Die Entzauberung einer Landschaft

Glaubt man dem Autor Gerbrand Bakker, so besuchte die niederländische Königin Juliana (1909 bis 2004) am 17. Juni 1969 den Norden des Landes. Der königliche Tross fuhr an alten und neuen Bauernhöfen, prächtigen Gärten und Kuhherden vorbei, die auf üppigen Wiesen weideten. Königin Juliana galt als volksnah und regierte, seit sie 1948 den Thron bestieg, auf besondere Weise.
Als "Mutter der Nation" verehrt, pflegte die "radelnde Monarchin" selbst einzukaufen. Ihre vier Töchter schickte sie auf eine staatliche Schule. Doch Bakker schreibt mit "Juni" keinen Roman über die moderne Monarchie. Der Besuch der Königin umrahmt eine Handlung, die in der niederländischen Polderlandschaft verortet ist und 40 Jahre danach spielt. Auf dem flachen Marschland herrscht Trostlosigkeit. Die Fähnchen schwingenden Kinder von einst sind erwachsen geworden und haben die Region verlassen. Nur einige vergilbte Fotos erinnern an diese reiche, glückliche Zeit.

Bakkers subtile Beobachtungen gelten der Entzauberung einer Landschaft. Zugleich ist er an dem interessiert, was nicht sichtbar ist. Er macht das an einem Ereignis fest, das ebenfalls an jenem 17. Juni 1969 geschah. Nachdem die Königin die jubelnde Gemeinde verlassen hat, wird die zweijährige Hanna Kaan vom Auto des Bäckers überfahren. Für die Familie Kaan bricht eine Welt zusammen. Hannas Mutter – Anna Kaan – verkriecht sich wie ein verwundetes Tier auf dem Heuboden – auch 40 Jahre danach noch. Ihr Mann hat diese Trauerarbeit in einem sog. "Strohbuch" dokumentiert.

In einer Vielzahl kurzer Kapitel und spröden, unfertig wirkenden Dialogen erzeugt Bakker eine unruhige narrative Bewegung. Man ahnt, dass in der Seelenlandschaft der Figuren etwas zerbrochen ist. In schneller Schnittfolge leuchtet Bakker die inneren Bereiche aus, in denen Schmerz, Wut, aber auch die Sehnsucht nach einem anderen, frohen Leben hockt.

Von erzählerischer Intensität sind dabei besonders jene Kapitel, in denen Anna, ihr Sohn Jan und Enkelin Dieke sprechen. Jan, der inzwischen auf Texel wohnt, ist zurückgekehrt, um die Inschrift auf dem Grabstein der toten Schwester zu erneuern.

Durch die naiven Fragen der fünfjährigen Dieke, die ihm dabei hilft, wird ein Strom von Erinnerungen freigesetzt. Bald wird der Friedhof zu einem Ort, an dem mehr Geschichte beredt wird als die Lebenden jemals erzählen können.

Stück für Stück setzt Bakker ein spannungsreiches, bewegendes Tableau zusammen. Sein Interesse gilt dabei dem Detail, den kleinen Dingen, die übrig geblieben sind: ein Stein, ein Ring und ein Foto, auf dem Königin Juliana der kleinen Hanna zärtlich die Wange streichelt.

Zum Autor:
Gerbrand Bakker wurde 1962 im niederländischen Wieringerwaard geboren. Er studierte in Amsterdam niederländische Literatur- und Sprachwissenschaft, arbeitete dann als Übersetzer (untertitelte Filme). Bakker besitzt auch ein Diplom als Gärtner. 2008 erschien sein Romandebüt "Oben ist es still" in deutscher Sprache – das auch verfilmt wird. "Juni" ist Bakkers zweiter Roman.

Besprochen von Carola Wiemers

Gerbrand Bakker: Juni
Roman
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
303 Seiten, 19,80 Euro