"Die eigentliche Linkspartei in Deutschland ist die SPD"

Im Gespräch mit Volker Finthammer und Ulrich Ziegler |
Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im europäischen Parlament, Martin Schulz, schließt eine Zusammenarbeit der SPD mit der Linkspartei nicht aus, wenn die Linke die jetzige Führung ablöst. "Ich glaube, die Linke muss sich entscheiden, ob sie mit uns will, nicht umgekehrt", sagt Schulz. Derzeit sei aber ganz klar, dass eine Partei, die die Isolation Deutschlands betreibe, nicht regierungsfähig sei.
Deutschlandradio Kultur: Warum gelingt es den Europakritikern immer, die Menschen zu einem Nein zu Europa zu bewegen, und nicht den Befürwortern, eine Euphorie für Europa zu entfachen? Wie erklären Sie sich das?

Martin Schulz: Die Kritiker der Europäischen Union sind einfach motivierter. Sie haben ein bestimmtes Ziel. Das ist die Europäische Union, so wie sie heute existiert, zu zerschlagen. Das destruktive Element mobilisiert zur Zeit viel mehr Leute als das schwer erklärbare, schwer durchschaubare Europa, für das es objektiverweise auch schwer ist, sich so richtig ins Zeug zu legen, wenn man nicht von Natur aus Pro-Europäer ist.

Deutschlandradio Kultur: Die Staats- und Regierungschefs haben in der vergangenen Woche auf dem Gipfel in Brüssel gesagt: Wir wollen trotz des Neins der Iren beim Referendum klar weitermachen. Wir wollen, dass der Ratifikationsprozess abgeschlossen wird. Wenn Sie sagen, dass es den Neinsagern leichter gelingt, warum sagen Sie dann Ja? Was bringt der Vertrag von Lissabon den Bürgern?

Schulz: Zum Beispiel mehr Rechte für das nationale Parlament, wenn wir an Deutschland denken, mehr Rechte für den Deutschen Bundestag, mehr Rechte für das Europäische Parlament, eine viel größere Anzahl von Entscheidungen, die dem Parlamentarismus, sowohl dem nationalen als auch dem europäischen unterworfen würden. Verkürzt gesagt: Europa wird ein Stück demokratischer, weil die Kommission a) kleiner und b) an die Kette gelegt wird.

Deutschlandradio Kultur: Wie machen Sie denn weiter nach dem Nein der Iren? Kann Europa überhaupt weiter wachsen?

Schulz: Ohne diesen Vertrag nicht. Der Vertrag, der sogenannte Nizza-Vertrag, der heute existiert, ist für 15 Staaten geschaffen worden. Als er geschaffen wurde, haben die 15, die ihn verabschiedet haben, damals gesagt, das reicht nicht für die Erweiterung. Das war ja der Grund, warum wir diese Verfassung bekommen haben. Dann hat man parallel erweitert und die Verfassung erarbeitet. Das war gut. Das passte zusammen. Dann ist aber erweitert und die Verfassung nicht in Kraft gesetzt worden. Da hat man den Notnagel Lissabon entwickelt. Der ist jetzt auch abgelehnt. Jetzt sind wir zurückgeworfen auf einen Vertrag für 15, den 15 für nicht ausreichend hielten. Jetzt sind wir 27. Wenn wir noch mehr dazukriegen, geht Europa so kaputt.

Deutschlandradio Kultur: Hatte der französische Präsident Nicolas Sarkozy also eindeutig recht, als er auf dem Gipfel gesagt hat, ohne einen neuen Vertrag findet künftig keine Erweiterung statt? Auch Kroatien, auch die Türkei dürfen sich keine Hoffnung mehr machen?

Schulz: Ganz sicher hat er recht damit. Das ist weder hier im Parlament, noch unter den meisten Regierungen durchsetzbar. Es geht auch nicht. Man muss einfach sehen, dass die Institutionen jetzt schon knirschen. Da knirscht es im Gebälk. Machen wir uns nichts vor, das ist ja etwas, was dazu beiträgt, dass die Leute Europa nicht mehr verstehen. Es wird immer größer. Es ist wird immer intransparenter. Es wird immer uneffektiver, schwerer durchschaubar. Dann immer mehr Staaten dazu zu nehmen, das geht nicht.

