Stefan Weidner: "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart"
Hanser Verlag, München 2021
Nell Zink: "Das Hohe Lied"
Aus dem Englischen übersetzt von Tobias Schnettler
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
Die Folgen von 9/11
Die Folgen von 9/11 © pictue alliance / Everett Collection
Der Geist aus der Flasche
29:43 Minuten
20 Jahre 9/11: Unter dem Motto "Literatur und Wissenschaft" sprachen die US-Schriftstellerin Nell Zink und der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner über die Folgen der Anschläge, die bis heute nachwirken.
Unsere Gegenwart habe ihren Ursprung in den Trümmern von Ground Zero, so die These von Stefan Weidner in seinem neuen Buch "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart". Dieses Geburtstrauma beeinflusse noch 20 Jahre später unsere Politik und unsere Wahrnehmung der Welt. In Nell Zinks Roman "Das Hohe Lied" ist der 11. September 2001 eine Art Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte von Pam und David und ihrer Tochter Flora, die mit der Wahl von Trump im November 2016 endet.
Kollektives Trauma
Nell Zink lebt schon lange in Deutschland und hat den Tag der Anschläge in New York, als viele in Panik versuchten, aus der Stadt herauszukommen, zwar sehr plastisch in ihrem Roman beschrieben, aber nicht selbst erlebt. Sie habe viele Freunde in New York und "natürlich hatte ich auch meine Connections in Virginia und anderswo in den USA", erzählt sie und dass es eine Art Neid gegeben habe von denen, die ganz woanders waren und nichts mit den Ereignissen zu tun hatten: "Die wollten daran beteiligt gewesen sein im Nachhinein, egal wie."
Weidner bestätigt, dass eine Gruppe von Menschen, die eine Zusammengehörigkeit empfinden, auch kollektiv traumatisiert sein können von einem Ereignis - selbst, wenn sie es nur medial erlebt haben: "Ich glaube, es ist immer bei großen Ereignissen so, dass man sich die Zeugenschaft wünscht und man sich irgendwie auch verbunden fühlt mit dem Ereignis. Das ist ein Ereignis, das in seiner Wucht einfach eine magische, fast teuflische Anziehungskraft hat."
Es sei auch deshalb so ein Schock gewesen, ergänzt Zink, weil man sich in den USA total sicher fühlte vor ausländischen Aggressoren. "Trotz allem, was wir im Lauf der Jahrhunderte in der Welt angerichtet hatten."
Demütigung vor der Welt
Das Besondere sei auch gewesen, fügt Weidner hinzu, dass man tatsächlich bei einem welthistorischen Ereignis live dabei war. Diese Ohrfeige vor laufenden Kameras habe nicht nur etwas Traumatisierendes, sondern auch etwas Demütigendes gehabt. Ein politischer Kontrollverlust, der letztlich auch ein Nährboden für Verschwörungstheorien gewesen sei.
Dazu kam das Internet, das bislang nur von wenigen benutzt worden war. So seien plötzlich auch vonseiten der Medien viele zweifelhafte Informationen im Umlauf gewesen. Das schürte eine Alarmbereitschaft, sagt Zink, die kaum zu glauben war: "Nach dem Motto: Nehmen Sie sich in acht vor Kugelschreibern. Die könnten vergiftet sein. Also solche Dinge kamen als offizielle Meldungen. Da war natürlich das Chaos nicht mehr weit."
Im Grunde, so Zink, sei die Welt danach in Gut und Böse unterteilt worden, nämlich zwischen denen, die für die Bush-Regierung waren und denen, die gegen die Bush-Regierung waren: "Das war so eine Art neuer Krieg, könnte man sagen, der danach begann."
Neue Kriege
"Tatsächlich war es auch das erste Mal, dass die NATO den Bündnisfall ausgerufen hat. Also dass die Verbündeten gesagt haben, das ist ein Angriff auf nicht nur auf die USA, sondern auf die gesamte NATO, auf uns alle", ergänzt Weidner. Der erste Bruch in diesem Bündnis entstand in dem Moment, als einige europäische Staaten, allen voran Deutschland und Frankreich, nicht bereit waren, die aggressive Bush-Linie in der internationalen Politik weiterzuverfolgen und mit in den Irak-Krieg zu ziehen: "Mit dem bekannten fatalen Resultat, dass man das Land ins Chaos gestürzt hat."
