass ich von heute auf morgen von Deutschland nach Türkei komme und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen. Das geht nicht.
Aber ich leide darunter sehr, hin und her. Es kostet mich viel Gesundheit, es ist nicht leicht. Hin und her, hin und her. Manchmal denke ich, also jetzt reicht’s. Ich muss irgendwo leben. Aber es geht nicht anders.
Das ist das, was ich vorher gesagt hab, ich sag, sie geht kaputt zwischen zwei Ländern, durch zwei Kulturen."
Es ist spät geworden. Früh am Morgen geht Mehmets Flieger zurück nach Mannheim, der Koffer steht schon an der Tür. Nurai bleibt in Gaziantep bei ihrer Familie. Sie leben getrennt, bis einer von beiden wieder ins Flugzeug steigt, in die Welt des anderen fliegt.
Der Flughafen von Gaziantep. Auch Medizinstudentin Lilly aus Hannover sitzt in der Wartehalle. Neben sich den roten Rucksack, auf dem Schoß ein kleines Türkischlexikon. Gebraucht hat sie es nicht auf ihrer Reise. Illy aus Heilbronn, Vedat aus Hamburg, Erol aus Krefeld … Viele Rückkehrer hat sie getroffen, ob sie angekommen sind?
Lilly: "Vom Herzen nicht, nee … selbst wenn sie es sagen, wenn man dann in die Augen guckt und dann stehen da Tränen oder die Leute fangen an zu stocken ,wenn sie was erzählen … Ich hab schon das Gefühl gehabt, dass da immer so’n Gefühl von nicht vollständig sein oder nicht ganz da sein immer da ist, dass immer was fehlt so. Nicht ganz komplett."
Lilly wuchtet den Rucksack auf den Rücken, stellt sich in die Schlange. Wartet zwischen verschlafenen Männern in Anzügen, Frauen mit bunten Kopftüchern, Koffern, Taschen, Plastiktüten. In wenigen Stunden landet die Maschine in Deutschland, Lilly ist dann zu Hause.
Die Pendlerin: "Zu Hause, ja, das ist schwer. Wirklich. Also ich vermisse Deutschland. Also ich hab mich nie fremd gefühlt gehabt dort, ich hab nie Schwierigkeiten gehabt. Aber ich fühle mich hier heimisch …"
Der Ausgetürkte: "Deutschländer sagen die Türken hier in der Türkei, wenn jemand von Deutschland kommt. Die sagen nicht, unserer Landsmann oder so, oder einer von uns, sondern die sagen Deutschländer. Das stört mich irgendwie. Da merke ich, dass ich nicht akzeptiert werde, dass ich ausgetürkt bin."
Alle Viere von sich gestreckt - wie tot liegt sie da. Ein Auge öffnet sich kurz, als Sandra sich zu ihr runter beugt, über das goldblonde Fell streichelt. Hündin Zia hält Mittagsschlaf, so wie alle um sie herum. Nur der Fernseher schläft nicht. Ununterbrochen flimmern CNN-Nachrichten über den riesigen silbernen Flachbildschirm in der Ecke, Sandra guckt nur selten wirklich hin. Strohige blonde Haare, grüne Augen, Sommersprossen – Sandra ist Australierin. Seit 14 Jahren lebt sie an der Westküste der Türkei, betreibt mit ihrem Mann Yussuf die "Golden Bed Pension".
Sandra: "Also, als ich 1995 zum ersten Mal hier war, war Kusadasi ein Oliven- und Fischerdorf. Die Menschen begannen dann ihre Farmen und ihre Olivenhaine zu verkaufen, um mit Souvenirs oder Teppichen Geld zu verdienen. Und da, wo eigentlich Bauernhöfe waren, da begann man, diese riesigen Hochhäuser und Appartements zu bauen. Hässliche Gebäude. Und das ist schade, denn Kusadasi war eigentlich schön und irgendwie malerisch."