Deutschlandradio Kultur: Wie kriegen wir die Kuh vom Eis? Irland hat gesprochen und dennoch wollen Sie Europa voranbringen. Das geht aber nicht ohne die Iren, oder doch?

Schulz: Nein, das geht nicht ohne die Iren. Ich glaube, man wird mit den Iren verhandeln müssen. Man wird ihnen sagen müssen und auch nur sagen können, ihr seid alleine, wenn alle anderen sich auch ausgesprochen haben. Oder man wird sehen, dass die Iren eben nicht alleine sind. Das ist ja auch ein wichtiger Punkt. Die Europäische Union ist kein Bundesstaat, in dem Irland auf der Ebene eines Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland wäre, sondern wir sind ein Verbund souveräner Staaten, in dem die Iren ihre Meinung sagen, genauso wie alle anderen Länder auch ihre Meinung sagen, übrigens auch sagen müssen.

Denn der Vertrag ist ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, den Regierungen unterschrieben haben, alle 27 Regierungen. Dann müssen sie diesen Vertrag auch genehmigen lassen. Das heißt, wir haben gar keine Wahl. Die Regierungen sind verpflichtet, diesen Vertrag zu Hause vorzulegen. Ich finde ein bisschen merkwürdig, dass die Leute, die jetzt immer rumlaufen und sagen, die Iren haben Nein gesagt, damit ist Schluss, anderen Völkern das Recht wegnehmen, ihre Meinung auch sagen zu dürfen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie waren doch auch richtig sauer auf die Iren.

Schulz: Ich war nicht sauer auf die Iren, ich war sauer auf das Ergebnis. Aber wenn Sie meine Rede im Parlament genau gehört haben, habe ich gesagt: Wir sollten diese Botschaft, die die Iren da an uns abgesetzt haben, ernst nehmen. Alle Parteien des Landes, außer Sinn Féin, dem politischen Teil der IRA, alle Parteien des Landes, rechte wie linke Parteien, Regierung wie Opposition, haben aufgerufen, mit Ja zu stimmen. Das Volk hat mit Nein gestimmt.

Das ist meiner Meinung nach ein Signal, das wir ernst nehmen müssen, weil es ein tiefes Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber ihren eigenen nationalen und den europäischen Institutionen zeigt. Dass ich mich als Pro-Europäer nicht freue, wenn Europa einen Schlag in die Magengrube kriegt, ist - glaube ich - emotional nachvollziehbar.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt hoffen alle Europäer, dass die irische Regierung einen Ausweg findet und im Oktober Vorschläge macht, wie das nun weitergehen könnte über Opt-Out oder Ausnahmeregelungen für die Iren. Wenn das Ganze nun wieder scheitern sollte, weil die irische Bevölkerung immer noch der Meinung ist, die EU bringt uns nicht die Vorteile, die wir uns erhoffen, was denn dann?

Schulz: Dann rate ich zunächst einmal dazu, dass wir aufhören, ständig nur über Institutionen zu reden, über die Sitzzahl im Parlament, über die Stimmverhältnisse im Rat oder die Anzahl der Kommissare, sondern uns konzentrieren auf Dinge, die den Menschen jetzt auf den Nägeln brennen. Da sind zum Beispiel hohe Ölpreise und steigende Nahrungsmittelpreise und die unkontrollierte Entwicklung der Finanzmärkte, der Casino-Kapitalismus, der zwischenzeitlich nicht mal mehr vor der Nahrungsmittelspekulation Halt macht. Das muss man anpacken, mit oder ohne Lissabonner Vertrag.

Deutschlandradio Kultur: Wenn der Vertrag von Lissabon so scheitern würde, was heißt das denn für das EU-Parlament? Mit welchen Aussichten wollen Sie denn dann dem Bürger im kommenden Jahr gegenübertreten? Sie müssten ja unter dem alten Vertrag von Nizza und der relativen Einflusslosigkeit des Parlaments weitermachen - keine schöne Aussicht für den Wahlkampf.

