Die Entdeckung der Südsee
Georg Christoph Lichtenberg zählt 31 Lenze, ist Professor der Physik und beschäftigt sich mit allerlei Phänomenen der Natur und des Lebens. Klein und bucklig von Gestalt, lebendig und originell im Denken, führt der Aufklärer eine skurrile und hintersinnige Feder. Im Juli 1773 unternimmt eine kleine SeeReiße nach Helgeland. Die Entdeckung der Südsee. Oder Helgoland und die Geschichte seiner Deutungen.
"Mein Seereise Geist hat mich … besessen … "
Die Unbequemlichkeit mit der Fischgräte im Hals ist ausgestanden, der Coffer hat sich wieder angefunden, Stade ist eine langweilige Gesellschaft und die Vermessung der Grade der Stadt erst in ein paar Tagen möglich.
"Was ich Ihnen schon längst gerne gesagt hätte, ist dieses, dass ich nach der Insul Helgeland, die zehn Meilen in die See hinein liegt, gehen werde. Es ist eine dänische Insul, oder vielmehr ein aus der hervorstehender Felsen, der seine armen Bewohner kümmerlich ernährt."
Felsen im Oceanus, Hochseeinsel in der Westsee.
54 Grad 10 Minuten 57 Nord, 7 Grad 53 Minuten 7 Ost.
Rote Insel in der Nordsee - mittlerer Buntsandstein von fleischroter Farbe aus der Triaszeit.
Rote Tonschichten fallen unter einem Winkel von 17 bis 21 Grad von Südsüdwest nach Ostnordost ab. Unregelmäßig von gefleckten Kalksandsteinschichten durchsetzt.
Helgoland. Dach eines Salzstockes.
Und Stoff für Legenden, Mythen und Sehnsüchte.
Eine alte Föhrer Sage berichtet, Helgoland ist vom Teufel aus Norwegen geholt worden.
Eine neuere Geschichte erzählt, in Sichtweite sei die sagenumwobene Königsinsel Atlantis im Meer versunken. Ab und zu taucht sie wieder auf – wie so manch andere Überlieferung.
"Für mich, der das Wasserfahren und Seewesen beynah bis zur Ausschweifung liebt …"
Die Erfindung für das neue Observatorii ist notiert: eine Dachkuppel aus zwei aufschlagbaren Hälften, die Anweisung für den Druck der Mondkarte gegeben. Nur die Helgeland-Reisegesellschaft ist wankelmütig wie die Witterung in Stade.
"Sie hatten sich von ihren Ehe Hälfften weißmachen lassen, dass die Anländungen höchst gefährlich zu Helgeland wären, (…) mit einem Wort die guten Männer beschlossen bey Ihren Ehe Hälfften zu bleiben, wo freylich die Anländungen Berufs Anländungen und gar nicht gefährlich sind. (…) Ich habe aber es noch nicht aufgegeben."
Das Buch für Reise Anmerckungen ist genäht, Proviant ausreichend an Bord; die Nordwestwinde wehen sehr heftig. Und: eine neue Gesellschaft von acht Offizieren ist engagiert.
"Wenn das Wetter nicht gar zu übel wird, so gedencken wir Morghen Abend um 8 Uhr die Ancker … zu lichten."
Am 9.Juli 1773.
"Einige ernsthaffte Leute wollen uns bange machen, aber in der That kehre ich mich so wenig daran, dass vielmehr eben dieses, dass eine Seereiße von Acht gantzen Meilen das Ansehn einer Heldenthat gewinnt, keine geringe Anreitzung für mich ist, sie zu unternehmen. Wir Argonauten… "
Wir Argonauten.
Gegen den roten Fels im Meer branden Wellen … und Überlieferungen. Die sind meist aus zweiter und dritter Hand. Und noch häufiger gewendet und gedeutet.
Helgoland – Insel im Nebel der Geschichte. Und am Rande der Welt.
Berichte aus der Antike werden mit Helgoland verknüpft. Die Beschreibung Germania des Tacitus um 98 n. Ch. wird nach Helgoland verlegt, weil:
"(…) ein weitverbreitetes Gerücht besagt, dass die Säulen des Herkules noch vorhanden sind (…)"
Tacitus konnte das Gerücht nicht überprüfen, da – wie er schreibt – der Oceanum sich den Nachforschungen entzog. Und Tacitus auch nie dort war.
Homer soll seinen Odysseus von den Azoren mit dem Golfstrom direkt zur roten Insel gesegelt haben lassen. Helgoland! ruft manch Deuter.
