Leben wie die Urchristen
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Leben wie die ersten Christen, alles teilen, mit Gebet und Spiritualität im Zentrum, dieser Traum hat immer wieder Suchende inspiriert. Wie produktiv das sein kann, aber auch wie schwierig, zeigt die 100-jährige Geschichte der Bruderhofgemeinde.
Wenn Sie diesen Beitrag hören, ist der Bruderhof in Sannerz Geschichte. Die etwa 20 Bewohner werden weitergezogen sein, verstreut in alle Welt, wie das schon in der Vergangenheit immer wieder war. Die Paul'sche Villa, auch "Sannerz-Haus" genannt, ein prächtiger Backsteinbau, wird beinahe leer sein.
30. September 2020. Die Bruderhöfer sind im Aufbruchsstress. Plötzlich geht alles ganz schnell, offenbar schneller, als sie es selbst erwartet haben.
Das Reich Gottes im Zelt
Simon Manke, "Bruder Simon", 46 Jahre, Lehrer, kurze, graue Haare, beige Schlabberhose, Kapuzenjacke, Smartphone in der Tasche. Anders als bei den Hutterern, mit denen die Bruderhöfer öfter verwechselt werden, trägt er keine Tracht. Sieht nicht aus wie jemand, der in der Zeit stehen geblieben ist.
Simon – man ist hier per Du – empfängt zum Gespräch quasi zwischen Tür und Angel. Wobei, nicht wirklich, denn es fehlt die Tür. Wegen der Coronakrise hat die Gemeinschaft auf dem Vorplatz der Villa ein Zelt für Besucher aufgestellt.
"Was erwartet mich?", frage ich Bruder Simon. "Was glaubst du, womit ich hier rausgehe?" – "Also, ich würde hoffen, dass du damit rausgehst, dass hier ein kleines Grundstück ist, das Teil des Reiches Gottes ist", erwidert er, "wo Jesus im Mittelpunkt steht, das aber offen ist für andere Menschen – auch ein Zufluchtsort zu sein, wo Menschen aus der Nachbarschaft sich frei fühlen, hinzukommen, wenn sie Probleme haben. Also, in dem Sinne schon, dass es wie ein Botschaftsgelände ist, für eine andere Welt: die Welt, wo Jesus regiert."
Die Gemeinschaft teilt alles – vom Brot bis zum Auto
Die Welt, in der die Bergpredigt Jesu gelehrt und gelebt wird. Mit strengen Regeln, wie ein rechtschaffenes Leben auszusehen hat. Eine Welt, angelehnt an die Lebensweise der Urchristen vor 2000 Jahren. Eine Gemeinschaft, die alles miteinander teilt, vom Brot bis zum Auto. Eine Gemeinschaft jenseits der großen Kirchenorganisationen, dafür in täuferischer Tradition: Getauft wird man hier im Erwachsenenalter, eine bewusste Entscheidung für die Gemeinschaft und für Jesus.
Zur Geschichte: Eberhard Arnold, geboren 1883 bei Königsberg, aufgewachsen in bürgerlichen Verhältnissen, Vater: Doktor der Theologie. Eberhard Arnolds Biograf, der christliche Journalist Markus Baum, beschreibt den jungen Eberhard als einen, der zeitlebens nach seinem Zugang zum christlichen Glauben sucht. Der Freundschaften mit Theologen abseits des kirchlichen Mainstreams schließt. Als barmherzigen Unterstützer der Heilsarmee. Und als charismatischen Redner und Prediger, der es schafft, im Dunstkreis der Jugendbewegungen des noch jungen 20. Jahrhunderts eine kleine Gefolgschaft hinter sich zu scharen.
Vor genau 100 Jahren, bei einer Reise nach Südhessen, wird er auf die leer stehende Villa in Sannerz aufmerksam. Kurze Zeit später zieht er mit seiner Frau, den fünf Kindern und einigen anderen gläubigen Pionieren hier ein. Wohnhaus, Stall, großer Garten – es entsteht der erste Bruderhof.
