Die dienende Gesellschaft - ein Zukunftsmodell

Von Florian Felix Weyh |
Im Leben meiner Großmutter, heute 96 Jahre alt, gehören die Jahre zu den besten ihrer Biographie, da sie als pommersches Landmädchen mit abgebrochener höherer Schulbildung bei einer Berliner Kaufmannsfamilie "in Stellung ging". Altersmilde Verklärung, gewiss. Doch nicht grundlos.
Unser Glückempfinden hängt vom Weltbild ab, das uns im Leben leitet, und im damaligen Weltbild meiner Großmutter bedeutete die Berliner Stellung einen aufregenden Schritt nach vorne: Pulsierende Metropole statt ewig gleicher Dorftrott, vor allem aber Teilhabe an einem Milieu, das sie sonst nicht im Entferntesten kennen gelernt hätte. Dass es zu keiner Lebensstellung kam, verschuldeten die Zeitläufe, denn die Berliner Kaufmannsfamilie war jüdischer Herkunft und musste emigrieren. Mit den Rollenzuschreibungen scheint meine Großmutter indes nie gehadert zu haben. "Die da oben" versus "ich da unten" hatte keine Bedeutung für sie, denn es hieß zugleich, dass "die da oben" sich um "sie da unten" kümmerten. Ob man will oder nicht: Man hört nur Gutes aus ihrem Munde über die einstige Herrschaft.

Das alles klingt wie eine Saga aus grauer Vorzeit, vom Enkel staunend vernommen. Dienstboten gibt es heute nicht mehr, ebenso wenig die so genannte Herrschaft. Ein Haushalt ist heute ein extrem intimisierter Raum, der oft nur zwei, in der Norm allenfalls vier Personen umfasst, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Jeder weitere Teilnehmer erhöhte den psychosozialen Stress, denn ein intimisierter Raum stellt hohe Anforderungen an seine Bewohner. Man muss darin Leben und Gefühle teilen und besitzt kein Rolleninventar für exkludierendes Verhalten.

Die durch etwaige Dienstboten in die Innenwelt eindringende Außenwelt sorgte bloß für Verstörungen; schmerzhaft stieße man auf die verlorene Kompetenz, im persönlichsten Raum höflich freundliche Distanz wahren zu können. Schon die obligatorische Putzfrau der berufstätigen Mittelschichten wirft Probleme auf, weil eben keine eingeübte Normalität existiert, mit der man den eigenen Innenraum teilt, ohne ihn preiszugeben. Durchaus häufig sind die paradoxen Exerzitien, vorm Eintreffen der Putzfrau erst einmal selbst grob durchzuräumen, weil man sich nicht so präsentieren möchte, wie man ist, unordentlich und Schmutzränder an der Badewanne hinterlassend. Eine Herrschaft vor 100 Jahren hätte das kaum gestört: Zur Schmutzbekämpfung waren Dienstboten neben anderem da, und selbstredend konkurrierte man mit ihnen nicht um den Pokal für verfeinerte Sitten. Den trachtete man nur unter Seinesgleichen zu erringen.

Genau das, ein Konkurrenzverhältnis zwischen Herr und Diener, besteht aber bei heutigen haushaltsnahen Dienstleistungen. Man ist eins in der Herkunft aus der amorphen Mittelschicht, eins in den materiellen Präferenzen - fährt womöglich denselben Wagentyp - und eins in Stil und Umgangsformen. Die Gebote der Höflichkeit drängen nicht auf Distanz zwischen scharf geschiedenen Schichten, sondern auf teilnahmsvolle Nachfrage im persönlichen Bereich. Kann jemand, der uns eben noch sein Herz ausschüttete - oder schlimmer: dem wir unsere Nöte aufgehalst haben - danach mit Bürste und Schrubber für uns tätig werden? Kann man ihm Ordre erteilen, unangenehmen Arbeiten nicht auszuweichen, weil er gerade dafür den Lohn erhält? Nicht zufällig ist den meisten Menschen eine radebrechende Putzfrau lieber als eine eloquente Einheimische, weil sich so das Umgangsproblem hinter einer Sprachbarriere verstecken lässt.

In der ausklingenden Arbeitsgesellschaft ist das keine Marginalie. Im Gegenteil: Was von der Politik als Zukunftsvision der alternden Gesellschaft ausgerufen wird - Millionen haushaltsnaher Tätigkeiten -, scheint wenig mehr als eine Schimäre zu sein: Ohne Analyse der kulturellen Umstände wird mal eben ein volkswirtschaftliches Potenzial entdeckt, das es in dieser Form nicht gibt. Denn wir alle sind keine Herren oder Damen mehr, erst recht sind wir keine Diener. Beide Rollen bedürfen mehr als der bloßen Einübung. Sie müssen im individuellen Selbstverständnis und Milieu verankert sein. Dieses Ziel zu erreichen, forderte einen mentalen Rückschritt um mindestens drei Generation, an dem nicht zuletzt die Industrie keinerlei Interesse haben kann.

Seit 100 Jahren verdient sie nämlich prächtig daran, dass es immer weniger Dienstboten und immer mehr Haushaltsmaschinen gibt, die deren Arbeit substituieren. Obwohl der Haushalts- oder Altenpflegeroboter noch nach Science Fiction klingt, läuft alles darauf hinaus, dass er irgendwann die Vorherrschaft in unseren Häusern und Wohnungen übernimmt, nicht die zurückgekehrte Butler, Köchinnen oder Hausdamen. Diese Entwicklung lässt sich bedauern, doch wer etwas anderes vorzöge, schaue in den Spiegel: Sieht so, kumpelhaft lächelnd, eine Herrschaft aus? Oder so, stets auf Freizeit-Entertainment schielend, ein Diener? Wohl kaum.

Darum wird es sie wohl nicht geben, die dienende Gesellschaft mit den Millionen neuer Jobs. Allenfalls kurzzeitige Dienstleistungen in Warenform haben eine Chance, so lange man dafür keinen Fremden ins Haus lassen muss. Seine Hemden zum Waschen und Bügeln wegbringen, kann man indes schon seit Dekaden; nur eine Minderheit nimmt diesen Service in Anspruch. Die Mehrheit sagt: zu teuer. In Wahrheit steckt etwas anderes dahinter: Schon dieser Vorgang ist ihr zu intim.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen - Was wir haben, was wir können, was wir sind" erscheint im Juli. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.