Die einsamste Insel der Welt

3000 Seemeilen entfernt von der nächsten Küste: Für die Reihe "Völker am Wasser" erkundet der Dichter Edouard Glissant die Osterinsel Rapa Nui - und taucht ein in die mythische Welt ihrer Ureinwohner.
Der 1928 geborene Dichter Edouard Glissant lebt auf Martinique, in Paris und New York, wo er an der City University lehrt. Seit sechs Jahrzehnten reflektiert Glissant Fragen postkolonialer Identität und die Beziehungsschichten zwischen den Kulturen der Welt. Im Wunderhorn Verlag gibt er die Reihe "Völker am Wasser" heraus. Schriftsteller, Geopolitologen und Naturwissenschaftler unternahmen zwölf Expeditionen zu acht Völkern, die nur vom Wasser zu erreichen sind – unterstützt von der UNESCO, die 2004 eine dreijährige Forschungsreise auf den Spuren des französischen Weltumseglers Bougainville initiierte. Edouard Glissant erkundete im Zusammenspiel mit der französischen Künstlerin Sylvie Séma die Osterinsel Rapa Nui.

Seine körperliche Verfassung erlaubt dem 1928 geborenen Edouard Glissant keine weiten Flugzeugreisen mehr. Deshalb hat Sylvie Séma notwendige Feldstudien auf der einsamsten Insel der Welt für ihren Lebenspartner betrieben. Rapa Nui, die 1888 von Chile annektierte "Isla de Pascua", liegt über 3000 Seemeilen entfernt von der nächsten Küste. Allein ihre Abgelegenheit macht die Insel, so Glissant, "über alle anderen erhaben". Séma hat fotografiert, gezeichnet, Tondokumente gesammelt und, von einer einheimischen Bewohnerin ermuntert, einem "sprechenden Stein" anvertraut, was sie denkt. Edouard Glissant wiederum hat die Eindrücke seiner Lebensgefährtin in die "Unordnung der Literatur" überführt, nachdem er die Antwort des fernen Steins empfangen hatte: "Nichts ist wirklich wahr, alles ist total lebendig".

Dieses schmale Buch löst einen Taumel aus. Beharrlich umkreist der mythenaffine Poet das Kraftzentrum der Insel, um das Seinsgefühl der Bewohner zu erfassen. Für Glissant speist es sich aus einem außerordentlichen Gespür für Magnetismus, für die Bewegungen aus der Tiefe der See wie des Himmels. Der Mangel an Schiffen hielt die Bewohner bis ins 20. Jahrhundert auf der Insel fest, und noch heute machen es die gefährlich steil abfallenden Küsten Schiffsreisenden schwer, anzulegen. Die Pascuaner, so Glissant, waren zwangsläufig auf eine vertikale Verbindung angewiesen, doch die riss ab. Im 17. Jahrhundert stießen die Pascuaner mehrere hundert der berühmten Steinkolosse um und zerstörten Zeremonialplattformen. Archäologen und Historiker sprechen von dem Versuch einer kulturellen Selbstauslöschung.

Es ist faszinierend, nachzuvollziehen, wie Glissant versucht, dieser geheimnisvollen Tat beizukommen. Die umgestürzten Steinriesen verloren ihre Augen. Archäologen richteten die Statuen gegen den Willen der Einheimischen wieder auf. Für Edouard Glissant schauen die Heutigen mit den Augen der kultisch verehrten, kantigen Riesen. Mehr noch, er glaubt, dass sie sich in die verlorenen Augen ihrer Götter geflüchtet hätten. Glissant rührt nicht an die Rätselhaftigkeit jener Insel, die Gewalt erfuhr durch andere Zivilisationen, und wir folgen seiner Wahrnehmung umso leichter, als er bekennt, er sei außerstande, das Geheimnis der Pascuaner, die über eine nicht entzifferte Bildschrift verfügen, auch nur annähernd zu lüften. Der poetische Duktus seines Buches indes offenbart selbst eine geballte magnetische Kraft.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Edouard Glissant: Das magnetische Land. Die Irrfahrt der Osterinsel Rapa Nui
In Zusammenarbeit mit Sylvie Séma, aus dem Französischen von Beate Thill
Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2010
96 Seiten, 16,80 Euro