Pytheas nun überliefert um 330 n.Ch. den Namen einer Insel "Abalus", wo es so viel Bernstein gebe, dass ihn die Bewohner wegen Holzmangels für das Feuer nutzten. Oder den Bernstein an ihre Nachbarn, die Teutonen, verkauften. Nur die Teutonen waren nicht ihre Nachbarn.
Auf kaum einem Quadratkilometer ist so viel Deutung angeschwemmt worden wie auf Helgoland.
"Es mogte etwa 6 Uhr sein des Abends, als uns Helgoland zu Gesicht kam, und ehe es in der Dämmerung verschwand, sah es gegen den rothen Himmel dunkelblau … aus (…) So wie es dunkel wurde, besuchte uns unser Südwind wieder (…)"
Der Südwind treibt das Schiff rasch auf die Insel zu.
"Eine halbe Meile etwa von der Insel liegt eine Tonne, die Vorbeifahrenden wegen eines Felsens zu warnen, der gerade bei ihr liegt."
Die Erregung an Bord nimmt zu.
"(…) zumal da uns unser Lotse noch am Tage erzählt hatte, dass vor gar nicht langer Zeit ein Schiff dabei zu Grunde gegangen wäre."
Mannschaft und Passagiere legen sich auf das Vorderdeck, spähen in der Dunkelheit nach der Tonne.
"Ich stand hinter ihnen und sah ihnen über die Köpfe weg und hatte das Glück sie zu erst zu sehen, und rief laut: hier ist die Tonne!
Der Steuermann (…) machte eine geringe Wendung, und wir strichen vorbei, dass es eine Lust war anzusehen."
Heiligenlegenden und die Bezeichnung Heiligland werden im Mittelalter der Insel weit draußen im Meer zugeschrieben.
Um 796 verfasst der Mönch Alkuin für das Kloster Echternach die Vita Willibrordi. Alkuin sieht sich als Nachfahre des heiligen Willibrords und siedelt die ausführlichste Episode über den Missionar auf einer Insel zwischen Dänemark und Fresonen an. Ein Sturm verschlägt ihn
"zu einer Insel, die von den Einheimischen nach ihrem Gott Fosite "Fositesland" genannt wurde, weil auf ihr Heiligtümer dieser Gottheit errichtet waren."
Die Missionierung gelingt und die Beschreibung des Sieges des Gläubigen über die Ungläubigen erinnert stark an Homers Odyssee.
Die Zivilisierung der Wildnis. Auch die Heiligenlegende des Inselmissionars Liudger zeichnet dieses Bild, denn als er sich der Insel nähert
"sahen sie eine tiefe Finsternis über dem Lande lagern, bei ihrem Nahen jedoch wich sie hellem Sonnenschein."
Und Adam von Bremen schließlich erklärt Helgoland zu einem
"ehrwürdigen Ort. Daher hat sie den Namen Heiligland bekommen."
"Was mir diese Nacht vorzüglich merkwürdig machte, war das Leuchten des Seewassers, das ich noch nie gesehen hatte. Es waren nicht etwa einzelne Funken oder schnell vorübergehende schwache Blitze, sondern der Schaum der Wellen schien völlig zu glühen."
Herrlicher noch als ein Feuerwerk, eine feurige Quelle. Die Reise der Zerstreuung bekommt wissenschaftlichen Ballast.
"Ich ließ einen Eimer voll herauf holen, und so wie ich die Hand in demselben bewegte, leuchteten die kleinen Wellen an verschiedenen Stellen, wie sich ohngefähr ein schief auffallendes Licht in denselben abzubilden pflegt."
Plankton … Jahreszeit - … wird es wissenschaftlich erklären. Sechs Krüge werden mit Meeresleuchten gefüllt – Beleg und Geschmacksprobe für Neugierige der Gesellschaft auf dem Festland.
"(…) und wenn man in das Meer spuckte oder pisste, welches beydes von uns allen, ohne egard (ohne Rücksicht) für die Damens an Bord, versucht worden ist, so schien es allemal in dem Wasser zu blitzen."
Helgoland – Insel der Fischer. Und noch länger Hügel aus Buntsandstein, Muschelkalk und Kreide.
Felsiger Boden im Meer, … mal hinterm Horizont verschwunden.
Eine Seeschlacht lässt das Eiland wieder zum Gesprächsstoff auf dem Festland werden. 1402 werden vor der Insel Klaus Störtebecker und seine Likedeeler von den Hamburgern entscheidend geschlagen.