Sandra zeigt aus dem Fenster auf das Minarett einer kleinen Moschee. "Bis dahin ging Kusadasi, als ich hierher kam", sagt sie. Dahinter türmen sich heute kilometerweit lieblose Hotelblöcke, einer höher als der andere – jeder will seinen Gästen Meerblick bieten. 50.000 Menschen leben im Winter in Kusadasi. Im Sommer sind es zehn mal so viele. Auch ohne Fischerdorf-Atmosphäre und Olivenhaine: die Touristen kommen weiter, das Geschäft läuft gut. Immer mehr von denen, die mit Cafés, Restaurants und Souveniershops Geld verdienen sind Zugezogene – oder besser: Zurückgekehrte. Deutschtürken zum Beispiel, die ihr großes Glück in der Sonne von Kusadasi suchen.
Sandra: "Ich glaube, von dem, was ich in den letzten 15 Jahren gesehen habe, die meisten Menschen, die die Türkei verlassen, kommen zurück. Das ist einfach meine eigene Beobachtung. Es ist einfach nicht ihre Lebensart."
Sie, die Rückkehrer, leben vor allem jenseits der kleinen Moschee. Von Sandras Golden Bed Pension im alten Teil der Stadt geht es durch enge Gassen den Hang hinab, Autofahren ist hier Millimeterarbeit. Die alten Häuser links und rechts der Straße: gelb, rosa, hellblau. Überall bröckelt der Putz, Wäsche baumelt von langen Leinen. Nur ein paar hundert Meter, dann ist alles anders: ein Burger King, riesige Werbetafeln, mehrere Bierpubs. Irgendwo dazwischen, fast ein bisschen unauffällig, das Café Teras.
In einem Vorbau, einer Art Bierzelt: weiße Plastikstühle und -tische. Eine Tafel mit bunten Bildchen zeigt das Angebot: Macaroni, Sandwich, Omelett – Bier … An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei blonde Mädchen über einen Reiseführer gebeugt. Zwischen ihnen steht Cengiz Öztürk, fährt mit dem Finger über eine Karte, erklärt den Weg – auf Deutsch!
Vor mehr als 30 Jahren: Cengiz kommt nach Deutschland, Rüdesheim am Rhein.
Cengiz: "Sehr schöne Gegend, Weinberge überall, Martinstal, wirklich schöne Gegend. Eine der schönsten Ecken von Europa eigentlich. Jetzt ist es glaub ich Weltkulturerbe geworden, die ganze Gegend. Es war für mich schönes Kindheit eigentlich dort.""
Cengiz zieht sich einen der Plastikstühle vom Nebentisch heran, setzt sich, verschränkt die Arme vor der Brust. Nach Deutschland kommen, das heißt für den Jungen damals auch den Vater kennen lernen. Der verlässt die Familie Jahre zuvor, geht ins reiche Deutschland, um Geld zu verdienen.
Cengiz: "Ich hab meinen Vater erst mit zwölf Jahren richtig kennen gelernt. Das ist nicht nur bei mir. Das ist bei vielen Familien in der Türkei so. Viele Kinder haben ihren Vater erst mit 15 oder mit 20 Jahren kennen gelernt. Man hat ihn nur in der Urlaubszeit gesehen. Und daher war’s halt, wenn man zu Hause war, war Familie nicht so einfach."
Der Zwölfjährige lernt damals schnell Deutsch, findet deutsche Freunde, macht eine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Knapp 30 Jahre lebt er in Deutschland – seine Heimat wird es nicht.
Cengiz: "Ich war fast jedes Jahr in der Türkei, also in den Sommerferien mindestens sechs Wochen in der Türkei. Ich hab meine Heimat nie vergessen, wenn’s Ferien hieß, dann war’s für mich halt Heimat. Also wenn die Deutschen damals gedacht haben, Ferien, dann war’s Mallorca. Für mich war das Mallorca mein Dorf damals."
