Die Europäische Union als "abwegige" Utopie
Die von Abbé de Saint Pierre erfundene gesundheitsfördernde Schüttelmaschine sei den Zeitgenossen weniger abwegig erschienen als seine Idee einer Europäischen Union, sagt der Historiker Florian Schui. Um diese und andere Utopien geht es in einer heute beginnenden Serie täglich um kurz nach neun im Deutschlandradio Kultur.
Dieter Kassel: Christiane Habermalz über den Abbé de Saint-Pierre und zwei seiner Projekte. Ich habe kurz vor der Sendung mit dem deutschen Historiker Florian Schui über den Abbé de Saint-Pierre gesprochen, er hat dazu seinen Feiertagsurlaub unterbrochen, ist für uns in Mailand bei den Kollegen von der Reihe ins Studio gegangen. Und ich habe ihn noch mal nach Voltaire gefragt, den haben wir gerade am Schluss des Beitrags von Christiane Habermalz, aber der hat noch mehr gesagt über den Abbé de Saint-Pierre. Er hat nämlich über ihn gesagt, der sei halb Philosoph und halb Verrückter. Und ich habe Florian Schui zunächst gefragt, ob er damit recht hatte.
Florian Schui: In gewisser Weise schon, denn was er da zugrunde legt in dieser Einschätzung Voltaires ist ja diese Zwiespältigkeit, dass die auch aus der heutigen Sicht auf Saint-Pierre noch zutrifft, nämlich dass einerseits seine Pläne ja später heute verwirklicht worden sind, zumindest in den großen Linien, dass man aber andererseits als Zeitgenosse ja durchaus Grund hatte, an der Ausführbarkeit seiner Pläne zu zweifeln.
Kassel: Das Interessante ist aber ja nun gerade bei Voltaire, dass der die Ziele und Absichten Saint-Pierres ja gar nicht mal falsch fand, der wollte ja auch ein friedliches vereinigtes Europa, aber er hat sich trotzdem zu Lebzeiten regelrecht bösartig lustig gemacht zum Teil über den Abbé de Saint-Pierre. Wie passt denn das zusammen?
Schui: Ja, da hat man das Problem, dass sie sozusagen, das eigentlich allen Perioden der Geschichte, allen Menschen gemeinsam ist, dass man sozusagen Schwierigkeiten hat, über den Tellerrand seiner eigenen Periode, seiner eigenen Zeit hinauszusehen. Und man hält eben das, was mit der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Zeit nicht zu vereinbaren ist, hält man für unausführbar. Da gibt es ja eine ganze Reihe von Beispielen, wenn in den späten 20er-Jahren Irving Fisher vorhersagt, dass nun die Börsenkurse ein permanent hohes Plateau erreicht hätten, wenn sie dann wenige Monate danach crashen oder wenn Gordon Brown in den letzten Jahren noch sagte, er hätte Konjunkturzyklen abgeschafft, und man erlebt dann die Krise, die wir gerade durchlebt haben, dann ist es eben ganz typisch – das hat was mit Unkenntnis der Geschichte zu tun, das hat etwas damit zu tun, dass natürlich innerhalb eines gesellschaftlichen Status quo auch immer starke Kräfte daran wirken, den Zeitgenossen zu vermitteln, dass es nun so, wie es ist, am besten ist und dass man da am besten gar nicht dran dreht und auch eigentlich gar nicht dran drehen kann.
Kassel: Nun hat aber der Abbé de Saint-Pierre durchaus einen gewissen politischen Realismus ja auch bewiesen schon zu Lebzeiten. Ihm war ja klar, dass das Ziel eines ewigen Friedens als Selbstzweck auf Herrscher nicht überzeugend wirken würde, und deshalb hat der denen diese Europäische Gemeinschaft ja verkauft als eine Gemeinschaft, die über diesen Frieden, vor allen Dingen auch Wohlstand oder etwas plumper formuliert wunderbare Geschäfte verspricht. Warum hat denn selbst das nicht funktioniert?
