Die Dramen des Alltags

Von Gerd Brendel · 10.05.2012
Vor 18 Jahren gründete die deutsche Studentin Berit Stumpf während eines Auslandssemesters im englischen Nottingham zusammen mit dem Briten Simon Will eine Performance-Gruppe. Seitdem suchen sie alternative Darstellungswege jenseits der ausgetretenen Pfade.
Über der dunklen Bühne erscheint eine Leuchtschrift: "Real Children".
Richtige Kinder – Dann sieht man sie, die richtigen Kinder hinter Glas. Beim Spielen, Raufen, Tanzen. Auf den ersten Blick eine banale Theatersituation, aber die gläserne Wand gibt den Blick nur in eine Richtung frei. Von draußen nach drinnen. Die Kinder-Darsteller können ihr Publikum nicht sehen: Für sie ist die Wand ein Spiegel.

Simon Will:"” Die Kinder, mit denen wir arbeiten, haben eine Stunde, um ihr ganzes Leben vom Anfang bis zum Ende zu spielen. Der Inhalt des Stücks ist das, was die Kinder von ihrem eigenen Leben erwarten, und das, was wir, die erwachsenen Theatermacher vom Leben der Kinder erwarten.""

Die Macher, das sind sieben Performer um den Briten Simon Will und die Gießenerin Berit Stumpf. Seit der Gründung des Kollektivs in Nottingham vor 18 Jahren durchkreuzt Gob Sqad mit jeder Performance die Erwartung seiner Zuschauer. Ein roter Faden verbindet allerdings alle Gob Squad-Produktionen:

"”In unserer Arbeit geht es immer um die sogenannte Realität. Und oft ist es die Realität der Zuschauer, deren Alltagsleben, deren Erwartungen, um die es geht.""

Ein paar Tage vor der Aufführung von "Before Your Very Eyes" zum Theatertreffen, dem Stück, in dem aus Kindern innerhalb von einer Stunde Greise werden, sitzen Simon Will, Typ großer Junge, und Berit Stumpf, Lockenmähne und lila Leggins, auf einem Tennisplatz in Berlin-Grunewald bei den Proben zu einem neuen Stück. Der Ablauf ist noch nicht klar, nur so viel steht fest: Auch in dieser Gob Sqad Produktion geht es um die Dramen des Alltags.

"Über den Alltag eine Dramaturgie zu legen, das ist es, was uns begeistert."

Egal ob Gob Squad - zu deutsch: "Quassel-Truppe" - mit Zufallspassanten einen typischen Hollywoodfilm nachspielen oder die Revolution auf der Bühne ausrufen. Wie beim unsichtbaren Theater des Brasilianers Augusto Boal wird bei Gob Squad alles zur Bühne, vom U-Bahnsteig bis zum Hotel. Sensibel machen für die Brüche im Alltag und für die falschen Versprechungen in der Konsumgesellschaft, wollen die Performer mit ihrem Aufklärung-Mitmach-Theater.

Das gespaltene Verhältnis zum konventionellen Theaterbetrieb reicht bei Simon Will bis in seine Tage an einer katholischen Privatschule zurück:

"Jeden Morgen hatten wir Schulversammlung, zu der die Schüler erbauliche Spielszenen aufführten. Ich hab Joseph gespielt oder andere biblische Figuren. Allein die Vorstellung macht mir heute noch Angst."

Berit Stumpf, Lehrertochter aus der hessischen Wetterau, braucht länger, um sich vom Theater als Rollenspiel zu verabschieden:

"Ich wollte irgendwas machen mit Theater nach der Schule. Und da hab ich mich dann an der Schauspielschule in Bochum beworben. Nach dem Vorsprechen wurde ich dann gefragt: "Warst Du schon mal in nem Theater? Weil was Du hier machst, hat gar nichts mit Theater zu tun, Du spielst ja nur Dich selbst. Und da hab ich schon mal gemerkt: Hier gehörst Du nicht hin. Eine Zugfahrt von Bochum nach Gießen habe ich durchgeheult und danach hab ich angefangen so zu gucken was gibt es noch so."

Der Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen weist die Richtung. Zeitgleich erkennt auch Simon in Nottingham:

"”An der Uni entdeckte ich Performance-Kunst. Man musste nicht so tun, als sei man Joseph und in Maria verliebt. Nein: Es ging auch anders!""

Diese Erkenntnis hat Simon an der Trent University in Nottingham. Hier trifft er Berit, die gerade ein Auslandssemester in England verbringt. Die Skepsis gegenüber traditionellem Theater und die Begeisterung für neue Formen teilen sie mit ihren Kommilitonen Sean Patten und Sarah Thom und gemeinsam gründen sie das Performance-Kollektiv Gob Squad. Längst können die mittlerweile sieben Mitglieder von ihrer Arbeit leben. Durch die ganze Welt sind sie gereist. Berit und Sean sind mittlerweile ein Paar und haben zwei Kinder. Simon hat seit langer Zeit wieder eine feste Beziehung. Und ans Aufhören denken die beiden noch lange nicht. Nach fast 20 Jahre und zwei Dutzend Premieren ist der Elan der Selbst-Darsteller ungebrochen.

Berit Stumpf: "Mein größter Traum ist, dass wir das noch machen in 30 Jahren, dass wir immer noch neue Herausforderungen finden."

Bislang bietet der Alltag noch genug Stoff, an dem abzuarbeiten es sich lohnt. Und auch wenn Gob Squad nichts vom üblichen Rollenspiel auf der Bühne halten - wie allen Theatermachern geht es ihnen um einen Gegenentwurf zur Realität. Der Zorn auf die ungerechten Zustände ist noch lange nicht verraucht.

Simon Will:"” Die Frage ist: Kann ich der Welt verzeihen. Und da bin ich mir immer noch nicht sicher.""


Service:

Homepage Gob Squad

Am 17., 18. und 19.5. 2012 sind Gob Squad mit "Before Your Very Eyes" beim Berliner Theatertreffen vertreten.

Ebenfalls in Berlin, im Hebbel-am-Ufer-Theater, findet am 2. Juni 2012 die Weltpremiere von "Infinite Jest" statt.


Links bei dradio.de:

Kinder spielen Erwachsenwerden: Gob Squad und ihr neues Stück "Before your very eyes" in Düsseldorf

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