Mit der Ruhe nach der Schlacht entfernt sich Helgoland wieder vom Festland, ist wieder die ferne Insel der Fischer. Nur Seemänner und Kaufleute schätzen sie wegen ihres Nothafens. Und die Herrscher schätzen sie als Besitz.
Jahrhunderte beherrschen die Friesen den Felsen im Meer. Dann, ab dem 12. Jahrhundert, wechseln die Fahnen. Die Dänische Krone nimmt Helgoland in Besitz, verliert es 1544 per Losentscheid an das Herzogtum von Schleswig-Holstein-Gottorf, um es nach dem Großen Nordischen Krieg wieder unter dänischer Herrschaft zu stellen.
Als Georg Christoph Lichtenberg im Juli 1773 seine achttägige Seereise unternimmt, ist Helgoland eine dänische Insel. Und hat sich stark verändert. 1720 zerstörte eine große Sturmflut den Woal, die Landzunge zwischen der Insel und dem Witte Kliff, einem Kalkfelsen.
"'"Kaum war der Tag angebrochen, so kroch ich auf das Verdeck, um nun die wahre Gestalt der Insel zu sehen, von welcher ich mir nach dem Wenigen, was ich den Tag zuvor davon gesehen hatte, allerlei Bilder formirt hatte. Die wahre Gestalt derselben übertraf aber alle Vorstellungen sehr weit.""
Roter, sehr verhärteter Mergel, mit weißen Adern durchlaufen; ragt hoch und steil aus dem Wasser. Die Nordsee ist nicht die Lahn, Helgoland nicht Göttingen; eine Seereise ist kein Dampferausflug. Erst Sturm, dann günstige Winde und Meeresleuchten in der Nacht besorgen den emotionalen Rest.
"Als wir nach Helgoland kamen, wurde von uns aus Canonen gefeuert, Granaten geschossen pp so daß der Commandant des Felsens wohl gar geglaubt hat. Nun sind sie da, denn so was hatte er nie gesehen."
Der Herr Commandant nimmt übel und verwehrt kurzerhand das Entree zum Oberland, die Gesellschaft kehrt im Unterland in ein Wirtshaus ein. Ein Schreiben ruft den Herrn Pastor Krohn herbei, der zunächst auch nichts ausrichten kann, aber dann klappt es doch,
"als ich noch einmal ansezte, und nun die Erlaubnis erhielt mit dem HE. Pastor nach seinem Hause und in die Kirche zu gehen."
Hunderte Insulaner säumen den Zug, begleitet von einem Invaliden mit einem Gewehr in der Mitte, auf dem Oberland. Doch statt zum Galgen geht es zum Pfarrhaus, wo Tee getrunken wird mit der Schildwache vor der Thüre, und dann zur Kirche.
"Die Menge der Menschen ist für den kleinen Ort sehr groß. Alles wimmelt von Kindern, deren wir viele ganz nackend gehen sahen; sie schwimmen mit einer Fertigkeit, als ich noch nie vorher gesehen hatte. Für 3 Groschen, die ich einem Jungen von 10 Jahren schenkte, schwamm er eine ziemliche Strecke in die See hinein und kehrte sich im Wasser um, so dass die beiden Füße nur allein zu sehen waren; plötzlich überpurzelte er sich wieder, wie ein Tümmler und kam mit dem Kopfe hervor."
Wo liegt Helgoland?
Am Rande der Welt? Am Ende des Meeres?
In der rauen Nordsee oder in der exotischen Südsee?
Lichtenberg erlebt die Hochseeinsel nach einer Segelfahrt in stürmischer, dann ruhigerer See; sieht sie erst bei Sonnenuntergang, dann – überwältigend – der Sonnenaufgang. Meeresleuchten in der Nacht, nackte Menschen bei Tag. Vier Helgoländer Männer im Ruderboot vergleicht er mit Amphibien, ein Kind im Wasser erinnert an einen Tümmler.
An Bord des Schiffes ein angenehmes Leben, auf felsigem Inselgrund ein Erlebnis mit Südseeflair: Der Herrscher der Insel, der Kommandant, tritt als etwas simpler Häuptling auf, die Insulaner dagegen zeigen wohlgesonnen; der Pastor spielt die Rolle des freundlichen Missionars, die Geschichte hat ein gutes Ende.
Lichtenbergs Begeisterung für die See und für die Phänomene des Lebens und der Natur trifft auf eine felsige Hochseeinsel. Und in Europa breitet sich die Südseebegeisterung aus. Bougainvilles Bericht von seiner Reise um die Welt ist im Jahr vor der Seereise nach Helgoland auf Deutsch erschienen, Lichtenberg hatte ihn gleich gelesen.
