Das Schweigen über Auschwitz durchbrechen
Es war wie ein Paukenschlag. Das Dokumentarstück "Die Ermittlung" von Peter Weiss traf den Nerv der Zeit und brach ein bis dahin gehütetes Tabu: das Thema Auschwitz. Die deutschlandweite Uraufführung vor 50 Jahren setzte eine gewaltige Diskussion in Gang.
"Auschwitz heißt die neue Wahrheitsfindung des sozialistischen Elegikers. In elf Gesängen soll der Leichengeruch der schrecklichsten aller Todesmühlen auf die Bühne gebracht werden. 19 Bühnen beabsichtigen, dieses kommunistische Thesenstück im kommenden Winter in der Bundesrepublik aufzuführen. Der Dramen schreibende Partisan landet also seinen großen Coup. Im Sog der Vergangenheitsbewältigung verspritzt er die Propaganda eines unmenschlichen Regimes."
Auch wenn es in Wirklichkeit "nur" 15 Premieren in Ost- und Westdeutschland waren - die Polemik des Bayernkuriers zeigt mit bestürzender Deutlichkeit schon Monate vor der Uraufführung der "Ermittlung" am 19. Oktober 1965 die ideologische Pogromstimmung im geteilten Deutschland Mitte der 60er-Jahre: Generalverdacht gegen den sozialistisch gesinnten Exilanten Peter Weiss; Diffamierung einer "Ermittlung" über das Vernichtungslager Auschwitz als Propaganda.
Das Schweigen über Auschwitz löste sich
Dennoch - gerade deshalb - traf dieses Oratorium in elf Gesängen den Nerv der Zeit. Schlagartig löste sich das zwei Jahrzehnte lang gesammelte Schweigen über Auschwitz und machte einem erregten Debattieren, Diskutieren, Streiten Platz. "Gleichschaltung des schlechten Gewissens", "Wiedergutmachungssensation" "kommunistisches Thesenstück" - kaum eine Schmähung, die dem Stück nicht zuteilwurde, das auf Zeugenaussagen und Verhören des ersten Auschwitzprozesses beruht, der im Dezember 1963 begonnen hatte. Peter Weiss:
"Zunächst soll die große Maschinerie eines solchen Lagers angezeigt werden: wie sie von Komplex zu Komplex führt, von der Ankunft in diese Institution bis zum Ausgang dieser Institution, nämlich dem Weg durch den Schornstein; wie diese verschiedenen Teile sich mehr und mehr vergrößern, bis sie also in den Maßstab des so genannten Unvorstellbaren gelangen. Und für mich ist ja die Hauptsache dieser Arbeit gewesen, dieses Unvorstellbare zu überwinden und sachlich zu machen und vorstellbar zu machen."
Das Grauen sachlich aufzuarbeiten, zu dokumentieren - und das auf dem Theater! Viele beklagten diesen Ansatz, fanden den künstlerischen Anspruch des dokumentarischen Theaters verwerflich, vermissten gar die befreiende Katharsis. Der Kritiker Joachim Kaiser:
"Und jetzt soll die vergewaltigte Bühne leisten, was Prozessberichte, Zeugen, Schicksale und Wirklichkeit nicht leisten? Wenn Kunst ihre eigentümliche Macht in Bewegung setzen soll, muss sich ein Künstler stellen. Müssen Freiheit, Auffassung und Gestaltung mit dabei sein. Vertreten indessen Dokumente die Darstellung, dann wird die Wahrheit nicht gefördert, das Gewissen falsch aufgerührt und falsch beschwichtigt. Dann geschieht der Bühne Gewalt. Moralische Entscheidungen sind zu ästhetischen Erlebnissen verharmlost und den Opfern hat keiner geholfen."
Die "Banalität des Bösen" zeigen
Deutlicher lässt sich die Richtigkeit von Peter Weiss' Vorgehen kaum bestätigen. Ihm ging es eben nicht um Identifikation mit den "Guten" und rührselige Betroffenheit. Er wollte, ganz ohne Ursachenforschung, die "Banalität des Bösen" in all seinen Niederungen zeigen; einfach nur - was war und wie es gekommen ist. Sein Verleger Siegfried Unseld:
"Das Stück zeigt auf etwa die Verbindung zwischen Faschismus und Deutschtümelei, zwischen Kapitalismus und Ausbeutung in der schlimmsten Form, und schließlich zwischen Verbrecher und Spießertum. Die junge Generation dürstet ja danach zu erfahren, was war. Der Richter in Frankfurt war gezwungen, sein Urteil zu sprechen. Peter Weiss hat es anders gemacht. Er hat uns Zuschauern es überlassen, unser eigenes Urteil zu fällen."
Dem waren natürlich weder alle Zuschauer noch manche Kritiker und nur wenige Regisseure gewachsen. Selbst Erwin Piscator, entschlossen, dem allgemeinen Vergessen-Wollen entgegenzutreten, wählte an der Berliner Volksbühne noch einen eher identifikatorischen Ansatz. Der Kritiker Hellmuth Karasek berichtete, welch neue Dimension die Stuttgarter Inszenierung von Peter Palitzsch erschließt, "der eine völlige Austauschbarkeit zwischen Angeklagten und Opfern hergestellt hat. Und dann hat man auf einmal gesehen, dass in dem Stück eine Möglichkeit drinsteckt, nämlich die Maschinerie Auschwitz doch abzubilden, die jeden Menschen an dem Platz verheizt und verbraucht, an dem sie ihn haben will. Sie bestimmt sogar: Du bist Opfer, du bist Henker ... Und ich finde, dass dann das Stück sehr wohl über den Prozess sogar hinausgeht und der geschichtlichen Dimension näher kommt als es der Prozess selbst tun konnte."