Eine blinde Bäckerin
Nicht nur Geld und Immobilien kann man vermacht bekommen. Es gibt auch Krankheiten, die sich vererben können. So wie bei Doris Hollnagel. Sie ist genetisch bedingt erblindet – und führt ein Café, in dem sie selbst gebackenen Kuchen kredenzt.
"Wichtig ist, es hat ja alles seine Ordnung bei mir, und zwar (Schublade auf) weiß ich genau, hier ist meine große Rührschüssel, die stelle ich mir hin, hier sind die Kleinigkeiten, Vanillezucker – und die Tassen brauche ich zum Ei aufschlagen..."
Auf dem Kuchenblech kann Doris Hollnagel nur noch einen münzgroßen Ausschnitt erkennen – und auch nur dann, wenn sie sich darauf konzentriert. Offiziell gilt sie schon seit zehn Jahren als blind. Das gelb-schwarze Abzeichen trägt sie als kleinen Anstecker zu Küchenschürze und Weste. Wer sie mit Eiern, Knethaken und Schüssel in der schmalen Küche hantieren sieht, käme nicht im Traum darauf, dass hier eine Blinde den Kuchenteig rührt.
"Mein ganzes Leben lang habe ich diese Dose für Mehl, und weiß genau wieviel, ein gutes Pfund ist. Und genau dasselbe mit dem Zucker, ich weiß genau, wieviel das ist..."
Ihre Fingerkuppen messen den Zuckerstand am Messbecher – sich die Welt zu ertasten, ist Doris Hollnagel gewohnt. Als Kind trägt sie bereits eine dicke Brille und sieht sehr schlecht.
"Glaukom" diagnostiziert ein Arzt schließlich, als sie 23 Jahre ist und bereits drei Kinder hat. Auch Grüner Star genannt, eine genetisch bedingte Augenkrankheit. Und: "Der Sehnerv werde mehr und mehr nachlassen".
"Meinem Sohn Christian wird das gleiche Schicksal passieren"
"Mein Vater war ja auch erblindet, ich wusste auch, dass es vererbt ist, die Augen, die starke Brille – meine zwei Geschwister haben auch starke Brillen – und ich wusste auch, dass es auf mich zukommt, dass es auch mal so wird wie bei meinem Vater. Meinem Sohn Christian wird das gleiche Schicksal passieren, der hat ja auch schon den Glaukom, der muss auch schon viel tropfen, damit es nicht schlimmer wird.
Sohn Christian, der wie sie eine starke Brille trägt, steht an der Spüle und wäscht die Schüsseln. Er ist Mitte 30, ihre wichtigste Hilfe und ihr Geschäftspartner. Als Doris Hollnagel mit nur 40 Jahren ihren Beruf als Fleischfachverkäuferin aufgeben muss, weil sie fast nichts mehr sieht, fällt sie zuerst in ein tiefes Loch – doch dann beginnt sie sich für zwei Dinge zu begeistern, für die man eigentlich gute Augen braucht: das Malen und das Kuchenbacken.
"2001 fing ich mit der Malerei an, und mir ging es seitdem immer besser, ich habe keine Medikamente gebraucht, gerade in der Psychiatrie gibt es ein Haufen Zeugs – ich habe alles absetzen können, weil die Malerei hat mich so befriedigt, hat mir so viel Freude gemacht. Ich habe viele Ausstellungen gemacht und habe hier eine kleine Galerie eingerichtet hier zuhause.
Und da kam 2009 die Idee – Mensch – habe ich den Bürgermeister gefragt: Kann ich nicht Kaffee und Kuchen hier verkaufen? Ich hab noch so schöne Bilder zu verkaufen und kann doch keine Ausstellung mehr machen. Wie ist das?"
Der Bürgermeister sagt: "Mach mal", und Sohn Christian und sie richten neben der kleinen Galerie im Gartenschuppen auch eine Küche ein: ein paar Stühle und Tische für drinnen und draußen noch – fertig ist Holly´s Galeriecafé.
Mit ihrem Erbe Frieden geschlossen
Doris Hollnagel hat den Mixer angemacht. An Sommertagen backt sie acht bis zehn Bleche täglich, manchmal tummeln sich 20 bis 30 Leute auf ihrem Hof. Ihr Sohn bedient die Gäste.
Jetzt um den Jahreswechsel im Winter ist es ruhiger, nur hartgesottene Radfahrer sind dann auf dem Spreeradweg unterwegs, der an Holly´s Galeriecafé vorbeiführt.
"Man muss Beschäftigung haben, dass man gar nicht nachdenken kann. Und durch die Arbeit hast Du gar keine Zeit zum Überlegen: Du musst ja jeden Tag Kuchenbacken, die Leute wollten doch den Kuchen haben, die sind ja extra gekommen, die hatten ja Appetit, und dann vergisst Du viele Sachen. Man darf sich nicht unterkriegen lassen."
Doris Hollnagel knetet einen Mürbteig, mit kräftigen Händen. Eine große, robuste Frau, die mit ihrem Erbe Frieden geschlossen hat. Ihr Vorbild ist ihr Vater, der als Zimmermann trotz der Krankheit fast blind noch auf die Dachstühle kletterte, weil er als guter Handwerker gebraucht wurde.
"Ich habe keine Wut auf meinen Vater gehabt, ich habe ihn einfach geliebt. Er war ein sehr fleißiger Mann, trotz seiner Augen und da ist mir das nicht so bewusst gewesen. Mir ist es erst so bewusst gewesen, was ich für schlimme Augen hatte, wo die Kinder so gelitten haben. Ich selber habe das zur Seite geschoben, auch in der Schule."
"Ich habe gehofft, das geht gut"
Noch sieht ihr Sohn Christian ganz gut. Er erledigt im Café und auch im Wohnhaus nebenan nun alles, was seiner Mutter schwer fällt: Abspülen und Aufräumen, Einkaufen und Kochen – nur nicht das Backen.
"Komischerweise, ich habe nicht daran gedacht, dass sich das vererbt, weil ich habe ja auch Schwestern, die haben Kindern, die haben es nicht gekriegt. Darum habe ich gehofft, das geht gut. Aber nun ist es passiert, nun muss man das Beste daraus machen, ich hoffe auch, dass meine Kinder das Beste daraus machen, aber es fällt ihnen schwer."
Christians Zwillingsbruder Mario hat die Krankheit nicht geerbt, doch seine Schwester Stefanie hat auch ein Glaukom. Sie lebt ein paar Ortschaften weiter und hat, wie die Mutter erzählt, beschlossen, keine eigenen Kinder zu bekommen, weil sie keinem Kind wünscht, wie sie mit einer dicken Brille gehänselt zu werden.
"Ich hoffe, dass ich für sie ein Vorbild bin, ich hoffe, weil meine Tochter ist selber sehr empfindlich und auch mein Sohn hat mit seinem Leben gehadert. Aber ich habe hier so eine Bestätigung mit dem Café, mit den Leuten, die nehmen mich in die Arme, das ist sowas von schön."
Die Küchenuhr piept. Doris Hollnagel streift schnell die dicken Handschuhe über und holt geschickt das heiße Blech aus dem Ofen – zum Jammern ist einfach keine Zeit.