"Die Entdeckung meiner deutschen Seite"

Von Alice Lanzke |
Sie kam von der Klassik zum Jazz und von Manchester nach Berlin: Die britisch-jüdische Pianistin Julie Sassoon. Ihre deutschstämmige Familie, die im Dritten Reich vor der Nazi-Verfolgung nach England floh, hatte große Schwierigkeiten, Sassoons Umzug zu akzeptieren. Doch die Künstlerin hat noch nie den einfachen Weg gewählt.
Zusammengesunken sitzt die Pianistin an dem schwarz-glänzenden Flügel, das Gesicht hinter blonden Locken verborgen. Nur kurz wird es sichtbar, wenn sie im Takt des schnellen Anschlags den Kopf von einer Seite auf die andere fallen lässt. Es wirkt, als ob Julie Sassoon sich hinter dem Klavier und ihrer Musik verstecken wolle. So entsteht eine fast schon intime Atmosphäre bei diesem Konzert in der Berliner Jazzwerkstatt.

Der Eindruck verstärkt sich noch, als die Künstlerin leise einige Worte an das Publikum richtet: Ihre deutsch-jüdische Familie sei 1939 nach England geflohen. Eine überraschende Erklärung - und ein ganz spezieller Moment für Julie Sassoon, wie sie im Nachhinein zugibt:

"Dieses Konzert war etwas ganz Besonderes: Noch nie zuvor habe ich einem Publikum gesagt, wer ich bin und wo ich herkomme. Kurz vor der zweiten Hälfte dachte ich plötzlich, ich werde das erste Mal in Deutschland erzählen, dass ich aus einer deutsch-jüdischen Familie stamme und dass die Musik meine Geschichte wieder spiegelt."

Wie schon hinter dem Flügel wirkt sie auch im Gespräch, als wolle sie sich klein machen, lässt die Haare ins Gesicht fallen und schlingt die Arme um die Knie. Immer wieder beginnt sie Sätze neu, ringt mit den Worten – bemüht, den richtigen Ausdruck zu finden.

Auch für ihre Kreativität dauerte es eine Weile, bis sie den passenden Ausdruck fand. So studierte sie zunächst sowohl Musik als auch Malerei, bevor sie sich schließlich ganz auf die klassische Musik konzentrierte. Wirklich glücklich machte sie diese Wahl allerdings nicht.

"Immer drehte sich bei mir alles um Klassik, aber als ich die Universität abschloss, dachte ich: 'Ich höre gar keine klassische Musik.' Miles Davis, Joni Mitchell oder Stevie Wonder - das sind die Künstler, die ich liebe. Ich spielte also nicht die Musik der Menschen, von denen ich wirklich beeinflusst wurde."

Julie Sassoon entschied sich für einen radikalen Bruch, wandte sich von der Klassik ab und begann, Jazz zu studieren. Gleichzeitig fing sie mit eigenen Kompositionen an - ein Risiko, das sie gerne einging. Sie nehme nie die sichere Straße, sagt sie über sich selbst.

Das Ergebnis sind wunderbar versponnene, fast schon mystisch wirkende Stücke wie etwa "New Life". Ihre Werke sind dabei immer Ausdruck dessen, was sie fühlt – auch und gerade in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die Sassoon als sehr dominant beschreibt. Sie sei orthodox erzogen worden, Religion habe eine große Rolle gespielt, sagt die Pianistin. Ebenso die Schoah: Die Eltern ihrer Großmutter wurden in Auschwitz ermordet, ihre Oma konnte zeit ihres Lebens nicht darüber sprechen, ohne zu weinen. So war der Holocaust zwar immer präsent – allerdings ohne, dass die Familie wirklich über ihn sprach.

"Es war klar, dass sie Deutsche sind: Meine Oma sprach Deutsch, meine ganze Familie redete miteinander auf Deutsch und Englisch mit einem starken Akzent. Aber über die Details, über das, was wirklich geschehen war, wurde nicht gesprochen."

1939 war Sassoons Familie aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald nach Manchester geflohen. Nach der Flucht wollte sie nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Dennoch reiste Julie Sassoon 1991 nach Berlin, um diese Seite ihrer Herkunft bewusst wahrzunehmen.

"Ich kam nach Berlin und verliebte mich in die Stadt. Ich fing an, viele Menschen in meinem Alter kennenzulernen. Und ich dachte, da gibt es eine besondere Verbindung - die ich nicht mit Italienern oder Spaniern oder was auch immer haben würde."

Die "Entdeckung" ihrer "deutschen Seite" nennt Julie Sassoon jene Zeit in der Rückschau. Für ihre Freunde und Familie, vor allem für ihre Mutter, war dieses Interesse an Deutschland nicht einfach zu verstehen - ebenso wenig wie ihre Partnerwahl. So erklärt Sassoon über ihren heutigen Mann, den sie damals kennenlernte:

"Er kommt aus einer deutsch-katholischen Familie und ich aus dieser jüdisch-deutschen Familie - nicht eben die einfachste Kombination."

Bei der Erinnerung an die erste Zeit der Beziehung wird Julie Sassoon ernst: Sie habe sich mit vielen Dingen konfrontieren müssen, insbesondere die Mutter konnte ihre Wahl am Anfang nicht verstehen. Nach und nach sei es allerdings leichter geworden.

Mittlerweile haben Freunde und Familie auch ihren Umzug nach Berlin vor einem guten Jahr akzeptiert, regelmäßige Besuche sind der beste Beweis. Und auch für Julie Sassoon hat sich etwas verändert: Ihr Verhältnis zum Judentum, mit dem sie sich nun viel mehr identifiziert.

"Als ich noch in England lebte, hatte ich so viele jüdische Freunde, dass ich nicht darüber nachdachte, Jüdin zu sein - ich war es einfach. Wenn ich nun in Berlin einen Juden treffe, bin ich immer ganz fasziniert, zu erfahren, warum er hier ist: Jeder hat seine eigene Geschichte."

Julie Sassoons Geschichte hat sie nach Berlin geführt. Ihre Musik erzählt davon.

Service:
Wer Julie Sassoon nun einmal selbst live erleben möchte, sollte am 29. Mai 2010 den Kleinen Sendesaal des rbb in der Masurenallee besuchen. Ab 20 Uhr findet dort ein Konzert statt, das sie gemeinsam mit der israelischen Sängerin Efrat Alony unter dem Titel "The Art of Duo" gibt. Karten dafür bekommt man im rbb-Shop sowie an der Abendkasse.