"Auf dieser 8tägigen (See-) Reise bin ich von der Sonne und der Seelufft beinah schwartz geworden."
Die Hand ähnelt einem Handschuh, die Kleidung riecht nach getrockneten Schollen, lange noch wittert die Nase Seeluft. Glückliche Stunden, sechs Krüge Meeresleuchten und allerlei Steine, Muscheln, Thiere und Pflantzen im Gepäck.
"Für Ew. Wohlgeboren Besorgnis und Beyleid statte ich den aufrichtigen Danck ab, vermutlich unter Dero gantzen Bekanntschafft der Erste, der sich für eine Condolenz von dieser Art eigenhändig bedanckt."
Die Kaiserlich-privilegierte Hamburgische Zeitung hatte eine Meldung vom 17.Juli 1773 über den Untergang des Schiffes in einem Sturm gedruckt.
"Wir Argonauten" – fünf Jahre später, im Juni 1778, dann erneut eine See Reise nach Helgoland, die zwar abgebrochen werden muss, Sturm – heftiger Wind, hohe Wellen …
"(…) darauf schwebte unser Schiffchen sicher, aber wie ein Strohhalm. Ich stund auf dem Verdeck und hatte mich mit einem Strick an dem Haupt-Mast fest gemacht. Etwas Größeres habe ich nie gesehn. Das Unaufhaltsame im ganzen, die menschliche Verwegenheit und der Geist der sich hierin zeigt … In der Kajüte lagen Leute, die glaubten, es ginge zu Ende. Es ist kein größerer Anblick in der Natur."
Odysseus lässt grüßen und hat Folgen. 20 Jahre nach der ersten Helgoland-Seereise nun der Aufsatz.
"Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?"
Ein letzter Anstoß, in Deutschland auch Seebäder nach englischem Vorbild zu gründen.
"Und nun Helgoland! (…) Wer so etwas noch nicht gesehen hat, datiert ein neues Leben von einem solchen Anblick, und liest alle Beschreibungen von Seereisen mit einem neuen Sinn. (…) Nie habe ich mit so vieler fast schmerzhafter Teilnehmung an meine hinterlassenen Freunde in den dumpfigen Städten zurück gedacht, als auf Helgoland. Ich weiß nicht hinzu zu setzen, als: man komme und sehe und höre."
Von der Götterinsel zum Fuselfelsen – Helgoland.
1826 erst, lange nach anderen Seebad-Gründungen, beginnt ein Helgoländer mit dem Seebadebetrieb auf der Insel. Er läuft schleppend an und die Insulaner sehen zunächst keine Zukunft darin.
Zwei Dichter machen derweil die Hochseeinsel berühmt. Heine rühmt 18 … das Eiland in seinen Reisebriefen. Und Hoffmann von Fallersleben dichtet 1841 nach einem mehrtägigen "fröhlichen Besäufnis" das "Lied der Deutschen" – auf englischem Boden. Es wird lange unbekannt bleiben.
1890 wird es erstmals offiziell gesungen – bei der Übergabe der Insel an das Deutsche Reich. Der Helgoland-Sansibar-Vertrag ist geschlossen, die Bevölkerung nennt es "Knopf gegen Hose" – Sansibar ist größer und fruchtbarer. Und Helgoland erstmals deutsch.
Der Seebäderbetrieb floriert, das Kaiser Wilhelm II. hat strategische Interessen, baut die Insel zur Festung aus. Hitler erweitert das deutsche Malta und seine Getreuen suchen auf der Insel den Ur-Germanenhort. Vergeblich.
Nach dem Krieg wird Helgoland auf dem Festland zur nationalen Frage – Befreiung von den Engländern. 1952 gelingt Adenauer die "kleine Wiedervereinung". Kann nicht auch Ostpreußen nun wieder deutsch werden?
Wiederaufbau, Wirtschaftsboom, Touristenströme, Seebad. Und immer mehr Fuselfelsen – Butterfahrten.
Und heute? Helgoland ist in der Normalität angekommen, verschwindet zunehmend aus den Schlagzeilen und dem öffentlichen Bewusstsein.
"Lange Anna" und Seeheilbad, Ausbooten und Fischkutter, Kegelrobben und Vogelnistplatz. Inselalltag.
"P.S. Einen Menschen, der auf dem Punckt steht in die See zu stechen, ist wohl zu verzeyhen, wenn er lange schreibt, und die Hauptsache erst in das Postskript bringt."
