Die fast vergessene Würde der Politik

Das Leitmotiv des Autors Ekkehart Krippendorff ist die Frage, was Politik sein kann, wenn sie die "Wege aus den Diskursen der Macht" verlässt. Der emeritierte Politologe legt die Wurzeln der Demokratie frei, um der ernüchternden Realität einen Spiegel vorzuhalten.
Dies ist ein Buch, das getragen ist vom Aufbruchsgeist der Gründergeneration westdeutscher Politikwissenschaftler, in das sich ein halbes Jahrhundert später viel Resignation eingeschlichen hat, nur eines nicht: Mutlosigkeit. Krippendorff kämpft ungebrochen für einen grundlegenden Wandel des Politischen. Dabei zielt er ebenso auf die akademische Welt der Politikwissenschaft, die er beißend kritisiert, wie auch auf die politisch handelnden Bürger. Was das heißt, ein politisch handelnder Mensch zu sein: Das ist das große Thema seines Buches.

Krippendorff hat 15 Beiträge zusammengestellt, die überwiegend in den letzten zehn Jahren in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Sie reichen von den mythologischen Wurzeln der Demokratie(n) in Europa und Indien über den Freiheitsbegriff seit Schiller, die Demokratie stiftende Funktion des Theaters bis zur Frieden stiftenden Funktion von Musik bei Mozart oder Daniel Barenboim.

Krippendorffs Leitmotiv ist die Frage, was Politik sein kann, wenn sie die "Wege aus den Diskursen der Macht" verlässt und sich auf ihre Wurzeln besinnt. In seinem ersten, programmatischen Essay erinnert er an die Erfindung der Politik im Griechenland Platos und Sokrates', die den Maßstab gesetzt hat für politisches Handeln: Die Bürger in den griechischen Poleis traten mit dem Anspruch auf, dass nicht mehr irgendwelche Herrscher, sondern sie selbst die Geschicke ihres Gemeinwesens selbst regelten. Krippendorff legt diese Wurzel unserer Demokratie frei, um der ernüchternden Realität der heutigen europäischen Demokratie den Spiegel vorzuhalten.

Den Gegensatz zwischen demokratischem Ideal und schnöder Wirklichkeit zeichnet Krippendorff in den meisten seiner Beiträge in krassen Farben. Das reizt zum Nachdenken – und zum Widerspruch. Allzu hoch ist die Erwartung des Politikwissenschaftlers, dass die Menschheit die Last ihrer Geschichte abstreifen und neue Wege jenseits ordinärer Machtpolitik gehen könne. Politik ist immer auch Machtpolitik – Willy Brandts Ostpolitik etwa, das wohl visionärste politische Projekt Nachkriegsdeutschlands, war nur mit machtpolitischen Mitteln durchsetzbar.

Trotz dieses Einwands ist die Lektüre der Beiträge empfehlenswert für alle, die sich im Dickicht des politischen (und des politikwissenschaftlichen) Alltags verheddern. Und für alle, die meinen, Politik sei ein `schmutziges Geschäft´. Krippendorff gibt der Politik zurück, was in ihr steckt: Er schreibt von der "Würde der Politik", und tatsächlich bekommt man ein Gefühl dafür, welche Würde Politik im eigentlichen Sinne hat, wenn Krippendorff Shakespeare, Goethe, Schiller, Mozart auf den politischen Gehalt ihrer Kunst hin befragt.

"Die Kunst ist die große Schatzkammer der Erinnerung an uneingelöste Möglichkeiten und an Maßstäbe des Ethischen", schreibt Krippendorff in seinem Beitrag über die Friedensvision in Mozarts Musik. Sein Buch liefert vielfältige Anregungen, einen Sinn für die Möglichkeiten politischen Handelns und für die fast vergessene Würde der Politik zu entwickeln.


Ekkehart Krippendorff, geboren 1934, war von 1978 bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor für Politikwissenschaft am John F. Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt: internationale Beziehungen. Krippendorff gehört zur ersten Generation von Politikwissenschaftlern in der Bundesrepublik. Sein gesellschaftskritisches Engagement als Assistent an der FU Berlin machte ihn in der Vorgeschichte der 68er Revolte bekannt, gefährdete zugleich seine akademische Karriere. Nach seiner Habilitation 1972 folgten Gastprofessuren in Italien und England, bevor er 1978 an die FU Berlin berufen wurde. Seit den späten 80er-Jahren zahlreiche Veröffentlichungen zur Beziehung von Kultur und Politik.


Besprochen von Winfried Sträter

Ekkehart Krippendorff: Die Kultur des Politischen - Wege aus den Diskursen der Macht
Kulturverlag Kadmos 2009
220 Seiten, 22,50 Euro