Was für Afghanistan genauso gilt. Der Afghanistan-Krieg begann bereits kurze Zeit nach den Anschlägen, im Oktober 2001. Von der Bush-Regierung wurde die Devise ausgegeben: Wir führen einen Krieg gegen den Terror: "War on Terror".
Der böse Geist aus der Flasche
Als eine Art Stunde null bezeichnet Weidner die Anschläge vom 11. September 2001. In seinem Buch nimmt er die Vorgeschichte sowie die 20 Jahre danach in den Blick. Es sei wie das Märchen aus 1001 Nacht. Da findet ein Fischer eine Flasche. Als er sie öffnet, entsteigt dieser ein böser Geist, der den Fischer töten will. Mit List und Tücke gelingt es dem Fischer, den Geist wieder zurück in die Flasche zu locken. Das aber sei mit der falschen Politik nach 9/11 leider noch nicht gelungen.
Die vergangenen 20 Jahre seien verpasste Jahre gewesen, sagt Weidner. Bereits in den 1990er hätten Umwelt- und Klimaschutz auf der Agenda gestanden. Aber das wurde nach 9/11 alles verdrängt.
"Man glaubte, einen terroristischen Geist besiegen zu müssen. Im Windschatten dieses Kampfes gegen den Terror hat man natürlich auch die neoliberale Agenda nach vorne gebracht und die globale Ungleichheit hat stark zugenommen. All das muss man sich vor Augen halten, um zu verstehen, was man denn wirklich anders machen muss, wenn man diese Epochenschwelle, die jetzt die Coronakrise darstellt, ernst nehmen will. Deswegen ist es unbedingt nötig, zu fragen, was war der falsche Weg, den wir eingeschlagen haben? Wie kriegen wir den Geist, der damals aus der Flasche gelassen wurde, wieder zurück und schaffen es, eine wirklich globale, verantwortungsvolle Politik zu machen?"
Eine Familie trotzt der Krise
In dem Roman "Das Hohe Lied" spannt Zink einen Bogen von den 80er- und 90er-Jahren bis hin zur Wahl von Donald Trump im November 2017. Der 11. September bildet das Scharnier zwischen dem ersten Teil, der in der Musikszene in New York spielt, und dem zweiten, zunehmend politischen Teil, in dem die tief greifende Spaltung der Gesellschaft deutlich wird. Ein Familienroman, in dem eine Familie den Krisen zu trotzen versucht.
"Sie besinnt sich auf das, was sie noch hat", sagt Weidner zu der Familie im Roman. Die Frage stellt sich: "Was haben wir jetzt noch? Was funktioniert überhaupt noch, wenn die Illusion zerschlagen werden? Ich glaube, das ist eine sehr starke Metapher in diesem Buch."
Die Autorin sagt dazu: "Das ist für mich ein Bekenntnis zum Realismus. Dass sich Familienromane traditionell um innerfamiliäre Krisen drehen, ist nicht mein Problem. Ich wollte was Innovatives machen und dachte, dann lasse ich einfach eine Familie entstehen, die sich gut versteht, die sich gegenseitig unterstützt. Aber die kommen trotzdem nicht gegen die Systeme an, die sie unterdrücken."
Chancen für die Zukunft?
Aus der Analyse dessen, was in den vergangenen 20 Jahren schiefgelaufen sei, könnten wir lernen, sagt Weidner: "Man hatte gehofft, dass man die arabische Welt im eigenen Sinne revolutionieren könnte. Das ist alles gescheitert. Man muss sich dieses Scheitern eingestehen. Wenn man das tut, dann ist man in der Lage, tatsächlich von einer Stunde null zu sprechen, die eventuell auch ein neuer Aufbruch sein könnte."
Ein Aufbruch, der nötig sei, denn der Überdruss an der herrschenden Politik sei eigentlich mit Händen zu greifen: "Ich sehe eine Situation der Offenheit für das Zukunftsgewandte und Progressive", meint Weidner: "Das ist der Kampf, der sozusagen uns in den nächsten Jahren bevorsteht und der hoffentlich nicht gewaltsam ausgetragen wird."
(DW)