Schui: Damit ist der Abbé de St. Pierre eben ganz klar ja auch ein Kind seiner Zeit, also die Aufklärung, die versuchten, nun alles rational und effizient zu gestalten und eben auch die Politik und die internationalen Beziehungen, die Verschwendung von Ressourcen, die man braucht, um sich militärisch zu schützen, die Störung des Handels und Wandels, die durch Krieg hervorgerufen werden, das ist natürlich alles ein Dorn im Auge eines jeden Aufklärers. Insofern nutzt er, wie Sie ganz richtig sagen, den Eigennutz der Staaten als Motivation. Das ist im Prinzip ja auch eine zutreffende Vorstellung, dass das funktionieren kann, aber dazu hätten natürlich die Herrscher der Zeit das auch so erkennen müssen, und das hat wohl doch eine ganze Weile gedauert, bis klar war, dass sozusagen ein stabiler Frieden eigentlich allen Beteiligten mehr nützt als die kurzfristigen Vorteile, die man durch einen Eroberungskrieg erreichen kann. Da hat es in Europa eben noch zwei Weltkriege für gebraucht und die Aussicht, dass der Dritte Weltkrieg wahrscheinlich der letzte sein würde, um das sozusagen als praktikabel erscheinen zu lassen. Das ist sozusagen, wenn man sich da mal auf dieses Zitat von Hugo zurückbesinnt, "nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist" – und das Entscheidende ist der letzte Teil dieses Zitats, nämlich "deren Zeit gekommen ist".
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur zum Auftakt unserer Serie "Geniale Utopien" mit dem Historiker Florian Schui über den Abbé de Saint-Pierre, der, Herr Schui, – wir haben es ja gehört in diesem Beitrag – verschiedene Projekte hatte, die kann man kaum alle aufzählen, aber das mit der Europäischen Union war vielleicht aus heutiger Sicht am Ende das Vernünftigste. Aber am erfolgreichsten war er ja eigentlich mit dem Unvernünftigsten, nämlich mit diesem Trémmoussoir, diesem Apparat, der eine Kutsche nachahmt, damit man durch Schütteln gesund wird. Heute können wir darüber, wenn wir davon erfahren, herzlich lachen. Warum haben eigentlich seine Zeitgenossen ausgerechnet darüber nicht gelacht, nicht mal Voltaire?
Schui: Na ja, es ist ein Kuriosum. Da muss man sehen, dass sozusagen aus der Zeiterfahrung heraus eine Therapie, medizinische Therapie, die auf Durchschütteln basiert, eben als gar nicht so abwegig erscheint. Das war mit dem damaligen Stand der medizinischen Wissenschaft, sagen wir mal Wissenschaft in Anführungsstrichen, der medizinischen Kenntnis eben zu vereinbaren, da waren ja alle möglichen Ideen im Schwange, was die Dämpfe und Drüsen und so weiter betraf. Das schien den Zeitgenossen eben gar nicht so abwegig wie ewiger Frieden. Und das ist eben, dass das abwegig erschien, das wiederum kann eigentlich auch nicht überraschen, denn wenn man sich mal das 17. oder das 18. Jahrhundert anschaut, dann ist das ja eigentlich eine Periode durchgehender Kriegführung in Europa. So etwas wie wir, das wir jetzt in der Nachkriegszeit, also nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erlebt haben, also mehr als 50 Jahre ununterbrochener Frieden, das war einfach nicht Teil der zeitgenössischen Erfahrung.
Kassel: Wenn man heute in ein Lexikon guckt und dort nachschlägt, was zu Abbé de Saint-Pierre zu finden ist, dann stößt man schnell auf Begriffe wie Vordenker, Wegbereiter, das dann in Zusammenhang mit der Aufklärung, mit dem Fortschritt. Ist denn das eigentlich richtig, dass es heute eine Europäische Union, die schon zum Teil so aussieht, wie er sich seine damals gedacht hat, dass es die Vereinten Nationen gibt, hat das mit seiner Utopie denn überhaupt irgendwas zu tun?
