"Die Frau die singt"

Von Hans-Ulrich Pönack |
Der Originaltitel ist deutlich brutaler. "Verbrennungen" ("Incendies") hat Regisseur Villeneuve seinen Film genannt, der in diesem Jahr für den Auslands-Oscar nominiert war. Er führt die Zwillinge Jeanne und Simon nach dem Tod ihrer Mutter in den Nahen Osten, wo diese einst zwischen die Fronten zwischen Christen und Muslimen geraten war.
Kanada 2010; Regie: Denis Villeneuve; Darsteller: Lubna Azabal, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Mélissa Désormeaux-Poulin, Abdelghafour Elaaziz; Länge: 130 Minuten

Der am 3. Oktober 1967 im kanadischen Quebec geborene Regisseur und Drehbuch-Autor hat Film studiert. Begann danach Musikvideos und Kurzfilme zu drehen. Sein Langfilm-Debüt war 1998 "Der 32. August auf Erden", der weltweit auf Festivals lief und auch bei uns im Arthouse-Kino auf Interesse stieß. Danach entstanden die Spielfilme "Maelström" (2000) und zuletzt "Polytechnique" (2009). Sein neues Werk basiert auf dem Bühnenstück "Incendies" (so auch der Originaltitel des Films. "Verbrennungen") des libanesischen Schriftstellers und nach Frankreich emigrierten arabischen Christen Wajdi Mouawad. Es war für den diesjährigen Auslands-"Oscar" nominiert.

Am Beginn sind wir im heutigen Kanada, wo die erwachsenen Zwillinge Jeanne und Simon Marwan bei der Eröffnung des Testaments ihrer verstorbenen Mutter eine "dicke" Überraschung erwartet. Der mit der Familie befreundete Notar händigt ihnen zwei Briefe aus. Diese sollen sie verschlossen ihrem Vater sowie ihrem Bruder aushändigen.

Jeanne und Simon lebten bisher in der Annahme, dass ihr Vater tot sei. Von einem weiteren Bruder war ihnen nichts bekannt. Während Simon überhaupt keine Lust verspürt, in die Vergangenheit der Familie und das frühe Leben seiner Mutter einzutauchen, macht sich Jeanne auf die mühevolle Reise in das Geburtsland ihrer Mutter im Nahen Osten in eine namentlich nicht genannte Region - gemeint ist Libanon, gedreht wurde in Jordanien -, wo sie peu à peu mit dem zutiefst verstörenden wie ergreifenden Leidensweg-Schicksal ihrer Mutter konfrontiert wird, die dort in die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Christen, Muslimen, zwischen Nationalisten und Reformisten "eingebunden" war und deren schriftliche Überlieferung dennoch abschließend lautet: "Ich sage, Eure Geschichte beginnt mit einem Versprechen - den Lauf der Wut zu durchbrechen".

Ein wahnsinnig dichter, packender, schmerzvoller, wirkungsvoller Film der einen immer mehr und tiefer in den Bann zieht und nicht mehr loslässt, weil sein Thema nicht nur brisant, sondern auch zeitlos-aktuell ist: Was tun Menschen Menschen im Namen einer Religion, im Namen einer Ideologie an?

Nawal Marwan (Lubna Azabal) war immer Opfer, war fehl am Platz", ständig "unterwegs". Sie begehrte auf und bezahlte dafür schlimm. Doch sie ließ sich nie besiegen. Und sie sang. "Die Frau die singt" kam so zu einem legendären Ruf, deren Spuren jetzt die Tochter und dann auch ihr Bruder und der Notar nachgehen.
Ein großartiger, ein universeller, ein meisterlicher Film. Weil er uns "Alten" hier auch bewusst macht, welches Generationsglück wir hatten, nie in einen Krieg verwickelt gewesen zu sein.