Tägliche Lesung zur Suppe: von Franz von Assisi bis Tolstoi
"Bei Tisch wurde bei uns wie in alten Klöstern gelesen", erinnert sich der Zeitzeuge Johannes Harder 1984 in einer Sendung des Hessischen Rundfunks. "Einer las, die anderen aßen ihre Eintopfsuppe. Franz von Assisi, auch mal der Augustin, auch mal Leo Tolstoi, auch mal Dostojewski – kurzum, es war alles bewegende Literatur, die wir lasen, die keinen an seinem Platz ließ, sondern ihn immer vorwärtsdrängte."
Der Bruderhof wird schnell zu klein, und so verlässt das Grüppchen Sannerz und kauft den "Sparhof", einen Bauernhof in der nahe gelegenen Rhön.
Als die Nazis die Macht ergreifen, wird es eng für die "Arnold-Leut" in Hessen. 1935 stirbt Eberhard Arnold überraschend, 1937 konfisziert die Gestapo den Rhönbruderhof. Diese Wehrdienstverweigerer, diese pazifistischen, judenfreundlichen Brüder sind den Nationalsozialisten nicht geheuer. Und auch in anderen Ländern sind sie nicht willkommen.
Flucht vor den Nazis nach Übersee
Über England fliehen die Bruderhöfer nach Paraguay. Dort gründen sie in den Kriegsjahren die Gemeinschaft "Primavera". Über die Jahre entstehen in den USA und England große Bruderhöfe mit mehreren Hundert Bewohnern. 1988 versucht die Gemeinschaft, wieder in Deutschland Fuß zu fassen, in Birnbach im Westerwald.
Gemeinderatsmitglied Friedhelm Müller bringt 1989 im SWR die Sorgen vieler Bürger auf den Punkt:"Dann sind nachher in diesem Bruderhof mehr Einwohner, wie jetzt in der Gemeinde Birnbach, die mittlerweile 750 Jahre alt und eine schöne Ortsgemeinde ist."
Doch während sich die meisten schließlich mit den Bruderhöfern arrangieren, manche, wie der damalige Bürgermeister, sogar Freundschaften mit den Außenseitern schließen, agitiert eine kleine Gruppe aus Skeptikern und Menschen vom rechten Rand der Gesellschaft weiter. Schließlich verlassen die Bruderhöfer Deutschland.
Neuanfang auf dem Hof des Gründers
2002 dann die Rückkehr zu den Wurzeln: Die Paul'sche Villa in Sannerz steht leer, die Bruderhöfer ergreifen die Chance, wollen hier ein kleines "Kontakthaus" für Interessierte aus dem deutschsprachigen Raum einrichten. Um die 20 Menschen leben fortan hier. Ortsvorsteher Marco Gärtner:
"Die sind immer bereit zu unterstützen, seien es Heckenschnittarbeiten am Friedhof, wir haben am Grillplatz eine Toilettenanlage in Eigenleistung erbaut, dort haben wir einen 300 Meter langen Graben gezogen, da stehen die Bruderhöfler parat. Man feiert dann natürlich auch. Diese Freiwilligkeit und diese Gastfreundschaft – das ist einfach schwer zu finden."
Selbstverständlich laden sie auch den Journalisten zum Mittagessen ein. An diesem Tag gibt es Suppe aus selbst angebauten Kürbissen, dazu Tee und belegte Brötchen. Frauen, Männer und Kinder sitzen im Kreis, scherzen, reden über die Tagesplanung.