Schui: Das hat mit seiner Utopie insofern etwas zu tun, als sozusagen die gedanklichen Zusammenhänge, die ja eigentlich die Menschenrechte und diese Formen von internationaler Kooperation, wie wir sie heute kennen, die denen zugrunde liegen, das sind eigentlich die gleichen. Das ist sozusagen dieser aufklärerische Geist, wo man eine sinnvolle, eine humane, eine rationale Gestaltung internationaler Beziehungen oder politischer Organisationen anstrebt, und das ist das, was uns sozusagen auf der intellektuellen Ebene ja auch heute die EU oder die Vereinten Nationen beschert. Was eben damals fehlte und was sich seither eingestellt hat, ist die Erfahrung zerstörerischer Kriege, die menschliches Leid in ungekanntem Ausmaß verursacht haben, die ökonomische Ressourcen verschwendet haben in Umfängen, die wirklich unvorstellbar waren bis dahin, der Erste und Zweite Weltkrieg. Und nur eigentlich nach dieser Erfahrung, nachdem sich sozusagen die reale Welt auch verändert hat, ist es dann möglich geworden, diese an sich schon immer als begrüßenswert erscheinenden Ideen dann auch in die Tat umzusetzen.
Kassel: Nun sagen wir natürlich heute deshalb ganz einfach, Abbé de Saint-Pierre hatte vor gut 250 Jahren recht. Wenn wir das mal nicht weiter differenzieren, sondern erst mal so stehen lassen, was bedeutet es dann für unseren Umgang mit heutigen Utopien und heutigen Utopisten? Müssen wir uns angewöhnen, selbst bei den verrücktesten Ideen immer im Hinterkopf zu behalten, es könnte was dran sein?
Schui: Ja, ich glaube, das ist eigentlich eine gute Art, sich mit solchen Ideen auseinanderzusetzen, denn man hat – wie ich ja eingangs schon sagte – man hat doch immer die Tendenz, sich am Ende der Geschichte zu wähnen. Also man schaut zurück in die Geschichte, da sieht man riesige Umwälzungen, Aufstieg und Fall großer Reiche, Ideologien, ganze Weltbilder werden zerstört, aber die meisten Zeitgenossen meinen dann doch, dass in ihrer Zeit in irgendeiner Weise die Geschichte nun zu Ende sei. Das ist aber natürlich nie so, und daher kommen dann auch immer diese etwas kuriosen Vorhersagen zustande. Die Geschichte bewegt sich immer weiter und bewegt sich immer weiter in riesenhaften Umwälzungen. Und deswegen sollte man sich nie einreden lassen, dass sozusagen grundsätzliche Veränderungen nicht möglich sind. Sie sind immer möglich, sie sind nur sehr schwer vorherzusehen.
Kassel: Der Historiker Florian Schui über den Abbé de Saint-Pierre und seine Idee, nicht nur von der etwas eigenartigen Schüttelmaschine, sondern auch von einem ewigen Frieden, hervorgerufen durch eine Europäische Union. Das war der Auftakt unserer Serie über "Geniale Utopien", in der es in dieser Woche noch um diverse andere mehr oder weniger sinnvolle Utopien – upps, darf man ja eigentlich gar nicht sagen, haben wir ja gerade gelernt, man kann es vorher nicht wissen – gehen wird, unter anderem um das Leerpumpen des Mittelmeers und um Kolonien auf dem Mars.