Mallorca, Alicante, Lloret der Mar. Wer die spanischen Hochburgen des Billigtourismus kennt, der kennt auch diesen Teil von Kusadasi mit Karaoke Bars, Tatoostudios, Clubs. Cengiz fühlt sich wohl hier. Doch trotz Sonne und Meer…
Cengiz: "… die ersten zwei Jahre waren sehr schwierig. Jetzt hab ich langsam kapiert, verstanden, wie die Leute denken hier, wie die überlegen. Also, wenn man hierher kommt und man denkt wie Europäer, dann ist es nicht so gut. Man sollte denken wie Leute in der Türkei."
Es sind die kleinen Dinge, sagt er, die ihm immer wieder zeigen, dass er anders ist – hier wie dort. Und es sind auch die kleinen Dinge, die er vermisst.
Cengiz: "…also Kuchen vermiss ich sehr. Käse-Sahne und Kirschtorte ist sehr schwierig zu bekommen … Und halt die Freundschaften. Ich hab sehr viel Umgebung gehabt von Ärzten, von Anwälten, von Geschäftsleuten … Das waren halt … Man konnte mit den Leuten einfach reden, keiner hat von einem was erwartet und es war keine Lüge oder was. Man kann mit jemandem über was diskutieren, freier. Wir waren nicht immer derselben Meinung, aber deswegen haben wir uns nie gekracht … Das ist in der Türkei ganz anders."
Und noch etwas vermisst er: seine beiden Kinder ... Cengiz redet jetzt langsamer, zieht nachdenklich an seiner Zigarette, wischt sich kurz mit der Hand über die Augen. "Ich weiß inzwischen, wo ich hingehör", sagt er dann. Seine Kinder wissen es noch nicht.
Cengiz: "Also, die sprechen beide sehr gut Deutsch, die sind beide in Deutschland geboren, meine Tochter besucht das Gymnasium, mein Sohn ist so`n bisschen ein Lausebub. Aber, für die Heimat jetzt … Seit ich nicht mehr in Deutschland bin, überlegen die auch in die Türkei zurück zu gehen. Weil ich hab mit meinen Kindern sehr enges Verhältnis. Also, was ich bei mir vermisst habe, das wollte ich meinen Kindern nicht leben lassen …"
Am Otogar, dem Busbahnhof von Kusadasi, stehen weiße Minibusse bereit. Die Fahrer dösen am Lenkrad, einige sind ausgestiegen, rauchen an die Kühlerhaube gelehnt eine Zigarette. In kleinen Shops gibt es Nüsse, Kekse, Getränke. Ein alter Mann mit Hut verkauft Sesamringe von einem Handwagen.
Kurve an Kurve schlängelt sich die Küstenstraße in Richtung Süden. Rechts das türkisblaue Meer, wie aus dem Werbekatalog. Links eine felsige Mondlandschaft, bedeckt von graugrünem Gras. Silbrig glänzende Olivenbäume werfen in der Nachmittagssonne ihre langen Schatten. Baum an Baum an Baum. Dann plötzlich, unerwartet, wie aus Versehen hingestreut: unfertige Häuser. Wie Gerippe ragen graue Säulen und Wände in den Himmel, bis irgendwann einmal das Ersparte fürs nächste Stockwerk reicht. Die meisten Fahrgäste sind eingeschlafen, wachen erst wieder auf, als der Bus Stunden später in den Otogar von Fethiye einrollt.
Der nächste Morgen. Fethiye, gut 200 km südlich von Kusadasi, schläft noch. Eine einzelne Touristin sitzt, die Beine angezogen, auf einer Bank am Hafen, den Blick auf die in der Morgensonne schaukelnden Fischkutter. Lilly, Medizinstudentin aus Hannover, ist zum ersten Mal in der Türkei, reist mit dem Rucksack die Küste entlang bis Gaziantep im Süden. Türkisch spricht sie kein Wort, aber eigentlich kommt sie mit Deutsch gut zu recht, sagt sie.