War Helgoland nun das heilige Land? Der ursprüngliche Sinn des Wortes heilig geht jedenfalls auf stark, fest zurück. Und Helgoland ist ja tatsächlich eine Felseninsel.
"Im Nachdencken kann man sich nie genug üben."
""Ich reite heute eine infame Feder, sie will immer hinaus wo ich nicht hinwill.""
Die Unbequemlichkeit mit der Fischgräte im Hals ist ausgestanden, der Coffer hat sich wieder angefunden, Stade ist eine langweilige Gesellschaft und die Vermessung der Grade der Stadt erst in ein paar Tagen möglich.
"Was ich Ihnen schon längst gerne gesagt hätte, ist dieses, dass ich nach der Insul Helgeland, die zehn Meilen in die See hinein liegt, gehen werde. Es ist eine dänische Insul, oder vielmehr ein aus der hervorstehender Felsen, der seine armen Bewohner kümmerlich ernährt."
Felsen im Oceanus, Hochseeinsel in der Westsee.
54 Grad 10 Minuten 57 Nord, 7 Grad 53 Minuten 7 Ost.
Rote Insel in der Nordsee - mittlerer Buntsandstein von fleischroter Farbe aus der Triaszeit.
Rote Tonschichten fallen unter einem Winkel von 17 bis 21 Grad von Südsüdwest nach Ostnordost ab. Unregelmäßig von gefleckten Kalksandsteinschichten durchsetzt.
Helgoland. Dach eines Salzstockes.
Und Stoff für Legenden, Mythen und Sehnsüchte.
Eine alte Föhrer Sage berichtet, Helgoland ist vom Teufel aus Norwegen geholt worden.
Eine neuere Geschichte erzählt, in Sichtweite sei die sagenumwobene Königsinsel Atlantis im Meer versunken. Ab und zu taucht sie wieder auf – wie so manch andere Überlieferung.
"Für mich, der das Wasserfahren und Seewesen beynah bis zur Ausschweifung liebt …"
Die Erfindung für das neue Observatorii ist notiert: eine Dachkuppel aus zwei aufschlagbaren Hälften, die Anweisung für den Druck der Mondkarte gegeben. Nur die Helgeland-Reisegesellschaft ist wankelmütig wie die Witterung in Stade.
"Sie hatten sich von ihren Ehe Hälfften weißmachen lassen, dass die Anländungen höchst gefährlich zu Helgeland wären, (…) mit einem Wort die guten Männer beschlossen bey Ihren Ehe Hälfften zu bleiben, wo freylich die Anländungen Berufs Anländungen und gar nicht gefährlich sind. (…) Ich habe aber es noch nicht aufgegeben."
Das Buch für Reise Anmerckungen ist genäht, Proviant ausreichend an Bord; die Nordwestwinde wehen sehr heftig. Und: eine neue Gesellschaft von acht Offizieren ist engagiert.
"Wenn das Wetter nicht gar zu übel wird, so gedencken wir Morghen Abend um 8 Uhr die Ancker … zu lichten."
Am 9.Juli 1773.
"Einige ernsthaffte Leute wollen uns bange machen, aber in der That kehre ich mich so wenig daran, dass vielmehr eben dieses, dass eine Seereiße von Acht gantzen Meilen das Ansehn einer Heldenthat gewinnt, keine geringe Anreitzung für mich ist, sie zu unternehmen. Wir Argonauten… "
Wir Argonauten.
Gegen den roten Fels im Meer branden Wellen … und Überlieferungen. Die sind meist aus zweiter und dritter Hand. Und noch häufiger gewendet und gedeutet.
Helgoland – Insel im Nebel der Geschichte. Und am Rande der Welt.
Berichte aus der Antike werden mit Helgoland verknüpft. Die Beschreibung Germania des Tacitus um 98 n. Ch. wird nach Helgoland verlegt, weil:
"(…) ein weitverbreitetes Gerücht besagt, dass die Säulen des Herkules noch vorhanden sind (…)"
Tacitus konnte das Gerücht nicht überprüfen, da – wie er schreibt – der Oceanum sich den Nachforschungen entzog. Und Tacitus auch nie dort war.
Homer soll seinen Odysseus von den Azoren mit dem Golfstrom direkt zur roten Insel gesegelt haben lassen. Helgoland! ruft manch Deuter.
Pytheas nun überliefert um 330 n.Ch. den Namen einer Insel "Abalus", wo es so viel Bernstein gebe, dass ihn die Bewohner wegen Holzmangels für das Feuer nutzten. Oder den Bernstein an ihre Nachbarn, die Teutonen, verkauften. Nur die Teutonen waren nicht ihre Nachbarn.