Schulz: Ich teile Ihre Auffassung nicht, dass das Parlament relativ einflusslos ist. Ich bin sogar der Meinung, dass wir relativ einflussreich sind. Wenn Sie mal an die Richtlinien denken, die wir in dieser Wahlperiode hier verändert haben, wenn Sie mal daran denken, dass das Europäische Parlament zu Beginn dieser Wahlperiode die Barroso-Kommission zurückgewiesen und sie verändert hat. Das waren ja wir, die gesagt haben, wir wollen den Boutiglione nicht. Wir haben Barroso gezwungen, sein ganzes Personalkonzept zu ändern. Wir haben diese asoziale Dienstleistungsrichtlinie in ihr Gegenteil verkehrt.

Na ja, zu sagen, das Parlament ist einflusslos, das stimmt nicht. Wenn wir auf der Grundlage von Nizza arbeiten müssen, gibt es eine Botschaft. Die ist ganz klar: Wer auch immer Präsident der EU-Kommission werden will, muss - wenn er unsere Stimmen haben will - mit dem Parlament einen Vertrag abschließen, in dem die sozialen, vor allen Dingen die sozialen Komponenten des Binnenmarktes gestärkt werden. Ohne eine Risikofolgenabschätzung der Gesetzgebung in Europa sowie auf ihre sozialen Abfolgen in den Mitgliedsstaaten gibt es keine Zustimmung der Sozialdemokraten für egal wen auch immer in der Kommission.

Deutschlandradio Kultur: Bei der Europawahl im nächsten Juni werden die Sozialdemokraten mit dieser sozialen Flanke, wenn man sie so bezeichnen will, in den Wahlkampf ziehen, egal, ob die Ratifizierung stattfindet oder nicht?

Schulz: Ganz klar. Ohne oder mit Vertragsratifizierung ist eins klar: Europa hat 21 von 27 Regierungen, die konservativ oder liberal geführt werden. Wir haben 21 konservativ-liberale Kommissare unter der Führung eines neoliberalen Präsidenten. Und wir haben eine große Mehrheit der EVP im Europaparlament. Also, Europa ist eine tolle Sache, aber es wird ganz, ganz falsch geführt. Europa wird nach rechts geführt.

Deutschlandradio Kultur: Das liegt doch mit an den Sozialdemokraten.

Schulz: Nein, auf keinen Fall. Ich muss das noch mal sagen: Wir haben ja im Europaparlament dafür gesorgt, dass die soziale Fehlentwicklung Europas dadurch ausbalanciert wird, dass man uns hier braucht. Sie kennen ja den Mechanismus. In Europa werden Gesetze nur mit der gesetzlichen Mehrheit der Abgeordneten verabschiedet. Dazu braucht man die sozialdemokratische Fraktion. Das ist der Grund für diesen neoliberalen Mainstream in der Kommission, übrigens auch im Rat. Machen wir uns nichts vor, die überwältigende Mehrheit der Regierungen in Europa steht stramm rechts. Europa ist kein linker Kontinent.
Das genau müssen wir ändern mit oder ohne Lissabonner Vertrag. Das werden wir übrigens auch ändern, weil ich glaube, dass dieser Zeitgeist, der auch in vielen Regierungszentralen herrscht, dass immer längere Arbeitszeiten, immer weniger Einkommen und immer weniger Mitbestimmung in den Betrieben die Grundvoraussetzung für Wachstum sei, die Zeit ist vorbei.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, 21:6 steht es für die Konservativen in Europa. Das wirft ja zugleich ein schlechtes Bild auf die europäische Sozialdemokratie, die offensichtlich im Moment europaweit ziemlich schlecht dasteht. Nun gehört es zu Ihrem Job, dass Sie sagen müssen, wir werden das ändern. Woher nehmen Sie denn den Optimismus, dass es da eine große ideenpolitische Trendumkehr zugunsten der Sozialdemokratie geben könnte?

Schulz: Dass die europäische Sozialdemokratie in keinem guten Zustand ist, ist so. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die versuchen sich die Welt schönzureden. Nur es gibt auch einen Umkehrschluss. Wenn in 21 Ländern die Sozialdemokratie in der Opposition ist und dort konservativ rechte Regierungen amtieren, ist der Zustand auch so, dass die Europawahlen eben auch immer Wahlen sind, die die aktuelle Lage im Land aufnehmen. Deswegen werden wir in einigen Ländern die Wahlen auch deutlich gewinnen.

