Die Dialektik von Erinnern und Vergessen
Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und der Ägyptologe Jan Assmann sind der Historie auf der Spur: "Erinnerungsmodelle" oder "Identitätsstiftung durch Architektur" zählen zu ihren hemen. Ohne Vorlesungsmanuskript geben sie auf diesem Hörbuch Einblicke in ihre Arbeit.
Die eigentliche Bühne von Hochschullehrern ist der Hörsaal, auf der kann man Aleida Assmann, sie ist Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft, in Konstanz erleben. Ihr Mann, Jan Assmann, Ägyptologe, war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität Heidelberg. Ohne Vorlesungsmanuskript sind beide auf einem Hörbuch zu erleben, das im Berliner supposé Verlag unter dem Titel "Wem gehört die Geschichte?" erschienen ist. In der Rubrik "Erzählte Wissenschaft" holt man renommierte Wissenschaftler vors Mikrophon, damit sie eher plaudernd und weniger dozierend die Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit darlegen. Michael Opitz hat zugehört, was Aleida und Jan Assmann für wichtig erachten, wenn es um das Thema Erinnern und Vergessen geht.
Jan Assmann: "Also Gedächtnis ist die Fähigkeit zu erinnern und zu vergessen, und indem man das eine erinnert, vergisst man das andere. Jeder Akt der Erinnerung ist natürlich auch die Ausblendung des Nichterinnerten."
In der Privatsoiree, zu der Aleida und Jan Assmann einladen, wird vom Vergessen als der Kehrseite des Erinnerns gesprochen. Ohne Erinnern ist die Geschichtswissenschaft nicht denkbar, aber wenn an etwas erinnert wird, dann wird zugleich etwas Anderes ausgeblendet, darin besteht die Herausforderung.
Aleida Assmann: "Das Wichtigste ist wirklich die Dialektik von Erinnern und Vergessen. Wir können beide nicht nacheinander abhandeln – erst reden wir mal eine Weile über das Erinnern und dann kommt nachher noch das Vergessen. Vergessen ist immer schon drin. Denn wenn wir von der Auswahl sprechen, die in einem Narrativ vorkommen, wenn wir von der Auswahl von Objekten sprechen, die in eine Museumspräsentation kommen – immer schon haben wir es mit dem Vergessen zu tun, weil wir einen riesigen Hof von verworfenen Dingen oder Ereignissen haben, die wir nicht berücksichtigen. Das Vergessen des anderen ist immer die Bedingung für das Erinnern des Einen. Es ist immer auch das Ausblenden."
Wer einen Dialog zwischen zwei renommierten Wissenschaftlern erwartet, der wird enttäuscht sein, denn auf den 2 CDs finden sich deutlich mehr monologische Erzählpassagen. Insgesamt sind es 15 Themenbereiche, die aufgerufen werden. Sie sind unter anderem mit "Erinnerungsmodelle" oder "Identitätsstiftung durch Architektur" überschrieben. Auf einen fragenstellenden "Dritten" wurde bei dieser Hörbuchproduktion verzichtet. Nur die Assmanns sind zu hören, und die widersprechen sich nicht. Zu gut wissen sie, was und wie der andere denkt. Das sorgt für eine harmonische Gesprächsatmosphäre, wobei gegen einen lebhaften wissenschaftlichen Disput auch nichts einzuwenden gewesen wäre. Überzeugend sind beide, wenn sie ihre Äußerungen an Beispielen veranschaulichen.
Aleida Assmann: "Im Gedächtnis hat nur wenig Platz, da herrscht akuter Platzmangel. Und es gibt ein sehr schönes Renaissance-Bild, das eine Flasche zeigt, mit einem ganz engen Hals und darüber ist eine Wolke mit einem Buch zu sehen, aus dem offenbar die Wahrheit oder die Weisheit tropft, die von dieser Flasche aufgefangen werden soll. Aber offensichtlich gehen alle Tropfen darüber hinaus. Und so ist es mit dem Gedächtnis. In das Gedächtnis finden nur wenige von diesen Tropfen Einlass, und das meiste ist verstreut und auch für immer verloren."