Auf kaum einem Quadratkilometer ist so viel Deutung angeschwemmt worden wie auf Helgoland.
"Es mogte etwa 6 Uhr sein des Abends, als uns Helgoland zu Gesicht kam, und ehe es in der Dämmerung verschwand, sah es gegen den rothen Himmel dunkelblau … aus (…) So wie es dunkel wurde, besuchte uns unser Südwind wieder (…)"
Der Südwind treibt das Schiff rasch auf die Insel zu.
"Eine halbe Meile etwa von der Insel liegt eine Tonne, die Vorbeifahrenden wegen eines Felsens zu warnen, der gerade bei ihr liegt."
Die Erregung an Bord nimmt zu.
"(…) zumal da uns unser Lotse noch am Tage erzählt hatte, dass vor gar nicht langer Zeit ein Schiff dabei zu Grunde gegangen wäre."
Mannschaft und Passagiere legen sich auf das Vorderdeck, spähen in der Dunkelheit nach der Tonne.
"Ich stand hinter ihnen und sah ihnen über die Köpfe weg und hatte das Glück sie zu erst zu sehen, und rief laut: hier ist die Tonne!
Der Steuermann (…) machte eine geringe Wendung, und wir strichen vorbei, dass es eine Lust war anzusehen."
Heiligenlegenden und die Bezeichnung Heiligland werden im Mittelalter der Insel weit draußen im Meer zugeschrieben.
Um 796 verfasst der Mönch Alkuin für das Kloster Echternach die Vita Willibrordi. Alkuin sieht sich als Nachfahre des heiligen Willibrords und siedelt die ausführlichste Episode über den Missionar auf einer Insel zwischen Dänemark und Fresonen an. Ein Sturm verschlägt ihn
"zu einer Insel, die von den Einheimischen nach ihrem Gott Fosite "Fositesland" genannt wurde, weil auf ihr Heiligtümer dieser Gottheit errichtet waren."
Die Missionierung gelingt und die Beschreibung des Sieges des Gläubigen über die Ungläubigen erinnert stark an Homers Odyssee.
Die Zivilisierung der Wildnis. Auch die Heiligenlegende des Inselmissionars Liudger zeichnet dieses Bild, denn als er sich der Insel nähert
"sahen sie eine tiefe Finsternis über dem Lande lagern, bei ihrem Nahen jedoch wich sie hellem Sonnenschein."
Und Adam von Bremen schließlich erklärt Helgoland zu einem
"ehrwürdigen Ort. Daher hat sie den Namen Heiligland bekommen."
"Was mir diese Nacht vorzüglich merkwürdig machte, war das Leuchten des Seewassers, das ich noch nie gesehen hatte. Es waren nicht etwa einzelne Funken oder schnell vorübergehende schwache Blitze, sondern der Schaum der Wellen schien völlig zu glühen."
Herrlicher noch als ein Feuerwerk, eine feurige Quelle. Die Reise der Zerstreuung bekommt wissenschaftlichen Ballast.
"Ich ließ einen Eimer voll herauf holen, und so wie ich die Hand in demselben bewegte, leuchteten die kleinen Wellen an verschiedenen Stellen, wie sich ohngefähr ein schief auffallendes Licht in denselben abzubilden pflegt."
Plankton … Jahreszeit - … wird es wissenschaftlich erklären. Sechs Krüge werden mit Meeresleuchten gefüllt – Beleg und Geschmacksprobe für Neugierige der Gesellschaft auf dem Festland.
"(…) und wenn man in das Meer spuckte oder pisste, welches beydes von uns allen, ohne egard (ohne Rücksicht) für die Damens an Bord, versucht worden ist, so schien es allemal in dem Wasser zu blitzen."
Helgoland – Insel der Fischer. Und noch länger Hügel aus Buntsandstein, Muschelkalk und Kreide.
Felsiger Boden im Meer, … mal hinterm Horizont verschwunden.
Eine Seeschlacht lässt das Eiland wieder zum Gesprächsstoff auf dem Festland werden. 1402 werden vor der Insel Klaus Störtebecker und seine Likedeeler von den Hamburgern entscheidend geschlagen.
Mit der Ruhe nach der Schlacht entfernt sich Helgoland wieder vom Festland, ist wieder die ferne Insel der Fischer. Nur Seemänner und Kaufleute schätzen sie wegen ihres Nothafens. Und die Herrscher schätzen sie als Besitz.
