Die erste promovierte Psychoanalytikerin

Rezensiert von Martin Zähringer · 04.10.2005
Sabina Spielrein war die erste promovierte Frau in psychoanalytischen Kreisen. Die Autorin Sabine Richebächer, selbst Psychoanalytikerin, bescheibt in "Sabina Spielrein – Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft" ihr tragisches Lebensschicksal, das mit dem von Freud und Jung und der frühen Geschichte der Psychoanalyse verknüpft war.
Sabina Spielrein war eine leidenschaftliche Forscherin. In die Schweiz kam sie als eine der tausenden von jungen Russinnen, die dort traditionsgemäß ihr Medizinstudium absolvierten. Ihre "fast grausame Liebe zur Wissenschaft" – so ihre Mutter - führte sie in die Metropolen Europas. Wien, Berlin und Zürich waren die Zentren der jungen psychoanalytischen Schule. In Kontakt kam sie mit der Psychoanalyse 1904, zunächst als angehende Studentin und Patientin. Da war sie 19 und der Psychiater Carl Gustav Jung führte mit ihr in Zürich seine erste Analyse nach der Methode von Sigmund Freud durch. Der war begeistert:

" An ihrer Russin ist erfreulich, daß es eine Studentin ist, ungebildete Personen sind für uns derzeit allzu undurchsichtig (...) Fälle wie dieser, auf verdrängter Perversion beruhend, sind besonders schön zu durchschauen."

Leider hat Freud die Sache nicht ganz durchschaut. Sein Schüler und späterer Konkurrent Carl Gustav Jung beging nämlich den Kardinalfehler der analytischen Kur – der Therapeut verliebte sich in die Patientin und sie liebte zurück. Dieses Detail erfuhr Freud erst spät. Die Analyse war trotzdem ein Erfolg - Freud bekam wesentliche Informationen für die Behandlungsmethode, und für Jung war es der Einstieg in die Karriere.

Sabina Spielrein aber wurde "fürs Erste an der Nase herumgeführt, pathologisiert, beschwichtigt". Der Skandal wurde unterdrückt. Erst 1977 kam er durch die Briefwechsel und Tagebücher ans Licht. Sabina Spielrein war plötzlich berühmt, 35 Jahre nach ihrer Ermordung.

" Allerdings nicht als Pionierin von Psychoanalyse und Kinderanalyse, als Autorin von über dreißig anregenden Publikationen, in denen sie vieles vorausgedacht hatte ... Vielmehr konzentrierte man sich in klassischer Weise auf ihre Rolle als Mitspielerin in einer chronique scandaleuse, für die sie – je nach Geschmack – entweder verantwortlich gemacht oder zu deren "Opfer" sie erklärt worden ist."

Mit diesem Befund will sich nun die Autorin Sabine Richebächer nicht zufrieden geben. Sie zeigt eine starke Frau. Spielrein war die erste promovierte Frau in den psychoanalytischen Kreisen, aktiv als Kinderärztin und Publizistin, später als treibende pädagogische Kraft in Russland. Ihre besondere wissenschaftliche Leistung war die Entdeckung des Destruktionstriebes.

Sie erkannte zum Beispiel die Bedeutung der Abwehrängste schwangerer Frauen, auch dem Mythos vom Mutterinstinkt rückte sie zu Leibe. Die Forschungsgeschichte wird man wohl revidieren müssen, das dauert noch an. Spielreins wissenschaftliche Schriften sind jedenfalls wieder zugänglich. Im Vordergrund steht aber immer noch die Tragödie der Person Sabina Spielrein. Die Autorin hält ihre Liaison mit der Psychoanalyse einerseits für "ihr großes Glück":
" Andererseits ist die Begegnung mit C. G. Jung auch ein großes Unglück. Der "psychoanalytische Schulfall" wird kein Meisterstück; die therapeutische Beziehung wird nie richtig aufgelöst. "

Sabina Spielreins Trennung von Jung, dem Lehrer, Therapeuten und Geliebten war qualvoll. Der Fall hat jedoch eine noch tiefere Dimension. Die Autorin Richebächer analysiert nicht nur das bekannte Konfliktverhältnis zwischen Patientin und Therapeuten, sie erforscht es im historischen Zusammenhang von Wissenschaft und Politik. Auch hier war offensichtlich eine Revision fällig.

Das Leben der Sabina Spielrein ist von der Frühgeschichte der Psychoanalyse geprägt, und diese war jüdisch. Und die Umbruchzeit des beginnenden 20. Jahrhunderts war antisemitisch. In der Verbindung Freud – Jung – Spielrein wird dieser Zeitgeist plastisch widergespiegelt. Dieses Drama beschreibt die Autorin, selbst Psychoanalytikerin in Zürich, eindrücklich und ehrlich.

Sigmund Freud, der Jude aus Wien, setzte auf Carl Gustav Jung, den Christen aus Zürich, um seiner bedrängten Schule die gewünschte wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Aber es kam anders: 1933 hat sich Jung mit antisemitischen Artikeln bei den Nazis angedient und machte Karriere im Dritten Reich, die Psychoanalyse wurde verboten. Jung beging sogar einen doppelten Verrat: an Freud und seiner Wissenschaft, an Spielrein und ihrer Liebe.

Sabina Spielrein, Jüdin aus Rostow am Don, wurde 1942 vom SS-Sonderkommando 10a ermordet, zusammen mit ihrer Familie und allen anderen Juden ihrer Stadt. Die Tragödie der Frau und Jüdin Sabina Spielrein ist inzwischen durch Kinofilme, Theaterstücke und neuere Publikationen bekannt. Die Autorin Sabine Richebächer hat nun Lebensschicksal, frühe Geschichte der Psychoanalyse und historische Analyse verknüpft. Diese Biographie bringt tiefere Einsichten, ist zudem spannend zu lesen und gehört eindeutig zu den Besseren des Genres.

"Sabina Spielrein – Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft" von Sabine Richebächer, Verlag Sabine Dörlemann in Zürich, , 400 Seiten, 24,90 Euro.