Im Grunde ist das demokratische Deutschland auf den Beinen, aber auf unsicheren Beinen, weil man gegen einen Feind kämpft, den man nicht kennt.
Attentat auf Walter Rathenau 1922
Das Titelbild einer Illustrierten zeigt die Ermordung Walther Rathenaus 1922: Als die Wagen auf gleicher Höhe sind, feuert Erwin Kern mit der Maschinenpistole, Hermann Fischer schleudert eine Handgranate. © picture-alliance / Leemage / Costa
Erschütterung, Hilflosigkeit, aber kein Bürgerkrieg
56:53 Minuten
Kein Ereignis hat die Weimarer Republik so erschüttert wie die Ermordung von Außenminister Walther Rathenau. Millionen bekundeten 1922 öffentlich Trauer und Protest. Damals drohte ein Bürgerkrieg, sagt der Historiker Martin Sabrow.
Er war eine Epochengestalt: Industrieller, Intellektueller, Schriftsteller, Politiker, Sohn des AEG-Gründers, weltläufig wie kein zweiter deutscher Politiker seiner Zeit – und zugleich diskriminiert als Jude in der deutschen Gesellschaft.
Trotz seiner Fähigkeiten war Walther Rathenau zu Beginn der Weimarer Republik ein politischer Außenseiter. Seine steile Karriere kam überraschend, so Martin Sabrow, langjähriger Direktor am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung. Die Republik habe in den Krisen der Nachkriegsjahre alle Kräfte gebraucht, um sich zu behaupten. Deshalb berief Reichskanzler Wirth von der katholisch-konservativen Zentrumspartei Rathenau zum 1. Februar 1922 als Außenminister.
Eigentlich suchte Rathenau die politische Verständigung mit den Westmächten, insbesondere Frankreich und Großbritannien. Die perfekte Gelegenheit bot sich ihm auf der internationalen Kriegsfolgenkonferenz in Genua im April/Mai 1922. Rathenau beeindruckte mit seinem intellektuellen Format und einer fulminanten Rede die versammelten Diplomaten. „Ich gehe durch die Welt und rufe Friede, Friede, Friede“, rief er, Petrarca zitierend, auf Italienisch den Delegierten zu.
Rapallo statt Annäherung an den Westen
Und doch wurde nicht die Wiederannäherung an den Westen sein politisches Vermächtnis, sondern – Rapallo: der Vertrag, den er in dem Badeort bei Genua mit dem bolschewistischen Russland schloss. Weil er fürchtete, dass sich die Westmächte über Deutschland hinweg mit Russland verständigen könnten, setzte er seine Unterschrift unter einen Vertrag, mit dem Deutschland die Westmächte brüskierte.
Die Annäherung an die Westmächte war damit unterbrochen, aber nicht abgebrochen, so Martin Sabrow. Doch Rathenau hatte keine Zeit mehr, diese Aufgabe anzugehen: Am 24. Juni 1922 wurde er auf der Fahrt ins Auswärtige Amt von Attentätern erschossen. Der Mord löste in der Weimarer Republik ein politisches Erdbeben aus.
Wenige Tage zuvor war von derselben Organisation Consul ein Blausäure-Attentat auf den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann verübt worden. Weil das gescheitert war, wählten die Rathenau-Attentäter eine neue Methode: erschießen aus einem fahrenden Wagen.