Deutschlandradio Kultur: Aber nicht wegen Europa, sondern wegen der nationalen Konstellationen. Das dürfte doch gar nicht in Ihrem Interesse sein, das Ergebnis vielleicht schon, aber Sie wollen doch den europäischen Gedanken unter sozialdemokratischer Farbe nach vorne bringen.

Schulz: Ja, aber das ist eben das Schicksal, das wir in Europa haben, dass wir eine Mischkultur haben zwischen dem, was wir europäisch wollen, und dem, was national tatsächlich geschieht.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben in den letzten Reden und auch hier gerade schon mehrfach gesagt, dass es darum geht, das soziale Europa stark zu machen. Was heißt das konkret für Sie? Können Sie Beispiele nennen, was für Sie ein soziales Europa wäre?

Schulz: Ich versuche es an zwei konkreten Punkten klarzumachen. Wenn wir einen Binnenmarkt schaffen, in dem jeder Dienstleister seine Dienstleistungen frei an jedem Ort anbieten kann, dann stellt sich die Frage: Kann er das auf der Grundlage des Rechts des Landes, wo er das anbietet - also, sagen wir mal, ein italienischer Anbieter in Deutschland unter italienischen Bedingungen, die er aus Italien mitbringt - oder unter den Bedingungen, die in Deutschland herrschen?

Die Kommission wollte das freie Floaten der Rechtsbedingungen. Der Malteser, der in Deutschland arbeitet, arbeitet auf der Grundlage des maltesischen Rechts, der maltesischen Steuer und der maltesischen Löhne. Dann ist in einem solchen Europa der niedrigste Steuertarif, das niedrigste Einkommen, die niedrigste Sozialabgabe der beste Kalkulationsfaktor. Das heißt, das ist das Öffnen einer Schleuse nach unten.

Das in das Gegenteil zu drehen und zu sagen, jeder kann, egal wo, anbieten, aber bitte unter den optimalen und jeweils besten sozialpolitischen Bedingungen. Das war das, was wir hier durchgesetzt haben.

Zweites Beispiel: Wenn wir über das soziale Europa reden, dann reden wir nicht nur über Sozialpolitik und übers Sozialamt, dann reden wir vor allem über gesellschaftlichen Zusammenhalt. Europa ist ein Kontinent der wertebasiert ist. Europa muss diesen Gedanken des solidarischen Miteinanders viel stärker in den Mittelpunkt seines Handelns stellen, als das heute der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Warum kommt das bei den Bürgern nicht an?

Schulz: Weil wir viel zu defensiv über viele Jahre agiert haben und weil es, das muss man zugeben, in der europäischen Sozialdemokratie durchaus Tendenzen gab, die glaubten, dass man den Sozialstaat und den Zusammenhalt der Gesellschaft auch dann erreicht, wenn man den Marktkräften freie Bahn gibt. Der "dritte Weg", wenn ich das mal in Erinnerung rufen kann, der Mitte der 90er-Jahre stark diskutiert wurde, war in meinen Augen eine interessante Variante, hat es aber nicht gebracht.

Weil, ich muss das noch mal wiederholen, gerade in einer Welt, die wir globalisiert nennen, wo es einen Weltmarkt gibt, wo es weltweite Kapitalbewegungen gibt, wo es weltweit - vor allem im Medienzeitalter - eine Kommunikation gibt, die in Sekunden die Menschen von einem Kontinent auf den anderen zusammenrückt, haben die Menschen in dieser deregulierten Welt ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit. Dieses Sicherheitsbedürfnis haben wir viel zu lange unterschätzt.

Deutschlandradio Kultur: Das ist mein Eindruck, dass Sie eigentlich eher defensiv spielen, dass sie als Sozialdemokraten in der Verteidigung stehen und dass - gerade bei Ihnen als überzeugtem Fußballfan - so was auf die Dauer nicht gut gehen kann. Es fehlt an Visionen. Das Blair-Schröder-Papier war ein Versuch. So großartig war das dann nicht. Wann gibt es eine neue Vision eines sozialen Europas, das nach vorne schaut und nicht nur immer in der Defensive verhaftet bleibt?