Service:
Die Reihe "Grandiose Utopien" hören Sie vom 4. bis 9. Januar 2009 täglich gegen 9.07 Uhr im Deutschlandradio Kultur. Themen:
4.1. Halb Verrückter, halb Philosoph: Die Union Européenne des Abbé de St. Pierre
5.1. Kornkammer Mittelmeer: Das "Atlantropa-Projekt" von Hermann Sörgel
6.1. Kolonisierung im All: Die Besiedelung des Mars
7.1. Von Orwell bis "Matrix" - Negativutopien als Systemkritik ihrer Zeit
8.1. Freie Liebe, Sozialismus und Zitronenlimonade - utopische Kommunen von den Frühsozialisten bis heute
Weitere Details zur Reihe finden Sie auf unserer Programmschwerpunkt-Seite.
Florian Schui: In gewisser Weise schon, denn was er da zugrunde legt in dieser Einschätzung Voltaires ist ja diese Zwiespältigkeit, dass die auch aus der heutigen Sicht auf Saint-Pierre noch zutrifft, nämlich dass einerseits seine Pläne ja später heute verwirklicht worden sind, zumindest in den großen Linien, dass man aber andererseits als Zeitgenosse ja durchaus Grund hatte, an der Ausführbarkeit seiner Pläne zu zweifeln.
Kassel: Das Interessante ist aber ja nun gerade bei Voltaire, dass der die Ziele und Absichten Saint-Pierres ja gar nicht mal falsch fand, der wollte ja auch ein friedliches vereinigtes Europa, aber er hat sich trotzdem zu Lebzeiten regelrecht bösartig lustig gemacht zum Teil über den Abbé de Saint-Pierre. Wie passt denn das zusammen?
Schui: Ja, da hat man das Problem, dass sie sozusagen, das eigentlich allen Perioden der Geschichte, allen Menschen gemeinsam ist, dass man sozusagen Schwierigkeiten hat, über den Tellerrand seiner eigenen Periode, seiner eigenen Zeit hinauszusehen. Und man hält eben das, was mit der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Zeit nicht zu vereinbaren ist, hält man für unausführbar. Da gibt es ja eine ganze Reihe von Beispielen, wenn in den späten 20er-Jahren Irving Fisher vorhersagt, dass nun die Börsenkurse ein permanent hohes Plateau erreicht hätten, wenn sie dann wenige Monate danach crashen oder wenn Gordon Brown in den letzten Jahren noch sagte, er hätte Konjunkturzyklen abgeschafft, und man erlebt dann die Krise, die wir gerade durchlebt haben, dann ist es eben ganz typisch – das hat was mit Unkenntnis der Geschichte zu tun, das hat etwas damit zu tun, dass natürlich innerhalb eines gesellschaftlichen Status quo auch immer starke Kräfte daran wirken, den Zeitgenossen zu vermitteln, dass es nun so, wie es ist, am besten ist und dass man da am besten gar nicht dran dreht und auch eigentlich gar nicht dran drehen kann.
Kassel: Nun hat aber der Abbé de Saint-Pierre durchaus einen gewissen politischen Realismus ja auch bewiesen schon zu Lebzeiten. Ihm war ja klar, dass das Ziel eines ewigen Friedens als Selbstzweck auf Herrscher nicht überzeugend wirken würde, und deshalb hat der denen diese Europäische Gemeinschaft ja verkauft als eine Gemeinschaft, die über diesen Frieden, vor allen Dingen auch Wohlstand oder etwas plumper formuliert wunderbare Geschäfte verspricht. Warum hat denn selbst das nicht funktioniert?