Um eine Vorstellung von Geschichte zu bekommen, braucht es die Geschichtsschreibung. Da die Objekte aus längst vergangenen Zeiten in der Regel stumm sind, muss Geschichte erzählt werden. Es genügt nicht, nur Zahlen aneinander zu reihen. Walter Benjamin sah die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin, Jahreszahlen eine Physiognomie zu geben – eine Ansicht, der sich die Assmanns verbunden fühlen.
Jan Assmann: "Natürlich muss man sagen, ist erzählen nicht der einzige Zugang zur Geschichte. Also da gibt es einfach auch Listen. Es gibt nicht narrativ aufbereitete Textsorten. Die ägyptische Königsliste z. B. oder lange Listen von Nilstandsmessungen. Die Ägypter sind voll von solchen Daten, die sind nicht narrativ."
Aleida Assmann: "Wenn wir uns das Wort Erzählen genauer anschauen und auseinander nehmen, dann steckt ja das Wort ‚zählen’ damit drin. Die Grundverfahren der Historiographie sind ja immer schon die Chronik, also die Aufzählung von Daten – und so lernt man ja auch Geschichte – Zahlen, Zahlen Zahlen. [...] Und dieser Zusammenhang zwischen erzählen und zählen ist deshalb ganz spannend, weil man sich vorstellen kann, das vor dem Erzählen das Zählen kommt."
Die Haltung der Nachgeborenen zur Vergangenheit unterliegt Veränderungen, sodass auch das Bild von der Geschichte Wandlungen erfährt. Die Geschichte gehört denen, die sie deuten. Das Interesse der Assmanns ist darauf gerichtet, wie sich der Umgang mit der Geschichte im Spannungsfeld von politischer Vereinnahmung und geschichtlicher Aufarbeitung gestaltet.
Aleida Assmann: "Wenn wir von illegitimer Aneignung sprechen, dann benutzen wir lieber das Wort Instrumentalisierung, wenn wir von Aneignung sprechen, dann beschreiben wir das eher als etwas Positives. Grundsätzlich geht es immer bei der Aneignung von Vergangenheit um Formen der Ansprüche, die man damit verbindet."
Jenseits von allen akademischen Eitelkeiten gelingt es Aleida und Jan Assmann, dem interessierten Hörer entscheidende Türen zu öffnen, die in die Vergangenheit führen, ohne dass sie dabei die Gegenwart aus dem Blick verlieren. Das Hörbuch hat durchaus auch eine Mittlerfunktion. Es weist den Weg zu ihren Büchern. In die kann sich vertiefen, wer nach dem Hören den Eindruck bekommt, bereits vergessen zu haben, was lange in Erinnerung bleiben sollte.
Besprochen von Michael Opitz
Aleida und Jan Assmann über Erinnern und Vergessen: "Wem gehört die Geschichte?" Supposé Berlin 2011, 2 CDs, 100 Minuten, 19,80 Euro.
Jan Assmann: "Also Gedächtnis ist die Fähigkeit zu erinnern und zu vergessen, und indem man das eine erinnert, vergisst man das andere. Jeder Akt der Erinnerung ist natürlich auch die Ausblendung des Nichterinnerten."
In der Privatsoiree, zu der Aleida und Jan Assmann einladen, wird vom Vergessen als der Kehrseite des Erinnerns gesprochen. Ohne Erinnern ist die Geschichtswissenschaft nicht denkbar, aber wenn an etwas erinnert wird, dann wird zugleich etwas Anderes ausgeblendet, darin besteht die Herausforderung.
Aleida Assmann: "Das Wichtigste ist wirklich die Dialektik von Erinnern und Vergessen. Wir können beide nicht nacheinander abhandeln – erst reden wir mal eine Weile über das Erinnern und dann kommt nachher noch das Vergessen. Vergessen ist immer schon drin. Denn wenn wir von der Auswahl sprechen, die in einem Narrativ vorkommen, wenn wir von der Auswahl von Objekten sprechen, die in eine Museumspräsentation kommen – immer schon haben wir es mit dem Vergessen zu tun, weil wir einen riesigen Hof von verworfenen Dingen oder Ereignissen haben, die wir nicht berücksichtigen. Das Vergessen des anderen ist immer die Bedingung für das Erinnern des Einen. Es ist immer auch das Ausblenden."
