Die EM ist die Zeit für die niederen Triebe

Von Sieglinde Geisel · 08.06.2012
Gewalt, animalische Gesänge und Hurra-Patriotismus: Ab heute hebt die Fußball-Europameisterschaft unsere Welt mal wieder aus den Angeln. Solche Feste dienen als Ventil für die kontrollierte Triebabfuhr, meint Sieglinde Geisel.
Die Zivilisation stellt den Menschen vor zwei grundsätzliche Herausforderungen: Die eine besteht im Umgang mit der Zeit, die andere in der Bändigung der Triebe. Doch zum Glück hat der Mensch nicht nur die Zivilisation erfunden, sondern auch einen Trick, der ihm dabei hilft, die Zumutungen derselben auszuhalten. Der Trick besteht in regelmäßig wiederkehrenden Festen: Spiele braucht das Volk bekanntlich so nötig wie Brot. Das Mittelhochdeutsche kannte noch den Ausdruck "hohe zit", aus dem dann später die "Hochzeit" entstanden ist. Ein Fest ist demnach eine Zeit, die aus den Niederungen des Alltags herausragt – eine Zeit allerdings nicht nur des Erhabenen, sondern auch seines Gegenteils. Ein Fest, das den Namen verdient, ist ein Ausnahmezustand. Während seiner Dauer sind Dinge erlaubt, die sich in einer zivilisierten Gesellschaft nicht gehören.

Die Ausnahmeregelung kann, je nach Art der Feier, jeden Triebverzicht des Körpers betreffen: Fressen und Saufen, sexuelle Freiheiten, Gewalt. Alle zwei Jahre hebt eine Fußball-Welt- oder Europa-Meisterschaft unsere Welt aus den Angeln. Wenn es uns auch kaum zu Bewusstsein kommt: Der sportliche Wettkampf von Nationalmannschaften ist eine sublimierte Form des Kriegs. Auf dem Spielfeld bricht sich die Gewalt nur in gelegentlichen Fouls tatsächlich Bahn, denn hier bremst die Angst vor der Roten Karte die nackte Aggression. Bei den Schlachtenbummlern unter den Zuschauern jedoch brodelt die Lust an der Dominanz, am Prügeln und Stärkersein.

Die Enthemmung beginnt schon bei den animalisch ungeschönten Fußballgesängen, und auf den Straßen geht sie weiter. Einerseits wird die Gewalt nach Fußballspielen beklagt, doch ohne das Prickeln dieses Risikos würde den Meisterschaften auch etwas fehlen. Das gefährlichste Reservoir für gemeinschaftliche Gewalt ist der Nationalismus – während internationalen Fußballmeisterschaften fällt auch dieses Tabu. Drei Wochen lang dürfen die Deutschen wieder stolz sein auf ihr Deutschsein. Es ist ja nur ein Spiel!

So schön die wilden Tage sind, so froh ist man, wenn man sie, wieder einmal, überstanden hat. Der Wechsel von Spannung und Entspannung gehört zum Wesen jeder Hohen Zeit – nur so entwickeln Feste die Kraft, der Zeit einen Rhythmus zu verleihen. Denn das Leben ist uns zu lang, und es ist uns zu kurz: Das Wissen, dass es einst vorbei sein wird, ertragen wir so wenig wie das ewige Einerlei des Alltags. Kinder erleben den Horror der Langeweile noch ganz roh. Der Zeitraum eines Jahres übersteigt ihre Vorstellungskraft, ohne Weihnachten und den eigenen Geburtstag würden sie es gar nicht überstehen. Feste zerlegen die Zeit in menschengerechte Abschnitte, und weil das Weihnachtsfest jedes Jahr wiederkehrt, tröstet es uns auch über die Vergänglichkeit hinweg.

Ursprünglich war die Versorgung einer Gesellschaft mit Festen Aufgabe der Religion, und sie kam dem auch mit einem dicht gefüllten Festkalender nach. In traditionellen Gesellschaften sind Hochzeiten und Begräbnisse so wichtig, dass man sich für sie auf Jahre hinaus verschuldet. Diese Verschwendung ist in Wahrheit eine Investition, nicht in die wirtschaftliche, sondern in die mentale Zukunft. Die scheinbar unsinnigen Ausgaben ermöglichen das Weiterexistieren der Gemeinschaft: Dank der überbordenden Feiern halten die Menschen das Vergehen der Zeit aus, ohne wahnsinnig zu werden oder in Lethargie zu versinken.

Die zeitliche Begrenzung der Feste ist allerdings so wichtig wie ihre regelmäßige Wiederkehr: Gemäß dem alten Prinzip des Karnevals darf man drei Tage lang die Sau rauslassen – doch nur, um sie während des restlichen Jahrs umso sicherer wieder einzusperren. Bei aller Enthemmung ist der Karneval kein unmoralisches Fest, im Gegenteil: Als Ventil dient er der kontrollierten Triebabfuhr. Und so verhält es sich auch mit den Fußball-Welt- und Europa-Meisterschaften, über die wir uns alle zwei Jahre freuen und ärgern. Je lärmiger und wilder der Hurra-Patriotismus, desto zuverlässiger verwandeln sich die Fans danach wieder in brave Multikulti-Bürger.

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