Jahrhunderte beherrschen die Friesen den Felsen im Meer. Dann, ab dem 12. Jahrhundert, wechseln die Fahnen. Die Dänische Krone nimmt Helgoland in Besitz, verliert es 1544 per Losentscheid an das Herzogtum von Schleswig-Holstein-Gottorf, um es nach dem Großen Nordischen Krieg wieder unter dänischer Herrschaft zu stellen.
Als Georg Christoph Lichtenberg im Juli 1773 seine achttägige Seereise unternimmt, ist Helgoland eine dänische Insel. Und hat sich stark verändert. 1720 zerstörte eine große Sturmflut den Woal, die Landzunge zwischen der Insel und dem Witte Kliff, einem Kalkfelsen.
"'"Kaum war der Tag angebrochen, so kroch ich auf das Verdeck, um nun die wahre Gestalt der Insel zu sehen, von welcher ich mir nach dem Wenigen, was ich den Tag zuvor davon gesehen hatte, allerlei Bilder formirt hatte. Die wahre Gestalt derselben übertraf aber alle Vorstellungen sehr weit.""
Roter, sehr verhärteter Mergel, mit weißen Adern durchlaufen; ragt hoch und steil aus dem Wasser. Die Nordsee ist nicht die Lahn, Helgoland nicht Göttingen; eine Seereise ist kein Dampferausflug. Erst Sturm, dann günstige Winde und Meeresleuchten in der Nacht besorgen den emotionalen Rest.
"Als wir nach Helgoland kamen, wurde von uns aus Canonen gefeuert, Granaten geschossen pp so daß der Commandant des Felsens wohl gar geglaubt hat. Nun sind sie da, denn so was hatte er nie gesehen."
Der Herr Commandant nimmt übel und verwehrt kurzerhand das Entree zum Oberland, die Gesellschaft kehrt im Unterland in ein Wirtshaus ein. Ein Schreiben ruft den Herrn Pastor Krohn herbei, der zunächst auch nichts ausrichten kann, aber dann klappt es doch,
"als ich noch einmal ansezte, und nun die Erlaubnis erhielt mit dem HE. Pastor nach seinem Hause und in die Kirche zu gehen."
Hunderte Insulaner säumen den Zug, begleitet von einem Invaliden mit einem Gewehr in der Mitte, auf dem Oberland. Doch statt zum Galgen geht es zum Pfarrhaus, wo Tee getrunken wird mit der Schildwache vor der Thüre, und dann zur Kirche.
"Die Menge der Menschen ist für den kleinen Ort sehr groß. Alles wimmelt von Kindern, deren wir viele ganz nackend gehen sahen; sie schwimmen mit einer Fertigkeit, als ich noch nie vorher gesehen hatte. Für 3 Groschen, die ich einem Jungen von 10 Jahren schenkte, schwamm er eine ziemliche Strecke in die See hinein und kehrte sich im Wasser um, so dass die beiden Füße nur allein zu sehen waren; plötzlich überpurzelte er sich wieder, wie ein Tümmler und kam mit dem Kopfe hervor."
Wo liegt Helgoland?
Am Rande der Welt? Am Ende des Meeres?
In der rauen Nordsee oder in der exotischen Südsee?
Lichtenberg erlebt die Hochseeinsel nach einer Segelfahrt in stürmischer, dann ruhigerer See; sieht sie erst bei Sonnenuntergang, dann – überwältigend – der Sonnenaufgang. Meeresleuchten in der Nacht, nackte Menschen bei Tag. Vier Helgoländer Männer im Ruderboot vergleicht er mit Amphibien, ein Kind im Wasser erinnert an einen Tümmler.
An Bord des Schiffes ein angenehmes Leben, auf felsigem Inselgrund ein Erlebnis mit Südseeflair: Der Herrscher der Insel, der Kommandant, tritt als etwas simpler Häuptling auf, die Insulaner dagegen zeigen wohlgesonnen; der Pastor spielt die Rolle des freundlichen Missionars, die Geschichte hat ein gutes Ende.
Lichtenbergs Begeisterung für die See und für die Phänomene des Lebens und der Natur trifft auf eine felsige Hochseeinsel. Und in Europa breitet sich die Südseebegeisterung aus. Bougainvilles Bericht von seiner Reise um die Welt ist im Jahr vor der Seereise nach Helgoland auf Deutsch erschienen, Lichtenberg hatte ihn gleich gelesen.
"Auf dieser 8tägigen (See-) Reise bin ich von der Sonne und der Seelufft beinah schwartz geworden."
