"Die Figuren sind realistisch"

Johannes Kaiser im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Nach Einschätzung des Literaturkritikers Johannes Kaiser gibt es "ein ganzes Dutzend Gründe", warum die skandinavischen Autoren hierzulande so erfolgreich sind. "Es sind politische Romane", sagte Kaiser.
Matthias Hanselmann: Bei uns ist Johannes Kaiser, er ist Literaturkritiker und Kenner der skandinavischen Kriminalliteratur. Guten Tag, Herr Kaiser!

Johannes Kaiser: Guten Tag!

Hanselmann: Erst mal die Aussprachefrage: Die einen sagen Mankell, die anderen Man‛kell, er selbst – wir haben nachgehört – macht irgendetwas dazwischen. Wir dürfen es also so halten, wie wir gerne wollen. Die letzten Mankell-Krimis um Kommissar Wallander sind von den Feuilletons, wie es das "Handelsblatt" schrieb, mit Gähnen empfangen worden, dennoch haben sie sämtliche vorherigen Verkaufsrekorde geschlagen. Warum lesen die deutschen Krimifans so gerne diese oft deprimierenden, düsteren und für viele sogar langweiligen Geschichten Mankells?

Kaiser: Also erstens eine kleine Korrektur: Er hat ja seine Wallander-Reihe tatsächlich abgebrochen oder hat sie beendet. Nachfolger sollte seine Tochter, also Wallanders Tochter werden. Davon ist aber noch nicht viel zu sehen, und das ist schon ein paar Jahre her. Was er schreibt, ist inzwischen anderes, also andere Krimis mit anderen Helden. Die sind tatsächlich, obwohl sie so erfolgreich sind, nicht mehr zu vergleichen mit der früheren Krimiliteratur, die er geschrieben hat unter Wallander. Also das ist sicherlich ein Unterschied …

Hanselmann: Es ging aber in dieser Bemerkung schon, mit dem Gähnen ging's um die Wallander-Geschichten, um die letzten.

Kaiser: Ja, tatsächlich, weil es ist ein Neuer da, der eben damit nichts mehr zu tun hat. Zweitens: Es gibt natürlich ein ganzes Dutzend Gründe, warum der Henning Mankell und auch seine Kollegen, seine skandinavischen, bei uns so erfolgreich sind.

Da gibt es sicherlich zum ersten Mal etwas – die Täter, das sind keine Psychopathen, sondern das sind Leute aus der Gesellschaft, die wir kennen, die uns vertraut erscheinen. Wir wissen, was das für Menschen sind, wir kennen die. Das sind Nachbarn, die eben rassistische Bemerkungen machen oder Ähnliches. Das sind Unternehmer, die eben tatsächlich das Gesetz brechen – Steuerhinterziehung, Drogenhändler, all das ist uns vertraut eigentlich, auch wenn wir persönlich vielleicht nichts damit zu tun haben, aber wir kennen es aus der Zeitung.

Es sind politische Romane. Es sind Romane, die einfach zeigen, dass die Gesellschaft nicht so funktioniert, wie sie sein sollte. Das heißt, dass es immer noch eben Korruption gibt, selbst in unseren Ländern, dass es Vergewaltigungen gibt, Naziverbrechen, all diese Dinge passieren, und sie passieren bei uns in unserer Gesellschaft. Dann ist es eben eine sozialkritische Krimitradition. Wir hatten die übrigens auch mal in den 70er-Jahren – Mankell hat daran festgehalten und viele seiner Kollegen eben auch. Die Figuren sind realistisch.