Schui: Damit ist der Abbé de St. Pierre eben ganz klar ja auch ein Kind seiner Zeit, also die Aufklärung, die versuchten, nun alles rational und effizient zu gestalten und eben auch die Politik und die internationalen Beziehungen, die Verschwendung von Ressourcen, die man braucht, um sich militärisch zu schützen, die Störung des Handels und Wandels, die durch Krieg hervorgerufen werden, das ist natürlich alles ein Dorn im Auge eines jeden Aufklärers. Insofern nutzt er, wie Sie ganz richtig sagen, den Eigennutz der Staaten als Motivation. Das ist im Prinzip ja auch eine zutreffende Vorstellung, dass das funktionieren kann, aber dazu hätten natürlich die Herrscher der Zeit das auch so erkennen müssen, und das hat wohl doch eine ganze Weile gedauert, bis klar war, dass sozusagen ein stabiler Frieden eigentlich allen Beteiligten mehr nützt als die kurzfristigen Vorteile, die man durch einen Eroberungskrieg erreichen kann. Da hat es in Europa eben noch zwei Weltkriege für gebraucht und die Aussicht, dass der Dritte Weltkrieg wahrscheinlich der letzte sein würde, um das sozusagen als praktikabel erscheinen zu lassen. Das ist sozusagen, wenn man sich da mal auf dieses Zitat von Hugo zurückbesinnt, "nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist" – und das Entscheidende ist der letzte Teil dieses Zitats, nämlich "deren Zeit gekommen ist".
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur zum Auftakt unserer Serie "Geniale Utopien" mit dem Historiker Florian Schui über den Abbé de Saint-Pierre, der, Herr Schui, – wir haben es ja gehört in diesem Beitrag – verschiedene Projekte hatte, die kann man kaum alle aufzählen, aber das mit der Europäischen Union war vielleicht aus heutiger Sicht am Ende das Vernünftigste. Aber am erfolgreichsten war er ja eigentlich mit dem Unvernünftigsten, nämlich mit diesem Trémmoussoir, diesem Apparat, der eine Kutsche nachahmt, damit man durch Schütteln gesund wird. Heute können wir darüber, wenn wir davon erfahren, herzlich lachen. Warum haben eigentlich seine Zeitgenossen ausgerechnet darüber nicht gelacht, nicht mal Voltaire?
Schui: Na ja, es ist ein Kuriosum. Da muss man sehen, dass sozusagen aus der Zeiterfahrung heraus eine Therapie, medizinische Therapie, die auf Durchschütteln basiert, eben als gar nicht so abwegig erscheint. Das war mit dem damaligen Stand der medizinischen Wissenschaft, sagen wir mal Wissenschaft in Anführungsstrichen, der medizinischen Kenntnis eben zu vereinbaren, da waren ja alle möglichen Ideen im Schwange, was die Dämpfe und Drüsen und so weiter betraf. Das schien den Zeitgenossen eben gar nicht so abwegig wie ewiger Frieden. Und das ist eben, dass das abwegig erschien, das wiederum kann eigentlich auch nicht überraschen, denn wenn man sich mal das 17. oder das 18. Jahrhundert anschaut, dann ist das ja eigentlich eine Periode durchgehender Kriegführung in Europa. So etwas wie wir, das wir jetzt in der Nachkriegszeit, also nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erlebt haben, also mehr als 50 Jahre ununterbrochener Frieden, das war einfach nicht Teil der zeitgenössischen Erfahrung.
Kassel: Wenn man heute in ein Lexikon guckt und dort nachschlägt, was zu Abbé de Saint-Pierre zu finden ist, dann stößt man schnell auf Begriffe wie Vordenker, Wegbereiter, das dann in Zusammenhang mit der Aufklärung, mit dem Fortschritt. Ist denn das eigentlich richtig, dass es heute eine Europäische Union, die schon zum Teil so aussieht, wie er sich seine damals gedacht hat, dass es die Vereinten Nationen gibt, hat das mit seiner Utopie denn überhaupt irgendwas zu tun?
