Die East Side Gallery ist kein Gedenkort

Von Rolf Schneider |
In Berlin protestieren etliche Menschen gegen Bauarbeiten an der East Side Gallery. Hier werde Hand gelegt an ein Mahnmal, heißt es, nämlich an die ehemalige Schandmauer des SED-Regimes. Doch dieses Argument ist Unsinn, meint der Schriftsteller Rolf Schneider.
Die East Side Gallery am Berliner Spreeufer ist ein mehr als 1,3 Kilometer langes Teilstück der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung. 1990, also nach dem Mauerfall, wurde es von 118 Künstlern aus 21 Ländern bemalt, die Bilder sind von unterschiedlicher Qualität. Als längste dauerhafte Open-Air Galerie der Welt steht das alles inzwischen unter Denkmalschutz.

Kürzlich wurde, geplanter Bauarbeiten wegen, ein Teilstück herausgelöst, um an anderer Stelle postiert zu werden. Daraufhin gab es laute Proteste einschließlich Massen-Demos. Eines der Argumente der Protestierer war, hier werde Hand gelegt an ein Mahnmal, nämlich an die ehemalige Schandmauer des SED-Regimes.

Das Argument ist Unsinn. Abgesehen davon, dass es früher, um den Bau eines riesigen Veranstaltungspalastes zu ermöglichen, schon einmal eine Umsetzung von Teilen der Gallery gegeben hat, zielt der Hinweis auf die Schandmauer ins Leere. Authentisch nämlich ist hier, am Spreeufer, bloß noch der Beton.

Der aber wird zugedeckt durch die nachträglich aufgebrachten Farben aus hundert bunten Bildern. Mauerbemalungen gab es vor 1989 auch schon, aber in Kreuzberg und auf westlicher Seite. Davon existiert nichts mehr.

Denkmäler als Zeichen nationaler Schande
Es geht um Denkmäler und unser Verhältnis zu ihnen. Ganz allgemein sind sie Objekte des Erinnerns, des Bewahrens, der Verehrung, manchmal der Trauer. Die Deutschen haben dem eine neue Dimension hinzugefügt: Denkmäler als Zeichen der nationalen Schande.

Für das schlimmste Verbrechen unserer Geschichte, den Mord an sechs Millionen Juden, existieren allein in Berlin mehrere Denkmäler: die ergreifende Figurengruppe an der Großen Hamburger Straße, die Wannseevilla, die Rampe am Güterbahnhof Wannsee, Teile des Jüdischen Museums in Kreuzberg und das riesige Stelenfeld am Tiergarten. Nicht gerechnet die achtzehnhundert Stolpersteine im Gehsteig vor ehedem von Juden bewohnten Häusern.

Die Frage, ob solche Maximierung der Gedenkorte möglicherweise zur Inflationierung führen könne, ist gelegentlich gestellt worden. Wer zusieht, wie die Betonquader von Peter Eisenman von hüpfenden Kindern und fläzenden Touristen benutzt werden, hat, fürchte ich, einige Mühe, darin wenigstens einen Sieg des Lebens über das Sterben zu sehen. Die Touristen und Kinder selber dürften von derlei Überlegungen überhaupt nicht beschwert werden.

Trauer und Scham lassen sich nicht verordnen
Hitlers Drittes Reich und die DDR lassen sich nicht gleichsetzen. Diktaturen waren beide, und beide haben Terror, Tod und Verbrechen hervorgebracht, die Berliner Mauer ist dafür ein Beispiel. Dass sie geschleift wurde, war ebenso konsequent wie der Umstand, dass ihr einstiger Verlauf durch Pflastermarkierungen angezeigt wird und einzelne Teile davon erhalten blieben.

Die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße, ein eindrucksvoller Ort, steht ebenso dafür wie das Teilstück in der Katja-Niederkirchnerstraße, am Weg zu Gropiusbau und Berliner Abgeordnetenhaus. Gleich daneben befindet sich die Topografie des Terrors, in der die Verbrechen des Naziregimes dokumentiert sind. Dieses fast zufällig entstandene Nebeneinander ist von beklemmender Symbolik.

Die Art eines Gedenkens ist abhängig von der Herkunft, der Bildung, der Sensibilität und auch dem Alter jener, die es vornehmen. Die Gefühle von Trauer und Scham lassen sich nicht verordnen noch regulieren. Die Objekte, an denen sie festgemacht werden, stellen sich auch ästhetischen Kriterien.

Das für mein Urteil eindringlichste Denkmal im Umfeld des Reichstags ist jenes für die ermordeten Roma, geschaffen von dem Israeli Dani Karavan. Gewiss verbietet sich, dabei Worte wie schön oder gelungen zu verwenden, doch unbestreitbar bleibt, dass Form und Zweck hier eine ungewöhnlich vollkommene Lösung erfuhren.

Bei Peter Eisenmans Stelenfeld war und blieb dies die Frage, seit erste Entwürfe zu besichtigen waren. Bei der East Side Gallery ist die Frage eindeutig zu beantworten. Als Gedenkort für Mauertote und DDR-Grenzregime taugt sie nicht.

Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin(Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.