Grande Nation der Literatur
"Le Monde des livres" – die Welt der Bücher, wörtlich übersetzt. Das ist die Literaturbeilage der Zeitung Le Monde. Wer in Frankreich als Autor etwas werden will, muss dort vorkommen. Das Blatt ist eine Institution im Literaturbetreib – und gefürchtet. Ein Redaktionsbesuch.
Die Stimmung ist gut am Umbruchtisch. Es ist Mittwoch Vormittag. Die Seiten für die nächste Ausgabe sind fertig. Die Groß-Kritikerinnen und Kritiker sind ausgelassen, freuen sich über winzige Ungenauigkeiten, die sie in letzter Minute entdeckt haben. Stimmt das Geburtsjahr? Sind das nicht zu viele Adjektive?
Frankreichs Edelfedern beugen sich über die Bögen, die gerade zur finalen Kontrolle gekommen sind.
Hier noch ein kleines Tipp-Fehler, da eine schiefe Metapher in einer Rezension…
Jean Birnbaum hat das letzte Wort. Der Redaktionsleiter ist hoch zufrieden. "Le Monde des livres" kann endgültig in den Druck gehen.
"'Le Monde des livres' ist die älteste Beilage unserer Zeitung. Die Leser sind unglaublich treu. 'Le Monde' ist an sich ja schon eine Institution, aber für 'Le Monde des Livres' gilt das noch stärker. Sie ist Teil der Identität des gesamten Blatts. Wenn Sie da etwas ändern, müssen sie das immer ganz genau erklären. Die Leser haben das Gefühl, man rührt da an etwas, das ihnen gehört."
Ein knappes Dutzend festangestellte Literatur-Redakteure, dazu etliche freie Rezensenten und prominente Kolumnisten schreiben für diese Instanz im Literaturbetrieb. "Le Monde des livres" ist seit Jahrzehnten das Zentralorgan fürs kritische Urteil in Frankreich:
Birnbaum: "In unserem Land ist alles extrem zentralisiert, ganz anders als in Deutschland. Auch das literarische Milieu konzentriert sich komplett in Paris. Und weil Le Monde eben die wichtigste Zeitung ist, wird auch der Literaturteil natürlich besonders stark beachtet – egal, ob es gut oder schlecht ist, was wir machen. Viele Autoren wollen um jeden Preis in Le Monde de Livre auftauchen, und sei es nur mit einem winzigen Artikel. Sie haben das Gefühl, wenn sie hier nicht vorkommen, dann existieren sie einfach nicht."
Die Spezialistin für französische Gegenwartsliteratur
Dafür dass Philosophie und Geschichte auf den Seiten der Literaturbeilage gebührend vorkommen, dafür ist Nicolas Weill verantwortlich. Und übrigens auch für alles, was aus Deutschland kommt:
Nicolas Weill: "Ich mag zum Beispiel Juli Zeh. Ich war sehr interessiert an dem sogenannten Fräuleinwunder Anfang der 2000er Jahre - Judith Hermann."
In einer der letzten Ausgaben hat Nicolas Weill gerade eine große Würdigung über einen Schriftsteller verfasst, der selbst in Deutschland erst seit kurzem wieder mehr gelesen wird.
Weill: "Zum Beispiel haben wir eine Ausgabe Peter Weiß gewidmet. Das trifft eine Stimmung der Linken in Frankreich, das macht Peter Weiß aktuell. Ich denke da an La France insoumise und an Mélenchon."
Raphaëlle Leyris hat nicht viel Zeit. Sie ist für ein Interview verabredet. Sie ist bei "Le Monde des livres" die Spezialistin für französische Gegenwartsliteratur.
Raphaëlle Leyris: "Neben Michel Houellebecq - über den man sich natürlich streiten kann, aber er ist ein wichtiger Autor - würde ich sagen: Emmanuel Carrère, Maylis de Kerangal mit ihrem ziemlich spektakulären Werk, ihren sehr kühlen und zugleich sehr menschlichen Texten. Ich bewundere sie sehr."
Ein lobender Artikel von Raphaëlle Leyris kann Schriftsteller groß machen – oder vernichten. Zum literarischen Saisonauftakt, der "Rentrée" Anfang September, hat sie einen Artikel über die aktuellen Tendenzen der französischen Literatur geschrieben.
Leyris: "Außerdem Marie Darrieussecq, die jetzt eine Art Science-Fiction-Roman herausbringt. Mathias Enard, Jérôme Ferrari mit seinen langen Sätzen und seinem ganz besonderen Humor, Marie NDiaye … ich merke gerade, das sind fast alles Goncourt-Preisträger - aber manchmal treffen sie eben die richtigen."
Ganz hinten links in der Bücher-Redaktion residiert Florence Noiville. Ihr Name steht unter vielen Artikeln über internationale Autoren:
Florence Noiville: "Ich kümmere mich um alles, was nicht auf Französisch geschrieben ist - ein ganz weites Feld also. Hier auf meinen Schreibtisch sehen Sie gerade die Briefe von Nabokov an Vera, die demnächst auf Französisch herauskommen. Natürlich bin ich keine Expertin für jede Sprache auf der Welt - das wäre zu schön, aber übermenschlich."
Blick auf die Literatur hat sich gewandelt
Florence Noiville beobachtet auch die literarische Szene in Deutschland:
"Herta Müller habe ich interviewt. Und über dieses eine Porträt von ihr haben wir uns schon häufig amüsiert. Ich habe sie im Berliner Literaturhaus getroffen und sie hat mir erzählt, sie wollte eigentlich nie Schriftstellerin werden, sondern Friseurin – das war ein geniales Interview."
Jean Birnbaum: "Früher hatten wir nur Rezensionen im Blatt. Man hat uns vorgeworfen, wir seien zu 'grau'. Das heißt, wir würden unsere Begeisterung und unsere wütende Ablehnung in der Aufteilung der Seiten nicht genügend deutlich machen. Mittlerweile sind wir wesentlich 'pluralistischer' geworden, abwechslungsreicher - sowohl im Ton als auch in den Formen."
Jean Birnbaum, der als junger Journalist beim Radiosender France Culture begonnen hat und seit 2011 "Le Monde des livres" leitet, blättert durch die kürzlich erschienenen Ausgaben:
"Hier haben Sie unseren Chronisten Chevillard, der oft ziemlich heftig auf ein Buch eindrischt. Oder Patrick Boucheron, der neue Star der Intellektuellen in Frankreich, der hat jetzt auch eine Kolumne bei uns. Genauso wie Roger Pol-Droit, unser Philosoph."
Wie in anderen Medien auch, so hat sich der Blick auf die Literatur auch bei "Le Monde des livres" in der letzten Zeit stark gewandelt.
"Ein Lektor vom Verlag Gallimard hat mir einmal gesagt: Das Problem der "Monde des livres" ist, dass Ihr keine bestimmte Art von Literatur gegenüber einer anderen verteidigt. Aber es gibt heutzutage dieses Frontstellungen nicht mehr. Wir haben sicherlich einen bestimmten Geschmack, aber das hat doch nichts mit einer literarischen Schule zu tun. Es ist total schwierig, Tendenzen zu beschreiben. Die Vielfalt ist ungeheuer große. Vor allem die vielen Stimmen von Frauen."
Und diese Frauen empfiehlt der Chef von "Le Monde des livres": Catherine Millet, Christine Angot, Yasmina Reza, und Agnès Desarthe und die coole Virginie Despentes.