Schui: Das hat mit seiner Utopie insofern etwas zu tun, als sozusagen die gedanklichen Zusammenhänge, die ja eigentlich die Menschenrechte und diese Formen von internationaler Kooperation, wie wir sie heute kennen, die denen zugrunde liegen, das sind eigentlich die gleichen. Das ist sozusagen dieser aufklärerische Geist, wo man eine sinnvolle, eine humane, eine rationale Gestaltung internationaler Beziehungen oder politischer Organisationen anstrebt, und das ist das, was uns sozusagen auf der intellektuellen Ebene ja auch heute die EU oder die Vereinten Nationen beschert. Was eben damals fehlte und was sich seither eingestellt hat, ist die Erfahrung zerstörerischer Kriege, die menschliches Leid in ungekanntem Ausmaß verursacht haben, die ökonomische Ressourcen verschwendet haben in Umfängen, die wirklich unvorstellbar waren bis dahin, der Erste und Zweite Weltkrieg. Und nur eigentlich nach dieser Erfahrung, nachdem sich sozusagen die reale Welt auch verändert hat, ist es dann möglich geworden, diese an sich schon immer als begrüßenswert erscheinenden Ideen dann auch in die Tat umzusetzen.
Kassel: Nun sagen wir natürlich heute deshalb ganz einfach, Abbé de Saint-Pierre hatte vor gut 250 Jahren recht. Wenn wir das mal nicht weiter differenzieren, sondern erst mal so stehen lassen, was bedeutet es dann für unseren Umgang mit heutigen Utopien und heutigen Utopisten? Müssen wir uns angewöhnen, selbst bei den verrücktesten Ideen immer im Hinterkopf zu behalten, es könnte was dran sein?
Schui: Ja, ich glaube, das ist eigentlich eine gute Art, sich mit solchen Ideen auseinanderzusetzen, denn man hat – wie ich ja eingangs schon sagte – man hat doch immer die Tendenz, sich am Ende der Geschichte zu wähnen. Also man schaut zurück in die Geschichte, da sieht man riesige Umwälzungen, Aufstieg und Fall großer Reiche, Ideologien, ganze Weltbilder werden zerstört, aber die meisten Zeitgenossen meinen dann doch, dass in ihrer Zeit in irgendeiner Weise die Geschichte nun zu Ende sei. Das ist aber natürlich nie so, und daher kommen dann auch immer diese etwas kuriosen Vorhersagen zustande. Die Geschichte bewegt sich immer weiter und bewegt sich immer weiter in riesenhaften Umwälzungen. Und deswegen sollte man sich nie einreden lassen, dass sozusagen grundsätzliche Veränderungen nicht möglich sind. Sie sind immer möglich, sie sind nur sehr schwer vorherzusehen.
Kassel: Der Historiker Florian Schui über den Abbé de Saint-Pierre und seine Idee, nicht nur von der etwas eigenartigen Schüttelmaschine, sondern auch von einem ewigen Frieden, hervorgerufen durch eine Europäische Union. Das war der Auftakt unserer Serie über "Geniale Utopien", in der es in dieser Woche noch um diverse andere mehr oder weniger sinnvolle Utopien – upps, darf man ja eigentlich gar nicht sagen, haben wir ja gerade gelernt, man kann es vorher nicht wissen – gehen wird, unter anderem um das Leerpumpen des Mittelmeers und um Kolonien auf dem Mars.
Service:
Die Reihe "Grandiose Utopien" hören Sie vom 4. bis 9. Januar 2009 täglich gegen 9.07 Uhr im Deutschlandradio Kultur. Themen:
4.1. Halb Verrückter, halb Philosoph: Die Union Européenne des Abbé de St. Pierre
5.1. Kornkammer Mittelmeer: Das "Atlantropa-Projekt" von Hermann Sörgel
6.1. Kolonisierung im All: Die Besiedelung des Mars
7.1. Von Orwell bis "Matrix" - Negativutopien als Systemkritik ihrer Zeit
8.1. Freie Liebe, Sozialismus und Zitronenlimonade - utopische Kommunen von den Frühsozialisten bis heute
Weitere Details zur Reihe finden Sie auf unserer Programmschwerpunkt-Seite.