Lilly: "Ja, zum Beispiel wollte ich mir was zu essen kaufen und stand vor so ’nem Stand, wo so lauter Teiggeschichten waren, und ich wusste halt nicht, was da drinnen ist, und dann plötzlich kam einer und hat gesagt: 'Soll ich dir nicht mal helfen und dir erklären, was das ist?!' Und dann hab ich mich umgedreht und dachte so: 'Hä?' Und dann war das halt auch einer, der hier halt arbeitet und eigentlich auch in Deutschland war …"
Der, den sie meint, ist "Willy ohne W" aus Heilbronn. – So stellt sich Illy selbst am liebsten vor. Nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt sitzt er auf der Terrasse eines Restaurants, den massigen Körper auf den eingedeckten Tisch gelehnt, die Zigarette winzig klein zwischen seinen Fingern. Vom Drogendealer zum Tellerwäscher, vom Schläger zum Oberkellner, vom Neckar ans Mittelmeer. Illys Geschichte ist lang. Pfingstsonntag 1993: In Solingen brennt das Haus einer türkischen Familie, von Nazis angezündet. Frauen und Kinder sterben. Einen der Brandstifter bekommt Illy in die Finger, so sagt er.
Illy: "War ’ne riesen Schlägerei, der war halb gelähmt. Dafür hab ich `ne Knaststrafe bekommen von elf Jahren. Davon sollte ich sieben absitzen und dann in die Türkei – oder gleich in die Türkei. Ich hab natürlich Türkei angenommen."
Der 16-jährige Illy, in Deutschland geboren, ist Türke. Vor allem auf dem Papier. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er kurz zuvor voller Stolz abgelehnt.
Illy: "… wegen dem türkischen Fußballclub, Fanatik, weiß nicht. Weil du, wie sagt man, jung und nicht bescheiden warst. Damals, ne, was will ich, ich bin Türke – obwohl ich gar nichts über die Türkei weiß, ne?! War halt nur, ja ich bin Türke, was will ich mit der deutschen Staatsbürgerschaft."
Illys schwerer Körper scheint jetzt noch schwerer. Tief zieht er den Zigarettenrauch in die Lunge, stößt ihn durch die Nase wieder aus. Die schlechte Haut, tiefe blaue Ringe unter den Augen erinnern an die Zeit, in der Illy noch keine weißen Hemden trägt. "Heute", sagt er dann, "würde ich anders entscheiden." Erst, als er Deutschland verlässt, in der Türkei bei einem Onkel unterkommt, wird ihm klar, was passiert ist. Sein Türkisch ist schlecht, Freunde hat er hier nicht.
Illy: "Du bist ja mit der Kultur aufgewachsen, mit der europäischen Kultur. Jetzt kommst du in die asiatische Kultur. Geht nicht, klappt nicht. Ja, ok, ich hab hier mit keinem Menschen Probleme, nix. Aber es ist halt doch irgendwie …"
Drei Touristen laufen auf dem Bürgersteig vorbei, gucken kurz auf das Tagesmenü, gehen weiter. Illy schaut ihnen hinterher. Normalerweise springt er auf, spricht Touristen erst auf Deutsch an, dann auf Englisch, überrascht sie mit seinen Sprachkenntnissen, bittet sie dann herein. Er hat sich hochgearbeitet in der Türkei: vom Tellerwäscher zum Kellner, zum Oberkellner.
Illy: "Die ersten Jahre war ich der Germane, der Almanji. Bis ich dann jeden Tag fünf Zeitungen gelesen hab, bis ich dann das Türkisch wie die Türken hier, sagen wir mal, wie das Hochdeutsch in Hamburg, sprechen konnte. Da haben sie’s aus meinem Akzent dann nicht mehr rausgehört, dass ich der Deutsche, der Germane oder der Almanji bin. Wir haben ja zu Hause nur deutsch gesprochen und ganz selten 'ich hab Hunger' auf Türkisch oder 'gute Nacht' auf Türkisch."