Schulz: Ich muss die Frage in drei Teilen beantworten. Erstens: Wir haben schon Visionen. Es gibt Visionen genug. Wenn wir die Feuilletons der Zeitungen aufschlagen, wenn Sie sich den Buchmarkt anschauen, es gibt schon viele Vorschläge. Es gibt auch viele Vorschläge von links. Was es nicht gibt, ist die Erkenntnis der europäischen Sozialdemokratie, von uns Linken in Europa, dass wir gar nicht so weit weg sind von unseren Urgroßvätern. Wofür haben eigentlich die Gründer der Sozialdemokratie in Europa gekämpft? Für drei Dinge: Die haben gekämpft für den gerechten Anteil der Arbeiterbewegung an den wirtschaftlichen Effekten. Also, die Arbeiter, die bei Krupp malocht haben, wollten, dass sie einen Anteil von Krupps Milliarden kriegten.

Zweitens haben wir gekämpft für die Mitbestimmung im Staat. Weg mit dem Dreiklassenwahlrecht und ein transparentes Wahlrecht, das zu einer angemessenen Vertretung der abhängigen Menschen im Parlament führte. Und drittens haben wir für Bildung gekämpft. Wer lesen und schreiben konnte, konnte seine Rechte verteidigen und einklagen.

Wofür kämpfen wir heute? Die Krupps gibt’s heute nicht mehr national, die gibt’s heute supranational. Deren Gewinne werden supranational, also staatenübergreifend, erwirtschaftet. Dann muss es auch einen staatenübergreifenden Gewinnanteil geben. Das heißt, wir brauchen eine Erkenntnis als Sozialdemokraten, dass wir die Errungenschaften sozialer Art im Nationalstaat transferieren, also übertragen müssen auf die europäische Ebene.

Wir brauchen zum Zweiten eine europäische Regierung und ein europäisches Parlament, das diese Regierung für die Kompetenzen, die auf Europa übertragen sind, wählt und auch abwählt. Das ist der gleiche Kampf um Parlamentarismus in Europa, der gleiche Kampf wie Parlamentarismus im früheren Feudalstaat. Ich will Europa nicht mit den Feudalstaaten vergleichen, aber die Entwicklung, dass aus einer Agrargesellschaft eine Industriegesellschaft wurde im Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit den entsprechenden notwendigen Konsequenzen institutioneller Art, das gibt es heute auf europäischer Ebene. Aus der Industriegesellschaft wird die wissensbasierte multinationale Gesellschaft, also brauchen wir multinationale Strukturen.

Drittens: Lesen und Schreiben ist heute das Teilhabenkönnen am Wissens-, am Medienmarkt. Wer sich heute mit dem Internet auskennt, wer mit dem Computer umgehen kann, wer die moderne Technologie nutzen kann, kann sich viel besser im Arbeitsmarkt behaupten als einer, der das nicht kann. Also, wenn wir das modern verpacken und den Leuten sagen, das ist der gleiche Kampf um soziale Gerechtigkeit wie vor hundert Jahren, dann ist das auch eine Vision. Das, was unsere Urgroßväter mit den Rauschebärten erkämpft haben, müssen wir heute halt mit dem Laptop erkämpfen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben da aber mindestens 27 Gegner. Ich erinnere mich an viele Reden von Ihnen, wo Sie im Parlament stehen und auf die nationalen Regierungen geschimpft haben, weil die sich immer noch dem Motto verhalten: Den Erfolg haben wir nach Hause getragen, aber die Buhmänner sitzen, wenn es schief geht, in Brüssel. Also, dieses Identitätsgefüge, das Sie gerade beschrieben haben, existiert doch nirgendwo in Europa. Es denkt doch niemand europäisch.

Schulz: Das muss ich auch zurückweisen. Sie vermischen jetzt auch zwei Dinge. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen den Vorwurf zurückgebe. Das ist so wie die nationalen Regierungen, die vermischen auch die Dinge.

Trennen wir doch. Ihre Frage war: Wo ist die Vision für die Sozialdemokratie? Die habe ich jetzt zu beschreiben versucht. Sie antworten: Sie haben 27 Gegner in den Regierungen. Ja klar, das eine schließt das andere nicht aus. Von den 27 Regierungen sind 21 rechts. Dass die meine sozialdemokratische Vision nicht teilen, davon können wir mal ausgehen.

