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Ausdruck der rumänischen Volksseele
Wie eine große Improvisation ist diese Sonate angelegt, voller Anklänge an die rumänische Volksmusik. Wer dieses Stück im Konzert spielt, wird Erfolg damit haben. Doch immer noch ist das viel zu selten zu erleben.
"Dans le caractère populaire roumain": So beschrieb George Enescu seine Dritte Sonate für Klavier und Violine, so lautet ihr Untertitel. In a-Moll soll sie stehen – aber das ist nur der Versuch einer groben Einordnung. Denn die Tonalität der Sonate schillert, schwankt, changiert, ist geprägt von übermäßigen und verminderten Intervallen, steckt voller Vierteltöne.
Was sich entfalten soll wie eine wuchernde Improvisation ist doch minutiös notiert, als wollte der Komponist der Nachwelt eine Gebrauchsanweisung hinterlassen. Damit auch nach seinem Tod noch nachvollziehbar bliebe, wie dieser Musik zu begegnen sei. In diesem Nebeneinander von folkloristisch anmutender Unmittelbarkeit und genauer Durchgestaltung begegnet Enescus Dritte Sonate vergleichbaren zeitgenössischen Werken von Béla Bartók und Karol Szymanowski auf Augenhöhe.
Wer sich beim Musizieren akribisch an die von Enescu vorgegebenen Regeln hält, wird allerdings ebenso scheitern wie jene Interpreten, die sich - improvisando - über die Anweisungen hinwegsetzen. Das Geheimnis dieser Sonate liegt irgendwo dazwischen, und es ist gut versteckt.
1926 schrieb Enescu das Werk, man hört ihm die französische Ausbildung seines Schöpfers an. Trotzdem bleibt es ein wundersames Einzelgebilde, dem Harald Eggebrecht und Ruth Jarre im Gespräch über die Interpretationsgeschichte auf die Spur kommen wollen.
Virtuose Traditionslinien
Ausgangs- und Referenzpunkt ist die Aufnahme, die George Enescu selbst zusammen mit seinem Landsmann, dem unvergleichlichen Pianisten Dinu Lipatti im Jahr 1943 produziert hat. Die älteste Einspielung stammt von Enescus damals 15-jährigem Schüler Yehudi Menuhin, sie entstand 1936 in Paris.
Die Enescu-Traditionslinie wird fortgeführt über Christian Ferras und Pierre Barbizet (1963) bis zu Ida Haendel, die ebenfalls von Enescu unterrichtet worden war, und die 1996 in Vladimir Ashkenazy den Klavierpartner einer ihrer seltenen Kammermusikaufnahmen fand.
Ein Erbe Mozarts
Der Cellist Pablo Casals stellte einmal fest, Enescu sei "die größte musikalische Naturerscheinung seit Mozart, was die Tiefe und Mannigfaltigkeit seiner Begabung betrifft". Dieses Charakteristikum war zugleich Enescus Problem, da die faszinierende Person das Werk zu überragen schien und das Schaffen nach dem Tod des Schöpfers in Vergessenheit zu geraten drohte.
Eine Ausnahme bildete Enescus rumänische Heimat, wo der Komponist nach seinem Tod zum Volkshelden gemacht, sein Konterfei auf eine Banknote gedruckt und sein Geburtsort nach ihm benannt wurde. Enescus herausragende Oper "Oedipe", die ebenfalls ihrer Entdeckung durch eine breitere Öffentlichkeit harrt, wurde zum Pflichtstück des rumänischen Musiktheaters, und die Bukarester Nationaloper verwandelte sich zum Bayreuth für dieses eine Werk.
Unterdessen spielte Enescus Dritte Violinsonate von der Mitte der 1960er bis in die 1990er Jahre hinein zumindest außerhalb Rumäniens keine nennenswerte Rolle im Repertoire. Erst eine jüngere Generation von Geigerinnen und Geigern entdeckt das Werk in unserer Zeit wieder neu. Darunter Marie Radauer-Plank mit Henrike Brüggen und - mit besonderem Sinn für die volksmusikalisch verwurzelten Herausforderungen - Patricia Kopatchinskaja mit der früh verstorbenen Mihaela Ursuleasa sowie Jonian Ilias Kadesha mit Nicholas Rimmer.
Was alles in dieser geheimnisvollen Musik steckt und wie das hörbar gemacht werden kann, darum geht es in dieser Sendung. Und das ist weit mehr als Musik: das Singen der Vögel, das Rauschen der Gräser, das Klingen von Werkzeugen und die Assoziation ganz anderer Instrumente als Violine und Klavier.