Am Telefon erzählen ihm seine Schwestern heute, was es Neues gibt in Heilbronn, was aus seinen Freunden geworden ist. "Alle tot, im Knast oder abgeschoben", sagt Illy zwischen zwei Zigarettenzügen. Seit bald 16 Jahren lebt, arbeitet, verdient er in der Türkei, der Heimat seiner Eltern – in Heilbronn war er seitdem nicht mehr.
Illy: "Natürlich vermisse ich es. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Das war meine Jugend. Okay, ich hab Scheiße gebaut, aber da sind jetzt zwölf Jahre vergangen. Das war damals der 16-Jährige, jetzt ist es der 34-Jährige. Äh, hallo!? Ich möchte einen Monat nur Neckar, Heilbronn laufen. Laufen, echt."
Illy steht auf, läuft zwischen den leeren Tischen hindurch zur Küche. Sein Antrag auf ein Urlaubsvisum für Deutschland: abgelehnt.
Die Sonne steht inzwischen hoch, taucht die Bucht, an deren südlichem Ende Fethiye liegt, in gleißendes Licht. Die Stadt ist aufgewacht, bleibt trotzdem ruhig. Kein Vergleich mit dem bunten, schreienden Kusadasi am Vortag.
Nur hier schreien sie: Auf dem Markt an der Atatürk Caddesi wühlen sich Frauen mit bunten Kopftüchern an Bergen von roten Paprika, Bananen, Auberginen vorbei, tragen prall gefüllte Plastiktüten. Der Duft von frisch gerösteten Nüssen liegt über allem, muss nur am Fischstand weichen. Wer hier frischen Fisch essen möchte, sucht sich einen aus, bringt ihn zu einem der umliegenden Restaurants, lässt ihn frisch zubereiten, mit Salat servieren. Dazu Raki, türkischen Anisschnaps.]
Fethiye und Willy ohne W aus Heilbronn bleiben hinter einem Berg zurück, um den sich die Serpentinen der Küstenstraße wie eine Schlange legen. Nach Antalya sind es gute vier Stunden. Vor dem Fenster: Tausende von Olivenbäumen, endlose Reihen auf roter Erde.
Stromausfall, Antalyas Altstadtviertel Kaleici im Dunkeln. An einer Straßenecke steht vor einem Juweliergeschäft – dunkler Anzug, zurückgegeltes schwarzes Haar – Ibrahim aus Hamburg. "Ich erkenne Deutsche sofort", sagt er grinsend, öffnet die Glastür weit.
Drinnen, bei Notbeleuchtung, wischt ein Cousin mit einem Tuch über die Vitrinen, in denen Gold, vor allem Gold glänzt. 16 Juweliergeschäfte gehören Ibrahims Familie in der ganzen Türkei. Er selbst, Schmuckdesigner in Hamburg, nur zu Gast.
Ibrahim: "Vielleicht alle zwei Jahre mal. Sechs Wochen Urlaub in der Türkei und wieder zurück nach Deutschland. Das war’s dann aber auch. Aber so regelmäßig hier leben und so - also ich weiß nicht … Vom Wetter her ist es hier schöner, aber vom Leben her ist es in Deutschland schöner."
Ibrahims Eltern sind gerade für immer in die Türkei zurückgekehrt. Er selbst bleibt in Hamburg, wo sie ihn Ausländer nennen. Und hier, in der Türkei?
Ibrahim: "Du wirst hier nicht als Türke angesehen. Du bist hier schon richtig Deutschtürke. Nicht nur hier jetzt im Juwelier, auch wenn ich jetzt irgendwo ‘n T-Shirt kaufen gehe. Die merken das sofort, dass du kein Türke bist."