Es sind keine Superhelden, es sind keine Superverbrecher. Wichtig ist, auch Teamarbeit ist ganz wichtig dabei, auch etwas. Der Wallander ist ja kein einsamer Held, kein Lonely Wulf, der alles alleine klärt. Der hat eine Truppe um sich herum, mit denen er sich streitet. Er ist sicherlich ein Mann, der manchmal ein bisschen merkwürdig wirkt auch und einsame Entscheidungen trifft, aber er hat jemanden um sich herum. Und das ist auch ganz typisch, da gibt es keine Private Eyes, nicht den Detektiv, der alles weiß und dann genial sozusagen den Fall löst. Nein, er braucht seine Mitarbeiter, die Spurensicherung, er braucht seine Mitarbeiter, die Vernehmungen machen – alle diese gehören mit dazu. Diese Teamarbeit ist uns auch was Vertrautes. Das heißt, der Superheld, mit dem können wir uns nicht identifizieren, das ist nicht der Mensch, den wir kennen.

Hanselmann: Er ist ein menschlicher Kommissar, auch mit Schwierigkeiten …

Kaiser: Alkoholproblemen zum Beispiel, massiven, Erbschwierigkeiten mit der Frau …

Hanselmann: Und das ist bei vielen anderen Detektiven auch nichts Außergewöhnliches, bei amerikanischen zumindest.

Kaiser: Nein, das Alkoholproblem nicht, aber er hat eben eine Tochter, mit der er Schwierigkeiten hat, eine Exfrau, mit der er Schwierigkeiten hat. Und das finden wir eben zum Beispiel bei amerikanischen Autoren sehr, sehr selten.

Hanselmann: Das Duo Sjöwall/Wahlöö haben Mitte der 60er-Jahre schon ihren Ruf begründet, über sittlich-moralischen Verfall geschrieben, und Henning Mankell wurde ja als Nachfolger dieses Duos gefeiert. Ist er das wirklich?

Kaiser: Er ist es insofern, dass sich die Themen natürlich geändert haben. Er ist weiterhin sozialkritisch, und Sjowall/Wahlöö, die haben damals tatsächlich in den 70er-Jahren die kapitalistische Politik gebrandmarkt. Also das war tatsächlich Aufbruchbewegung der 68er, die auf Schweden übergeschwappt ist.

Und man hat sich an der Sozialdemokratie gerieben, an ihren Versprechungen, dass der Sozialstaat versagt hat, dass es Randgruppenproblematik gab. Das waren alles Themen damals auch natürlich des damaligen Kommissars Beck. Das hat sich insofern fortgesetzt, dass heute auch soziale Themen in allen Mankell-Romanen und auch in allen sozialkritischen Krimis seiner Kollegen vorkommen. Das ist eben die neoliberale Wirtschaftsordnung, die eben tatsächlich Leute zu Außenseitern macht, die Leute zu Drop-outs macht, die eben Gier behandelt und die eben gesellschaftliche Beziehung ganz stark beeinflusst.

Statt Gemeinschaftsgefühl gibt's eben heute Egoismus, es gibt die Gier nach Geld, es gibt Kindesmisshandlung, Gewalt gegen Frauen und Randgruppen. Es gibt die Ausländerproblematik, es gibt illegale Einwanderer, es gibt eben Drogenhandel, Prostitution, Pornografie – das waren alles noch keine großen Themen in den 70er-Jahren, das sind heute aber alles Themen. Und insofern ist Schweden natürlich auch ein Abbild der EU. Schweden ist nicht mehr das sozialdemokratische Paradies, abgeschnitten vom üblichen Europa, auf den alle Sozialdemokraten in Europa geguckt haben. Nein, auch Schweden ist im Alltag angekommen und ist im Prinzip in der EU angekommen.

Hanselmann: Sie haben Mankells Kollegen erwähnt. Wir sollten vielleicht besonders betonen, Kolleginnen. Es sind inzwischen mehr als 120 skandinavische Krimiautoren nach Mankell ins Deutsche übersetzt worden, davon sehr viele Frauen. Warum schreiben so viele skandinavische Frauen Krimis?

Kaiser: Ach, man könnte das auch für ein Zeichen des Feminismus halten. Das heißt, sie geben tatsächlich einen Einblick in eine Situation, die bisher in Krimis ausgeklammert war, nämlich die Situation der Frauen, die sich eben um Kinder kümmern müssen und damit ihre Probleme haben, die sich mit untreuen Ehemännern rumprügeln müssen oder rumärgern müssen, die tatsächlich illegale Formen der Familienmisshandlung aufgreifen.