Deutschlandradio Kultur: Ich erinnere mich aber auch an einen sozialdemokratischen Bundeskanzler, der die Erfolge gerne nach Hause getragen hat und die Misserfolge gerne nach Brüssel geschickt hat.

Schulz: Gerhard Schröder war ganz sicher am Anfang seiner Amtszeit zum Ende der 90er Jahre nicht der glühende Pro-Europäer, aber ich will mal die Rolle von Gerhard Schröder beim Zustandekommen des Konvents hier erwähnen. Es war Gerhard Schröder, der mit Joschka Fischer gemeinsam diesen Konvent am stärksten propagiert hat. Das war die Regierung Schröder/Fischer, die die Verfassung wollte. Also, Gerhard Schröder war schon Pro-Europäer im Verhältnis zu manchem, der da heute im Rat rumsitzt.

Ich will aber noch mal auf Ihre Frage zurückkommen. Dass 21 rechte Regierungen keine sozialdemokratische Vision unterstützen, davon können wir ausgehen. Die Arbeitsteilung - alles Gute ist national, alles Schlechte kommt aus Brüssel - ist auch richtig. Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die sozialdemokratische Vision kann man nicht irgendwo an einer Institutionendebatte aufhängen oder an einer Arbeitsteilung in der Art der Medienvermittlung. Es geht darum: Wie kann man den Wählerinnen und Wählern der Sozialdemokratie, also den Menschen, die in den großen multinationalen Betrieben lohnabhängig beschäftigt sind, eine Vision bieten? Das war Ihre Frage.

Ich mache mal eine ganz platte Antwort: Wenn wir eine europäische Aktiengesellschaft haben mit einem europäischen Unternehmensvorstand, der auf der Grundlage eines europäischen Aktienrechts handeln kann, dann brauchen wir einen europäischen Betriebsrat, ein europäisches Streikrecht und ein europäisches Tarifrecht. So einfach ist das. Das kriegen Sie aber nicht im Bundestag, sondern das kann nur das Europäische Parlament durchsetzen. Deshalb eben dieser Dreiklang: Anteil am Gewinn, Anteil am Staat, Anteil an der Bildung.

Deutschlandradio Kultur: Und mit diesen Mehrheiten geht es auch mit den Kommunisten im Europäischen Parlament. In Deutschland tun sich beispielsweise die Linke und die SPD äußerst schwer in einem gemeinsamen Miteinander. Sieht das in Europa und bei Ihnen anders aus?

Schulz: Nein, nee, die eigentliche Linkspartei in Deutschland ist die SPD. Die von Oskar Lafontaine und Lothar Bisky geführte Partei PDS ist ein wesentlicher Anteil der Linken hier im Europäischen Parlament. Die haben da eine Menge Sitze in dieser Fraktion. Diese Leute haben sich aus der Realität des 21. Jahrhunderts verabschiedet.

Die machen einen schweren Fehler, und zwar den zu glauben, man könnte den europäischen Binnenmarkt oder den Weltmarkt oder die globalisierte Entwicklung zurückdrehen. Ich hatte vor ein paar Wochen die Gelegenheit mit führenden Vertretern der Arbeiterpartei in Brasilien zu reden, die auch Partner der Sozialistischen Internationale sind. Die reden auch mit der Truppe von Bisky und Gysi. Die Leute haben mir erzählt, das ist ein befremdliches Diskussionspotenzial. Denn Globalisierung, sagen die Brasilianer, bedeutet, dass es endlich auch mal industrielle Arbeitsplätze in Brasilien gibt und dass die Globalisierung für die Menschen in Afrika oder in Asien eine echte Chance ist. Also, wir kriegen die nicht gestoppt. Also zu erzählen, wie Attac oder Oskar Lafontaine, man könne die Globalisierung abschaffen, ist falsch.

Deutschlandradio Kultur: Sie grenzen sich immer von den Rechten, von den Konservativen ab, weil die das nicht erkannt haben. Mit den Linken wollen Sie auch nicht. Dann gibt es nur eine Möglichkeit: Sie holen mindestens 51 Prozent bei den nächsten Wahlen.