Ibrahim lässt einen Zuckerwürfel in sein Teeglas fallen, rührt langsam um, überlegt. "Meine Heimat ist schon irgendwie Deutschland.", sagt er. "Die Türkei ist irgendwie anders. Hier in Antalya geht das ja noch. Aber weiter im Osten …"
14 Stunden schiebt sich der Bus in Richtung Osten. Die Fahrt von Antalya nach Gaziantep geht langsam voran. Vorbei an staubigen Dörfern, grauen Kleinstädten. Statt Gold verkauft man hier Autoreifen am Straßenrand. Dann, im Morgengrauen, wie aus dem Boden gestampft: immer gleiche pastellfarbene Hochhäuser. Wenige Jahre alt, aufgereiht an frisch asphaltierten Straßen. Gaziantep. Boomende Wirtschaftsstadt, ein Hauch von arabischer Kultur – die syrische Grenze ist nur eine halbe Stunde entfernt.
Touristen verirren sich nur selten ins traditionell konservative Gaziantep. Sie bleiben in einer anderen Türkei: Im bunten Kusadasi, im idyllischen Fethiye, in Antalya mit seinen Clubs und Malls am türkiesblauen Meer ...
Am frühen Abend sind die Straßen von Gaziantep leer, einige junge Paare schlendern verstohlen Arm in Arm durch den Stadtpark. Aus einem halboffenen Fenster dringen Stimmen auf die Straße. Drinnen: Heller Teppich, ein Kronleuchter, beige Sessel und Sofas im Biedermeierstil. An den Wänden gerahmte Portraits von Familienmitgliedern. Eine Ausnahme, dass sie alle zusammen sitzen: die Schwiegermutter, die Schwester, der Schwager, der Neffe, die Ehefrau und er selbst: Mehmet Evesin – frisch rasiert, modische schwarze Brille, schwarzes Hemd – seit 37 Jahren in Deutschland.
Mehmet: "Ich wollte eigentlich nie von Deutschland weg, bis ich damals geheiratet habe. Ich hab leider – jetzt müsste ich sagen das war ein Fehler – 1975 zum ersten Mal von Deutschland in der Türkei Urlaub gemacht, da hab ich meine Frau kennen gelernt."
Mehmet wirft einen Blick zu seiner Frau Nurai, die mit angezogenen Füßen auf dem Sofa gegenüber sitzt, schnipst mit den Fingern einen Fusel von seinem Hemd. Damals heiratet Mehmet Nurai, seine Cousine, nimmt sie mit sich nach Mannheim, beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft. Sein Pass, seine Freunde, sein Denken: Mehmet ist Deutscher.
Mehmet: "Ich hab zum Beispiel kennen gelernt, dass man seine Persönlichkeitsgrenze zeigen kann in Deutschland. In der Türkei kannst du die ja gar nicht zeigen, weil das haben wir ja nie gelernt. Jeder hat das Recht dich jeder Zeit irgendwie anzurufen oder unangemeldet vorbei zu kommen. Und das gibt’s in Deutschland zum Beispiel nicht, das find ich auch irgendwie positiv. Ich hab hier in Deutschland gelernt auch mal nein zu sagen. 'Nein' war für mich irgendwie Schande und da hab ich das in Deutschland dann gelernt."
Länger als eine Woche am Stück hält Mehmet es inzwischen nicht mehr aus in Gaziantep. Dann muss er zurück nach Mannheim, bis er wieder Sehnsucht bekommt. Bei jedem Besuch in der Türkei fühlt er sich jetzt ein Stück fremder, die eigenen Landsleute akzeptieren ihn nicht mehr. Mehmet ist Deutschländer.
Mehmet: "Es war, dass die Deutschländer hier sehr gut angesehen waren. Die waren ja praktisch für die Türkei, wie sagt man das in Deutsch, goldlegende … Goldeier legende Hühner oder so was wurden sie genannt damals. Aber die Zeit hat sich geändert. Und jetzt werden sie auch nicht mehr gut angesehen. Weil die Deutschländer auch nicht mehr viel kaufen und sie lassen sich auch nicht mehr viel sagen. Ich kenn viele Menschen aus der zweiten oder dritten Generation, die von der Türkei nichts mehr wissen wollen."