Die Hand ähnelt einem Handschuh, die Kleidung riecht nach getrockneten Schollen, lange noch wittert die Nase Seeluft. Glückliche Stunden, sechs Krüge Meeresleuchten und allerlei Steine, Muscheln, Thiere und Pflantzen im Gepäck.
"Für Ew. Wohlgeboren Besorgnis und Beyleid statte ich den aufrichtigen Danck ab, vermutlich unter Dero gantzen Bekanntschafft der Erste, der sich für eine Condolenz von dieser Art eigenhändig bedanckt."
Die Kaiserlich-privilegierte Hamburgische Zeitung hatte eine Meldung vom 17.Juli 1773 über den Untergang des Schiffes in einem Sturm gedruckt.
"Wir Argonauten" – fünf Jahre später, im Juni 1778, dann erneut eine See Reise nach Helgoland, die zwar abgebrochen werden muss, Sturm – heftiger Wind, hohe Wellen …
"(…) darauf schwebte unser Schiffchen sicher, aber wie ein Strohhalm. Ich stund auf dem Verdeck und hatte mich mit einem Strick an dem Haupt-Mast fest gemacht. Etwas Größeres habe ich nie gesehn. Das Unaufhaltsame im ganzen, die menschliche Verwegenheit und der Geist der sich hierin zeigt … In der Kajüte lagen Leute, die glaubten, es ginge zu Ende. Es ist kein größerer Anblick in der Natur."
Odysseus lässt grüßen und hat Folgen. 20 Jahre nach der ersten Helgoland-Seereise nun der Aufsatz.
"Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?"
Ein letzter Anstoß, in Deutschland auch Seebäder nach englischem Vorbild zu gründen.
"Und nun Helgoland! (…) Wer so etwas noch nicht gesehen hat, datiert ein neues Leben von einem solchen Anblick, und liest alle Beschreibungen von Seereisen mit einem neuen Sinn. (…) Nie habe ich mit so vieler fast schmerzhafter Teilnehmung an meine hinterlassenen Freunde in den dumpfigen Städten zurück gedacht, als auf Helgoland. Ich weiß nicht hinzu zu setzen, als: man komme und sehe und höre."
Von der Götterinsel zum Fuselfelsen – Helgoland.
1826 erst, lange nach anderen Seebad-Gründungen, beginnt ein Helgoländer mit dem Seebadebetrieb auf der Insel. Er läuft schleppend an und die Insulaner sehen zunächst keine Zukunft darin.
Zwei Dichter machen derweil die Hochseeinsel berühmt. Heine rühmt 18 … das Eiland in seinen Reisebriefen. Und Hoffmann von Fallersleben dichtet 1841 nach einem mehrtägigen "fröhlichen Besäufnis" das "Lied der Deutschen" – auf englischem Boden. Es wird lange unbekannt bleiben.
1890 wird es erstmals offiziell gesungen – bei der Übergabe der Insel an das Deutsche Reich. Der Helgoland-Sansibar-Vertrag ist geschlossen, die Bevölkerung nennt es "Knopf gegen Hose" – Sansibar ist größer und fruchtbarer. Und Helgoland erstmals deutsch.
Der Seebäderbetrieb floriert, das Kaiser Wilhelm II. hat strategische Interessen, baut die Insel zur Festung aus. Hitler erweitert das deutsche Malta und seine Getreuen suchen auf der Insel den Ur-Germanenhort. Vergeblich.
Nach dem Krieg wird Helgoland auf dem Festland zur nationalen Frage – Befreiung von den Engländern. 1952 gelingt Adenauer die "kleine Wiedervereinung". Kann nicht auch Ostpreußen nun wieder deutsch werden?
Wiederaufbau, Wirtschaftsboom, Touristenströme, Seebad. Und immer mehr Fuselfelsen – Butterfahrten.
Und heute? Helgoland ist in der Normalität angekommen, verschwindet zunehmend aus den Schlagzeilen und dem öffentlichen Bewusstsein.
"Lange Anna" und Seeheilbad, Ausbooten und Fischkutter, Kegelrobben und Vogelnistplatz. Inselalltag.
"P.S. Einen Menschen, der auf dem Punckt steht in die See zu stechen, ist wohl zu verzeyhen, wenn er lange schreibt, und die Hauptsache erst in das Postskript bringt."
War Helgoland nun das heilige Land? Der ursprüngliche Sinn des Wortes heilig geht jedenfalls auf stark, fest zurück. Und Helgoland ist ja tatsächlich eine Felseninsel.
"Im Nachdencken kann man sich nie genug üben."
""Ich reite heute eine infame Feder, sie will immer hinaus wo ich nicht hinwill.""