Schulz: Nein, das ist ein Irrtum. Ich habe nicht gesagt, dass ich mit den Linken nicht will, sondern ich habe zunächst einmal beschrieben, was bestimmte Parteien, nach denen Sie ja gefragt haben, die kommunistische Fraktion hier im Parlament oder die PDS mit Lafontaine in Deutschland, was die erzählen halte ich für falsch. Dass ich mit denen nicht will, ist falsch. Ich will an deren Wählerinnen und Wähler ran, absolut, und zwar indem ich diesen Leuten sage: Passt auf, es gibt zwei Möglichkeiten im 21. Jahrhundert zu arbeiten, die Phraseologie des 19. Jahrhunderts zu nehmen, Marx wieder auszupacken und neu zu drucken ist schön. Ich muss es nur praktikabel im 21. Jahrhundert machen. Das kann ich nicht, indem ich die Welt negiere, nämlich Vogel-Strauß-Politik mache.
Ich sage es noch mal: Die internationalen Finanzmärkte existieren. Die kriege ich nicht durch Beschluss der PDS in Cottbus abgeschafft. Also existieren die immer noch. Aber was man machen muss, ist internationale Institutionen schaffen, die diese Märkte beherrschen.

Ich nenne Ihnen mal ein kleines Beispiel: Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima, wo alle Regierungschefs Lateinamerikas anwesend waren, aber nur sieben der Europäischen Union, saß ein Drittel der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zusammen. Sieben derzeitige Mitglieder des Weltsicherheitsrates saßen da zusammen. Wenn Europa zum Beispiel ein solches Treffen ernster nähme und mit den Lateinamerikanern internationale Sozialstandards durchsetzen würde, in den Vereinten Nationen zum Beispiel über eine Reform der Weltbank oder eine Reform des Internationalen Währungsfonds streiten würde zur besseren Kontrolle der Finanzmärkte, dann würde für die Menschen in Cottbus dabei mehr rauskommen als wohlfeile Beschlüsse, die ja nur einem Ziel dienen, nämlich ewig Opposition zu bleiben.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei den Problemen der Sozialdemokratie. Martin Schulz, Sie sind nicht nur der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, sondern auch im Bundesvorstand der deutschen SPD. Lässt sich diese SPD von der Linken nicht zu sehr in die Enge treiben und ihrer Perspektiven berauben?

Schulz: Wir haben denen eine gewisse Zeit lang zu viel Platz gelassen. Das will ich gerne zugeben, aber nicht etwa inhaltlich. Wir haben uns in Hamburg auf unserem Parteitag - finde ich - sehr modern und fortschrittlich positioniert. Wir haben uns deshalb in die Enge treiben lassen, weil wir zu viel Nabelschau betreiben, uns zu viel mit uns selbst beschäftigen. Ich glaube, die Linke muss sich entscheiden, ob sie mit uns will, nicht umgekehrt. Es ist eins ganz klar: Wer diese Politik der Isolation Deutschlands betreibt, wie Lafontaine das tun will, der die drittgrößte Industrienation der Welt aus den internationalen Organisationen rausführen will, der ist nicht regierungsfähig.

Ich bin aber ganz sicher, in dem Moment, wo für die Linke eine reale Perspektive zur Machtbeteiligung sichtbar werden wird, werden in der Linkspartei genügend Leute da sein, die solche Leute wie Oskar Lafontaine abräumen. Da sind die relativ schnell dabei. Ich glaube, dass Lafontaine nicht der langfristige Führer der Linkspartei ist.

Deutschlandradio Kultur: Wer ist eigentlich der langfristige Führer der Sozialdemokratie - auch nach Hessen - wo die SPD versuchte, die Linke mit ins Boot zu nehmen?

Schulz: Hessen ist ein besonderer Fall. Die hessische verfassungsrechtliche Situation ist sehr kompliziert, aber die Frage, wer der Führer der SPD ist, ist eindeutig. Das ist ganz eindeutig mit Kurt Beck geklärt, ein starker Parteivorsitzender, der schwere Monate hinter sich hat und dem ich enormen Respekt für sein Stehvermögen zolle. Ich bin ganz zuversichtlich, dass Kurt Beck die SPD in eine gute Zukunft führt.