„Der Feind steht rechts!“
Als die Nachricht um die Welt ging, wurde Rathenau zum Märtyrer: Man ahnte, dass eine politische Lichtgestalt umgebracht worden war, die Deutschland in der schwierigen Nachkriegszeit hätte führen können. „Im Reichstag herrscht eine aufgebrachte Stimmung“, sagt Martin Sabrow, „und als am nächsten Tag Reichskanzler Wirth im Reichstag spricht, schaut er zur Rechten und sagt: Da steht der Feind, der sein Gift in das Herz seines Volkes träufelt, und dieser Feind steht rechts.“
Eine Million Menschen waren bei der Beerdigung auf der Straße. In mehreren Städten demonstrierten Hunderttausende. Am 27. und 28. Juni legte ein landesweiter Generalstreik die Republik lahm. Das Problem aber war, so Sabrow: „Es ist die ganze Energie einer mehrheitlich demokratisch denkenden Gesellschaft, die nicht weiß, wo sie mit dieser Energie hinsoll. Und deswegen ist das Zusammenstehen der Demokraten eine gut gemeinte Demonstrationsgeste, der die Politik am Ende aber nicht folgt.“
Deshalb sei die Erschütterung über den Rathenau-Mord keine Zeitenwende gewesen, so Sabrow. Die Weimarer Republik war und blieb „eine Republik des Lavierens zwischen Traditionswahrung und sozialistischer Umgestaltung“.
Die Attentäter wollten den Bürgerkrieg
Immerhin ging das Kalkül der Attentäter nicht auf: Eigentlich wollten sie einen Bürgerkrieg provozieren. Mit politischen Morden – Scheidemann, Rathenau, Ebert und anderen – sollten die Linken zum Aufstand und zu bürgerkriegsartigen Unruhen angestachelt werden, damit dann die Reichswehr auf den Plan treten und die terroristische Geheimorganisation Consul mit ihrer „Schläfer-Armee“ zu Hilfe rufen würde. Doch dieser Versuch, die Republik mit einem zweiten Putsch nach 1920 zu beseitigen, scheiterte – die Demokraten ließen sich nicht provozieren.
Wir schauen immer auf die verpasste Demokratisierung in dem Moment. Man kann aber auch das Augenmaß loben, mit dem die Reichsregierung und die Länderregierungen durch diese Krise durchgekommen sind.
Dass die Republik die großen Krisen 1922/1923 überlebte, war eine bemerkenswerte Leistung. Und doch sollte sie zehn Jahre später scheitern.
Nach Nationalsozialismus und Krieg stellte sich ein zweites Mal die Frage: Sind die Deutschen zur Demokratie fähig? In den Westzonen bekamen sie eine zweite Chance, aber die Voraussetzungen für die 1949 gegründete Bundesrepublik waren zunächst noch schlechter als in der Weimarer Republik. Denn das demokratische System wurde von den Siegermächten aufoktroyiert.
Demokratie nach 1949 fast ein Wunder
Von den Historikern werde viel zu selbstverständlich angenommen, dass dieser Anlauf zur Demokratie gelungen sei, gibt Martin Sabrow zu bedenken.
Wenn wir sehen, dass es fast das einzige Mal ist, dass eine oktroyierte Ordnung angenommen wird im Laufe der Zeit, dann wird es immer mehr zu einem fast Wunder.
Die Eliten rückten bald wieder in die Führungspositionen des neuen Staates – wie nach 1918 die kaiserlichen Eliten. Aber sie wandelten sich und waren keine Nationalsozialisten mehr, stattdessen versöhnten sie sich mit der neuen Ordnung, gerade auch durch den wirtschaftlichen Erfolg, den sie hatte.
Trotzdem war die Demokratiefeindschaft in der frühen Bundesrepublik ein Phänomen, das selbst bei Koalitionspartnern von Konrad Adenauers CDU-Regierung verbreitet war. Und der Terrorismus von rechts war ein Phänomen, das Jahrzehnte lang unterschätzt wurde.
Heute sieht Martin Sabrow ein wiederkehrendes Interesse an der Weimarer Republik, weil die Unsicherheit über die Entwicklung der Bundesrepublik größer geworden ist. Dennoch blickt Sabrow optimistisch in die Zukunft. Die Bundesrepublik sei, anders als in früheren Jahrzehnten, nicht mehr auf dem rechten Auge blind. Zwar gebe es mit den Querdenkern und ihrer Staatsverachtung eine neue Herausforderung für die Demokratie, aber anders als vor 100 Jahren gebe es heute eine breite demokratische Mitte in der Gesellschaft.
(wist)