Wer einen Dialog zwischen zwei renommierten Wissenschaftlern erwartet, der wird enttäuscht sein, denn auf den 2 CDs finden sich deutlich mehr monologische Erzählpassagen. Insgesamt sind es 15 Themenbereiche, die aufgerufen werden. Sie sind unter anderem mit "Erinnerungsmodelle" oder "Identitätsstiftung durch Architektur" überschrieben. Auf einen fragenstellenden "Dritten" wurde bei dieser Hörbuchproduktion verzichtet. Nur die Assmanns sind zu hören, und die widersprechen sich nicht. Zu gut wissen sie, was und wie der andere denkt. Das sorgt für eine harmonische Gesprächsatmosphäre, wobei gegen einen lebhaften wissenschaftlichen Disput auch nichts einzuwenden gewesen wäre. Überzeugend sind beide, wenn sie ihre Äußerungen an Beispielen veranschaulichen.
Aleida Assmann: "Im Gedächtnis hat nur wenig Platz, da herrscht akuter Platzmangel. Und es gibt ein sehr schönes Renaissance-Bild, das eine Flasche zeigt, mit einem ganz engen Hals und darüber ist eine Wolke mit einem Buch zu sehen, aus dem offenbar die Wahrheit oder die Weisheit tropft, die von dieser Flasche aufgefangen werden soll. Aber offensichtlich gehen alle Tropfen darüber hinaus. Und so ist es mit dem Gedächtnis. In das Gedächtnis finden nur wenige von diesen Tropfen Einlass, und das meiste ist verstreut und auch für immer verloren."
Um eine Vorstellung von Geschichte zu bekommen, braucht es die Geschichtsschreibung. Da die Objekte aus längst vergangenen Zeiten in der Regel stumm sind, muss Geschichte erzählt werden. Es genügt nicht, nur Zahlen aneinander zu reihen. Walter Benjamin sah die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin, Jahreszahlen eine Physiognomie zu geben – eine Ansicht, der sich die Assmanns verbunden fühlen.
Jan Assmann: "Natürlich muss man sagen, ist erzählen nicht der einzige Zugang zur Geschichte. Also da gibt es einfach auch Listen. Es gibt nicht narrativ aufbereitete Textsorten. Die ägyptische Königsliste z. B. oder lange Listen von Nilstandsmessungen. Die Ägypter sind voll von solchen Daten, die sind nicht narrativ."
Aleida Assmann: "Wenn wir uns das Wort Erzählen genauer anschauen und auseinander nehmen, dann steckt ja das Wort ‚zählen’ damit drin. Die Grundverfahren der Historiographie sind ja immer schon die Chronik, also die Aufzählung von Daten – und so lernt man ja auch Geschichte – Zahlen, Zahlen Zahlen. [...] Und dieser Zusammenhang zwischen erzählen und zählen ist deshalb ganz spannend, weil man sich vorstellen kann, das vor dem Erzählen das Zählen kommt."
Die Haltung der Nachgeborenen zur Vergangenheit unterliegt Veränderungen, sodass auch das Bild von der Geschichte Wandlungen erfährt. Die Geschichte gehört denen, die sie deuten. Das Interesse der Assmanns ist darauf gerichtet, wie sich der Umgang mit der Geschichte im Spannungsfeld von politischer Vereinnahmung und geschichtlicher Aufarbeitung gestaltet.
Aleida Assmann: "Wenn wir von illegitimer Aneignung sprechen, dann benutzen wir lieber das Wort Instrumentalisierung, wenn wir von Aneignung sprechen, dann beschreiben wir das eher als etwas Positives. Grundsätzlich geht es immer bei der Aneignung von Vergangenheit um Formen der Ansprüche, die man damit verbindet."
Jenseits von allen akademischen Eitelkeiten gelingt es Aleida und Jan Assmann, dem interessierten Hörer entscheidende Türen zu öffnen, die in die Vergangenheit führen, ohne dass sie dabei die Gegenwart aus dem Blick verlieren. Das Hörbuch hat durchaus auch eine Mittlerfunktion. Es weist den Weg zu ihren Büchern. In die kann sich vertiefen, wer nach dem Hören den Eindruck bekommt, bereits vergessen zu haben, was lange in Erinnerung bleiben sollte.
Besprochen von Michael Opitz
Aleida und Jan Assmann über Erinnern und Vergessen: "Wem gehört die Geschichte?" Supposé Berlin 2011, 2 CDs, 100 Minuten, 19,80 Euro.