Nuray hört von ihrem Sofa aus zu, schüttelt bei den letzten Worten ihres Mannes fast unmerklich den Kopf, verdreht die Augen. 15 Jahre verbringt sie mit ihm in Mannheim, integriert sich, lernt schnell Deutsch. Nachdem zwei der drei Kinder an Leukämie sterben, kommen die Depressionen – sie muss zurück in die Türkei zu ihrer Familie. Er geht mit, versucht es zumindest.
Mehmet: "Hier ist alles anders, man muss Bezüge haben, wenn man Geschäfte führt und das hab ich halt nicht. Und ich hab versucht so zu machen, wie die hier das machen. Und ich kann das nicht. Ich bin praktisch ausgetürkt, da hab ich gemerkt, dass ich ausgetürkt bin, ja. Dass ich nicht so kann wie die. Ich hab meiner Frau gesagt, ich kann das nicht, ich kann Deutschland nicht verlassen."
Zurück nach Mannheim. Sie bleibt mit der Tochter in Gaziantep, beginnt zu pendeln … Nurai kommt jetzt herüber, setzt sich neben ihren Mann.
Nurai: "Also, ich bin sehr unter Druck und das kostet mich sehr Kraft und Nerven. Das ist nicht so leicht. Ich geh paar Monate hier, dann wieder rüber. Überhaupt habe ich immer gedacht, meine Tochter soll, nachdem wir soviel erlebt haben, möchte ich, dass sie mit einer Kultur aufwächst. Deswegen habe ich mir viel Mühe gegeben …"
Dezent geschminkt, elegante Brille, blonder Kurzhaarschnitt. Nurai sieht sportlich, frisch aus. Die Angst, die Anstrengung, die Zerrissenheit ... Man sieht sie ihr nicht an. Beide haben Angst um ihre Ehe, eine Lösung sehen sie nicht.
Mehmet & Nurai: "Es kann ja nicht sein, dass ich von heute auf morgen von Deutschland nach Türkei komme und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen. Das geht nicht.
Aber ich leide darunter sehr, hin und her. Es kostet mich viel Gesundheit, es ist nicht leicht. Hin und her, hin und her. Manchmal denke ich, also jetzt reicht’s. Ich muss irgendwo leben. Aber es geht nicht anders.
Das ist das, was ich vorher gesagt hab, ich sag, sie geht kaputt zwischen zwei Ländern, durch zwei Kulturen."
Es ist spät geworden. Früh am Morgen geht Mehmets Flieger zurück nach Mannheim, der Koffer steht schon an der Tür. Nurai bleibt in Gaziantep bei ihrer Familie. Sie leben getrennt, bis einer von beiden wieder ins Flugzeug steigt, in die Welt des anderen fliegt.
Der Flughafen von Gaziantep. Auch Medizinstudentin Lilly aus Hannover sitzt in der Wartehalle. Neben sich den roten Rucksack, auf dem Schoß ein kleines Türkischlexikon. Gebraucht hat sie es nicht auf ihrer Reise. Illy aus Heilbronn, Vedat aus Hamburg, Erol aus Krefeld … Viele Rückkehrer hat sie getroffen, ob sie angekommen sind?
Lilly: "Vom Herzen nicht, nee … selbst wenn sie es sagen, wenn man dann in die Augen guckt und dann stehen da Tränen oder die Leute fangen an zu stocken ,wenn sie was erzählen … Ich hab schon das Gefühl gehabt, dass da immer so’n Gefühl von nicht vollständig sein oder nicht ganz da sein immer da ist, dass immer was fehlt so. Nicht ganz komplett."
Lilly wuchtet den Rucksack auf den Rücken, stellt sich in die Schlange. Wartet zwischen verschlafenen Männern in Anzügen, Frauen mit bunten Kopftüchern, Koffern, Taschen, Plastiktüten. In wenigen Stunden landet die Maschine in Deutschland, Lilly ist dann zu Hause.