Aus der Gemeinschaft auszusteigen, ist schwierig
Friedliche Nachbarn, begehrte Lehrlinge in den lokalen Betrieben, fröhliche Menschen, die offen ihren Glauben leben. Aber die perfekte Welt der Bruderhöfer hat auch Risse. Menschen, die die Gemeinschaft verlassen haben, berichten von Indoktrination, starker Hierarchie und Schwierigkeiten beim Ausstieg. Auch Ortsvorsteher Gärtner hat solche Berichte gehört:
"Wir haben durchaus mit dem einen oder anderen Kontakt gehabt, die auch mal die Gemeinschaft dann verlassen wollten. Das stellt man denen tatsächlich frei. Aber die Hürden scheinen doch auch etwas höher zu sein, indem, dass man offensichtlich den Kontakt zu seiner Familie aufgeben muss et cetera."
Einer, der die Bruderhöfer verlassen hat, ist der heute 32-jährige Jan van Thoor. Seine 23-jährige Schwester Marieke hilft in den letzten Tagen auf dem Hof in Sannerz in der Küche aus.
"Es war schon schwierig am Anfang, weil er auch ein bisschen Wut hatte, dass es so geschehen ist: Warum werde ich nicht akzeptiert? Aber kurz danach war es ja so, er wollte keinen wirklichen Kontakt haben, aber wenn wir mit ihm reden wollten, war er da."
Abgefangene Briefe, verschwiegene Anrufe
Jan van Thoor erzählt eine etwas andere Version der Geschichte. Ja, auch er habe zeitweise keinen Kontakt gewollt. Aber er berichtet auch von Briefen an seine Eltern, die nie zugestellt worden seien, und Anrufen auf dem Bruderhof, die nicht an seine Eltern weitergeleitet worden seien.
Bruder Simon Manke sagt dazu: "Dass da Fehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, da ist sich jeder sicher. Dieses Thema der Vergebung hat uns schon viel in den letzten 20 Jahren beschäftigt, auch unter uns. Wenn man sagt: 100 Jahre Gemeinschaft – in den 100 Jahren lernt man auch viel dazu."
Inzwischen hat Jan wieder sporadischen Kontakt zu seiner Familie. Vor allem bei der jungen Generation der Bruderhöfer, der Generation seiner Schwester, sieht er ein Umdenken. Ein Umdenken, das sich auch in Äußerlichkeiten zeigt.
"Als meine Eltern gekommen sind, war es ganz anders", sagt Marieke van Thoor. "Jetzt haben wir bisschen mehr Freiheit. Ich habe ja mit 18 erstmals Kopftuch getragen. Und jetzt im letzten Jahr habe ich viel darüber nachgedacht, eigentlich ist es mir persönlich nicht so wichtig, dass ich ein Kopftuch trage."
Vorsichtige Öffnung zur Moderne
Das Kopftuch hat sie abgelegt, wie viele junge Frauen hier. Das ungeschminkte Gesicht, der bodenlange, blaue Rock, das bleibt – vorerst zumindest. Wichtig ist nicht die Tracht, sondern das, worum es geht: darum, sexuelle Anziehung zu verhindern. Sie wollen Traditionen nicht um der Tradition willen beibehalten, das betonen sie hier immer wieder.
Während des Gesprächs auf dem Hof werden Möbel zerlegt und Kisten abtransportiert. Die Paul'sche Villa ist verkauft, im Internet angepriesen als "Naturidyll mit ausreichend Platz für Ihre Familie". In Österreich wollen die Bruderhöfer nun eine neue, große Gemeinschaft aufbauen. Ihre Kinder wollen sie dort selbst unterrichten – in Österreich ist Heimunterricht erlaubt, in Deutschland nicht.
Ortsvorsteher Marco Gärtner: "Bei der Verabschiedung war mir tatsächlich ein bisschen ein Stein auf dem Herzen. Für uns bleiben sie immer persönlich im Herzen."
Eine Erinnerung wird aber bleiben:ein paar Dörfer weiter, der Waldfriedhof, da, wo der Bruderhofgründer Eberhard Arnold begraben liegt. Bei allen Wanderungen durch die Welt – ihre Friedhöfe, sagen die Bruderhöfer, haben sie immer behalten.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine Bezeichnung korrigiert.