Deutschlandradio Kultur: Kurt Beck war es auch, der Sie frühzeitig als möglichen EU-Kommissar ins Spiel gebracht hat. Kann man das wirklich als guten, klugen taktischen Schachzug bewerten angesichts der realen Kräfteverhältnisse in der Koalition?

Martin Schulz: Die SPD hat acht Mitglieder in der Bundesregierung und die CDU hat acht Mitglieder in der Bundesregierung. Am Ende müssen die sich einigen. Die Bundesregierung besteht aus zwei gleich großen Parteien. In Deutschland wird nämlich Regierungsarbeit nicht auf der Grundlage von Meinungsumfragen, sondern auf der Grundlage von realen Sitzen im Bundestag und von realen Mitgliedschaften im Kabinett bewertet. Da steht es 8:8.

Deutschlandradio Kultur: Das kann man ja versuchen Personalfragen hinter verschlossenen Türen zu lösen, dann gibt es keinen Streit. Oder man versucht, über die mediale Bande zu spielen, das versucht Herr Beck im Moment. Schadet das nicht der Arbeit in der Koalition? Das ist doch ärgerlich.

Schulz: Also, Kurt Beck versucht nicht, über mediale Bande zu spielen, sondern die SPD beschreibt eine Situation. Günther Verheugen hat erklärt, dass er für keine weitere Amtszeit mehr antritt. Diese Position eines EU-Kommissars, das hat jetzt mit meiner Person überhaupt nichts zu tun, gehört zu den Positionen, die zu Beginn dieser Wahlperiode bei Bildung der Großen Koalition von der SPD besetzt war. Es ist völlig logisch, dass die Partei sagt, die Position bleibt auch bei uns. Warum sollte sie das Gegenteil sagen?

Deutschlandradio Kultur: Weil sie das schon seit 20 Jahren machen.

Schulz: Ja gut, ich glaube, das ist kein Argument. Wenn in Deutschland die Positionen nicht nach Qualifikation vergeben werden, sondern nach Zeitdauer ihrer Besetzung, dann sind wir ein armes Land.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das auch, Sie würden den Job gerne und jederzeit annehmen?

Schulz: Ich fühlte mich durch diesen Vorschlag geehrt. Was nach der Europawahl und zwischen Europawahl und Bundestagswahl geschieht, das werden wir dann sehen.

Deutschlandradio Kultur: Seit 14 Jahren sind Sie Mitglied im Europäischen Parlament. Da könnte man auch sagen, wir machen mal einen Standortwechsel. Reizt Sie Berlin überhaupt nicht?

Schulz: Wenn sich gute Leute hier profilieren, ich sage das jetzt einfach mal, auch wenn die Hörer es vielleicht anders sehen mögen, dass ich mich für einen profilierten Europapolitiker halte, und benutzen das, um zu sagen, und jetzt gehe ich nach Berlin, weil da wird die richtige Politik gemacht, wie es Friedrich Merz gemacht hat oder Claudia Roth oder Cem Özdemir. Das sind alles Kollegen, von denen ich eigentlich sagen müsste, bleibt doch hier, weil ein Abgeordneter im Europäischen Parlament, ein Fraktionschef im Europaparlament genauso viel bewegt, wenn nicht gar mehr, als manches Mitglied des Deutschen Bundestages.

Die Entscheidung zum Beispiel über die CO2-Richtlinie, auf die sich angeblich Frau Merkel und Herr Sarkozy jetzt geeinigt haben, wer trifft die denn? Die trifft das Europäische Parlament - das übrigens noch zu Ihrer Frage, dieses Parlament hätte nix zu sagen.

Am Ende wird das europäische Emissionshandelssystem, über dem jetzt die Regierungen brüten, hier in diesem Parlament entschieden. Und ich finde, dass man gerade dadurch zeigen muss, dass - wenn man eine Chance hätte, in die nationale Hauptstadt zu wechseln und man macht es nicht, sondern hier bleibt - man genau das tut, was Sie ja von mir verlangen, den Leuten zu zeigen: Das ist mein Feld, für das ich kämpfe und für das ich eintrete.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schulz, wir danken ganz herzlich für das Gespräch.