Und da gibt es eben eine ganze Reihe von Frauen, die das machen, in sehr unterschiedlicher Form. Es gibt die Liza Marklund, die das in Thriller-Form macht, aber ihre Geschichte ist eben eine Geschichte, die entwickelt sich in allen ihren Krimis weiter. Sie hat einen Mann am Anfang, sie wird verprügelt, wird missbraucht – also die Heldin des Romans, von der spreche ich natürlich – und sie entwickelt sich, und sie entwickelt eben eine typische Frauengeschichte, wie sie in unserer Gesellschaft heute üblich ist.

Das haben wir bei den männlichen Figuren seltener oder viel seltener. Diese Perspektive ist eben in vielen Kriminalromanen, vor allen Dingen aus dem englischen Milieu oder aus dem amerikanischen Milieu, kaum behandelt worden. Und da sind tatsächlich die skandinavischen Autorinnen Vorreiter. Da geht es eben tatsächlich um Misshandlung in der Ehe, da geht es um Kindesmisshandlung durch Väter oder auch durch Mütter sogar. Da geht es eben um Gewalt gegen Frauen, da geht's um Pornografie, da geht es um Prostitution. Wir haben auch in Skandinavien das Problem, dass eben viele Prostituierte aus Osteuropa rübergekommen sind.

Hanselmann: Das haben wir aber nicht nur dort, wir haben es ja auch bei uns, das geht mir die ganze Zeit durch den Kopf. Ich frage mich, warum können in Deutschland nicht deutsche Krimiautoren, Krimiautorinnen mit ähnlichen Themen, die wir ja zweifellos haben, Erfolg haben, warum muss das alles aus Skandinavien zu uns rüberkommen?

Kaiser: Also da würde ich Ihnen glatt widersprechen. Das muss nicht rüberkommen, es kommt rüber, weil sicherlich auch diese Literatur eingeführt ist, und was einmal eingeführt ist, daran halten sich Leute fest. Aber wir haben in Deutschland durchaus inzwischen Autorinnen, die genau dieselben Probleme aufgreifen, und wir haben auch Autoren, die genauso gut sind.

Also ich nenne nur mal Renate Kampmann oder Felicitas Mayall, die haben solche Art von Krimis. Die schreiben die, und die schreiben genauso gut. Oder Veit Heinichen oder Jan Seghers alias Matthias Altenburg. Oder Bernhard Schlink zum Beispiel, er hat sehr schöne Kriminalromane geschrieben, mit einem ganz verrückten Thema, nämlich einem Naziaufklärer, das heißt ein Mann, der in der Nazizeit tatsächlich sich belastet hat. Das sind alles Autoren, die können den skandinavischen Autoren und Autorinnen durchaus das Wasser reichen, finde ich jedenfalls.

Hanselmann: Wunderbar. Ich habe mir da gerne widersprechen lassen. Wodurch unterscheiden sich denn – und das zum Schluss bitte mit kurzer Antwort – die skandinavischen Krimis von denen des klassischen Krimilandes, also den USA oder England?

Kaiser: In einem, was mir sehr sympathisch ist, dass nämlich da keine psychisch gestörten Serienmörder wie Lecter Hannibal bestialische Verbrechen begehen, die in allen Details, blutigen Details ausgemalt werden. Ich finde das widerwärtig, was da passiert. Sie unterscheiden sich auch darin, dass eben die Sexualität in Ami-Krimis ausgeblendet wird. Sie ist aber in unserem Alltag vorhanden und sie kommt eben bei den Skandinaviern vor. Beziehungskrisen, die werden in den amerikanischen Krimis meistens nur am Rande behandelt. Da geht es immer um Pathologen, Spezialagenten und Gerichtsmediziner, also lauter Leute, die kennen wir alle gar nicht, mit denen können wir gar nichts anfangen.

Hanselmann: Vielen Dank! Johannes Kaiser über Henning Mankell im Besonderen und den skandinavischen Krimi im Allgemeinen. Danke!